Bernhard Wucherer

Goldmadonna


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Kleidung. Und während stetig Blut vom Armstumpf heruntertropfte, waren ihre Augen starr in Richtung der gegenüberliegenden Kirche Saint Jaques le Majeur gerichtet. Der Mund der Toten war so weit geöffnet, dass es wirkte, als ob sie dem heiligen Jakobus ihren Schmerz entgegenschrie.

      Dieses Bild störte die Wahrnehmung der wenigen Menschen am Tatort so stark, dass sie wie erstarrt dastanden, einen Moment lang unfähig, etwas zu tun. Lediglich Le Maire war dazu imstande, die Lage um die Tote herum sofort zu analysieren: »15 Meter …« Damit meinte er den Abstand zwischen der Leiche und dem Gotteshaus, auf das sie starrte und vor dem unzählige, teilweise jahrhundertealte Grabsteine standen oder einfach nur herumlagen. Ob ihm diese Einschätzung etwas nützen würde, wusste er nicht. Aber dies war im Moment nicht wichtig, jetzt ging es erst einmal darum, den Leichenfundort »sauber« zu halten, die Leiche zu identifizieren und die Umstände des Todes an Ort und Stelle wenigstens in etwa zu analysieren.

      »Todesursache?«, bellte Le Maire ungeduldig, musste sich mit einer Antwort aber so lange gedulden, bis Dr. Laefers mit ihrer Arbeit so weit war.

      Der Mordermittler nützte die Zeit, um mit den wenigen anwesenden Streifenbeamten zu sprechen und sie das Rundbogentor zum Friedhof absperren zu lassen. »… und leuchtet – verdammt noch mal – endlich das Areal aus!«

      »Wir haben keine so großen Strahler zur Verfügung«, hielt einer der Beamten in eingeschüchtertem Tonfall entgegen.

      »Dann holt ihr eben die Feuerwehr!«, gab Le Maire unwirsch zurück.

      Nachdem dies geklärt war, blieb dem Mordermittler nichts anderes übrig, als sich »notgedrungen« eine Zigarette anzuzünden und das Tun seiner Partnerin im Dunkel der Nacht zu betrachten, das nur durch ein paar Taschenlampen erhellt wurde, weswegen die Szenerie umso schauriger wirkte. Davon unbeeindruckt, wartete er darauf, was sie zu berichten hatte. Und das traf ihn mit voller Wucht.

      »Also, Herr Hauptkommissar!«, sagte sie, während sie aufstand. »Die Frau ist etwa 25 Jahre alt und keine zwei Stunden tot, weswegen das Blut dort …«

      »… nicht ganz eingetrocknet ist«, kam Frederic seiner Partnerin zuvor.

      »Die Schleifspuren hier sind frisch und kommen von dort!«, bestätigte Therese Lambert, während sie mit einer Hand zur entgegengesetzten Seite des Friedhofseingangs zeigte. Gleichzeitig drückte sie Le Maire ein Tütchen in die Hände.

      »Was ist das? Sieht wie Schuppen eines Reptils aus, vielleicht einer Schlange«, stellte er fest, nachdem er den Inhalt des Tütchens näher betrachtet hatte. »Woher stammt das?«

      »Von ihren Fingerspitzen! Diese Schuppen finden sich auch unter ein paar Fingernägeln«, kam es zur Antwort.

      »Ist das alles, was ihr bisher gefunden habt?«, knurrte Le Maire.

      »Sie sind gut! Bei den Lichtverhältnissen«, kam es ruppig zurück.

      »Papiere?«

      Die Chefin der Spurensicherer schüttelte wortlos den Kopf.

      »Merde!« Weil es dem Ermittler im Moment nicht weiterhalf, gab er das Tütchen an die Spurensicherung zurück und wandte sich wieder Angelika zu. »Und?«

      »Schwer zu sagen, mit wem wir es zu tun haben! Die Klamotten sind sehr aufreizend, vielleicht Verbindungen zum Rotlichtmilieu?«

      »Und die Todesursache?«, fragte Le Maire noch einmal.

      Angelika winkte Frederic näher zu sich, dann beugte sie den Oberkörper der Frau nach vorne. »Sie wurde von hinten erstochen! Alles Weitere …«

      »Jaja. Schon gut. Ich weiß … morgen!«, grummelte der Ermittler, während er weiter suchend um sich blickte. »Na, endlich!« Le Maire war erleichtert, als der durch die Polizei angeforderte Gemeindeelektriker mit zwei Flutlichtern auf dem Ladewagen ankam und unverzüglich damit begann, die Beleuchtungskörper so aufzustellen, wie sie die Rechtsmedizinerin und die Spurensicherer haben wollten.

      Während die ausfahrbaren Strahler hochgekurbelt und wackelnd in Position gebracht wurden, blitzte das Licht eines Strahlers für den Bruchteil einer Sekunde in Richtung des Kirchenendes, wohin der Ermittlungsleiter zufällig gerade schaute. Weil Le Maire glaubte, einen Kopf mit langen Haaren gesehen zu haben, der hinter der Mauerecke hervorgelugt hatte, eilte er links um die Kirche herum, um die Person zu erwischen. Aber er war zu langsam. Bei der davonrennenden Person konnte er gerade noch feststellen, dass es sich um einen großen Mann handelte, an dessen rechtem Handgelenk etwas zu blitzen schien, als für einen Moment das Licht einer Straßenlaterne darauf schien. Weil der Mann dann aber ganz im Dunkel verschwand, hatte er keine Chance mehr, ihn zu erwischen.

      *

      »Was tust du denn hier?«, knurrte der belgische Mordermittler, als er anderntags in der Aachener Rechtsmedizin auf seinen Kollegen Peter Dohmen stieß.

      »Keine Sorge, Frederic, ich habe es schon gehört, es ist dein Fall! Und da mische ich mich selbstverständlich nicht ein! Allerdings helfe ich dir gerne, wenn …«

      Frederic hob abwehrend die Hand. »Dieses Mal nicht, okay?«

      »Weil dies hier …«, Peter Dohmen drehte sich mit weit aufgerissenen Armen um die eigene Achse, »… aber die rechtsmedizinische Abteilung ›meines‹ Kommissariats ist, darf ich doch sicher dabei sein, wenn dir Angelika sagt, was sie herausbekommen hat, oder etwa nicht?«

      Da war es wieder, dieses ewige Platzhirschgehabe, das der deutsche und der belgische Chefermittler eigentlich nicht mehr an den Tag legen wollten, seit sie zusammen im allgäuischen Oberstaufen gewesen waren, um Gilbert Primat gemeinsam zu verhaften, den damals über sämtliche Landesgrenzen hinweg gesuchten »Glühweinerpresser«. Seither waren sie sogar mehr oder weniger zu Freunden geworden – irgendwie zumindest. Deswegen und weil ihm dieser Fall bereits zugeteilt worden war, zeigte sich der belgische Kommissar großmütig. Er gestattete dem Hausherrn, dabei zu sein, wenn Angelika über die Leiche dozieren würde.

      »Jussuf …« Damit meinte sie ihren Assistenten Jussuf Abdalleyah, der sofort verstanden hatte, dass er das Tuch von der Toten nehmen und ihren Oberkörper hochheben sollte.

      »Kommen wir also zuerst zur Todesursache: Wie ich bereits am Leichenfundort feststellen konnte, ist sie von hinten erstochen worden! Und zwar …«

      »Um Gottes willen! Was ist das denn?«, unterbrach Peter Dohmen die Rechtsmedizinerin, hielt aber sofort inne, als er Frederics genervten Blick sah.

      »Darf ich weitermachen?«, hakte sich Angelika gleich wieder ein, um eine unnütze Streiterei der beiden Alphatierchen im Keim zu ersticken. »Also: Die Stichwunde sieht deswegen so schlimm aus, weil der Mörder ein Messer benutzt hat, das einseitig normal geschärft ist und auf der anderen Seite grobe Sägezacken besitzt! Deswegen muss er es ihr mit aller Kraft in den Rücken gerammt haben. Zudem hat er es ein paar Mal in der Wunde gedreht. Die von der Schneideseite her spitz zulaufende Klinge ist am Schaft 40 Millimeter breit und genau 21,5 Zentimeter lang.«

      »Gerade so kurz, dass sie vorne nicht herauskam«, resümierte Frederic.

      »Kurz?«, entfuhr es Jussuf Abdalleyah verwundert.

      Aber weder Frederic noch Angelika gingen darauf ein. Stattdessen gab sie Frederic recht und fuhr unbeirrt fort: »Ja. Der Stich ging von hinten genau in den linken Lungenflügel. Und zwar so, dass sie nicht gleich tot war.«

      Frederic überlegte kurz, dann fragte er, wie groß die Frau gewesen sei.

      »1,66 Meter!«

      »Sie war also recht klein. Das heißt, dass der Mörder – wenn er größer ist – das Messer mit dem Daumen nach vorne – also eher von unten – hineingestoßen haben könnte. Der Stichkanal würde dafürsprechen, oder?« Weil ihm Angelika durch ein Kopfnicken beigepflichtet hatte, fasste Frederic seine Theorie zusammen: »Wenn er das Messer von oben benutzt hat, hätte er es zu hoch angesetzt. Wir können also davon ausgehen, dass der Mörder mindestens 1,80 Meter groß ist, oder?«

      »Du fragst mich etwas?«, wunderte sich Peter Dohmen, nickte aber bestätigend.

      Während