Alida Leimbach

Tod unterm Nierentisch


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sie dann doch Interesse. Ihre Tante ging in den Keller, um die Torte zu holen.

      »Sie sind Kommissar, habe ich gehört«, sagte Pauline. »Was macht ein Kommissar den ganzen Tag? Gibt es viele Verbrecher in Osnabrück?«

      Er schmunzelte. »Wo gibt es die nicht?« Niemals redete er über einen Fall, das hatten sie ihm in der Polizeischule eingetrichtert.

      »Als der Krieg vorbei war, dachte ich etwas naiv, wir wären endlich in Sicherheit«, sagte sie, »aber das war trügerisch, da ging es erst richtig los mit Plündereien, Wohnungseinbrüchen und so weiter. Wer von Bombenangriffen verschont geblieben war, wurde plötzlich Opfer von Straftaten. Es hört nicht auf. In den Köpfen vieler Menschen ist immer noch Krieg. Sie morden und rauben und tun sich gegenseitig Gewalt an. Und die Polizei sieht tatenlos zu! Die Mörder laufen frei herum, gehen ihrem Alltag nach und tun so, als hätten sie alles richtig gemacht.«

      Conradi schwieg betroffen. Pauline hatte leider recht. Die Besatzer machten ihnen das Leben schwer, mischten sich in ihre Belange ein und wollten überall mitreden. Die Polizei war nicht mehr das, was sie mal gewesen war. Sie müsste sich von Grund auf neu strukturieren. So schnell würde sich nichts ändern. Und ausgerechnet heute hatte sich eine weitere Gewalttat ereignet. Er würde sich hüten, davon zu erzählen. Wenigstens war die Polizei wieder bewaffnet. Auch das war kurz nach dem Krieg verboten gewesen.

      »In meinem Zimmer in Hamburg wurde ich nachts überfallen«, fuhr Pauline fort. »Ein maskierter Mann hat mir das Wenige genommen, was mir geblieben war. Er hätte mir sogar Schlimmeres angetan, wenn meine Nachbarin nicht wach geworden wäre. In Osnabrück soll es nicht viel besser aussehen. Wann hört das endlich auf?«

      Johann Conradi faltete seine Serviette und legte sie ordentlich neben dem Teller ab. »Wir geben uns Mühe, glauben Sie mir bitte, Fräulein Hubschmied. Leider waren wir in den ersten Nachkriegsjahren unterrepräsentiert. Viele ehemalige Kollegen kommen jetzt erst aus der Gefangenschaft zurück oder sind noch nicht rehabilitiert. Auch war es so, dass der britische Sektor uns ins Heft diktieren wollte, wie wir uns zu strukturieren hatten. Es ging drunter und drüber, das muss ich zugeben. Wobei ich selbst erst seit wenigen Wochen zurück im Dienst bin. Wir sind guten Mutes. Wir werden uns neu sortieren und in naher Zukunft von den Besatzungsmächten emanzipieren. Eine Weile wird das leider noch dauern, bis es so weit ist. Aber dann wird Osnabrück wieder ein sicherer und guter Ort zum Leben sein. Das verspreche ich Ihnen!«

      »Schön, dass Sie sich rehabilitieren konnten«, sagte sie und griff nach ihrem Weinglas. »War es schwer? Konnten Sie den Engländern beweisen, dass Sie eine weiße Weste haben?«

      »Nun, ich konnte zumindest beweisen, dass ich kein Nazi war. Ich wollte mit denen nichts zu tun haben. Das war nie meine Welt.«

      »Ich glaube Ihnen sogar«, sagte Pauline. Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: »Ich würde Sie gerne einmal unter vier Augen sprechen.«

      »Tun wir das nicht gerade?«

      »Länger als im Moment. Wäre das möglich?«

      »Gewiss«, sagte er unmotiviert. »Wir werden die Gelegenheit dazu sicher bald haben. Heute war ein anstrengender Tag, ich bin in Gedanken noch bei der Arbeit.« Er milderte seine kleine Abfuhr mit einem Zwinkern ab.

      Hedwig Westermann kehrte zurück, schaufelte großzügig bemessene Tortenstücke auf Kuchenteller und stellte sie vor sie hin. »Lassen Sie es sich schmecken!«

      Das taten sie, wobei Conradi ab der Hälfte mit der zuckrigen, buttrigen Masse zu kämpfen hatte.

      Noch einmal stieß er mit Pauline Hubschmied an und sagte nicht sonderlich charmant, dass er bereits zwei Fräuleins sehe und gedenke, sich auf sein Zimmer zurückzuziehen.

      *

      Als die anderen Familienmitglieder längst ins Bett gegangen waren, saßen Bettine und ihre Mutter im Wohnzimmer bei einem Glas heißer Milch mit Honig beisammen. Das Licht war gedämpft und die Radiostation sendete ruhige Musik zur Nacht.

      »Mutti, ich frage mich, ob es nicht Vater gewesen sein kann. Er muss Rolf doch gehasst haben! Stell dir mal vor, wie es dir gehen würde, wenn du nach langer Zeit nach Hause zurückkehrst, und dann ist da ein anderer Mann, nein, eine andere Frau bei deinem Mann, ich komme ganz durcheinander. Wie würde es dir da ergehen?«

      Lieselotte schwieg und zupfte an ihren manikürten Fingernägeln. »Natürlich nicht gut«, sagte sie leise.

      »Siehst du, und Vater ging es sicher ähnlich, als er das mit dir und Rolf erfahren hat! Kannst du dir vorstellen, wie groß seine Wut gewesen ist? Du hast seine Hoffnung zerstört und damit sein Leben!«

      Lieselotte schluckte. Harte Linien traten in ihrem Gesicht hervor.

      Bettine setzte sich aufrecht hin. »Was willst du eigentlich, Mutti? Möchtest du, dass Vater zurückkommt und wieder bei uns lebt?«

      »Nein, auf keinen Fall. Das ist alles zu lange her. Ich habe mich richtig entwöhnt nach so langer Zeit, er ist mir fremd geworden.«

      »Mir auch«, gab Bettine seufzend zu. »Ich habe ihn überhaupt nicht wiedererkannt, als er plötzlich im Laden stand. So hatte ich ihn nicht in Erinnerung. Er sah aus wie ein Bettler oder Hausierer. Ich wollte ihn nicht einmal bedienen, so abstoßend fand ich ihn!«

      »Ja, so sehen Kriegsheimkehrer nun einmal aus. Sie haben jahrelang nicht genug zu essen bekommen und konnten Krankheiten nicht richtig auskurieren, das hinterlässt Spuren. Ein wöchentliches Vollbad war sicherlich auch nicht drin. Und was sie erlebt haben, an der Front und in der Gefangenschaft, darüber sprechen sie nicht. Es müssen grauenhafte Dinge gewesen sein. Deswegen wissen wir Frauen gar nicht, wie ihnen zumute ist und warum sie so merkwürdig geworden sind. Frau Huber und Frau Ritter erzählen das Gleiche von ihren Männern. Sie erkennen sie nicht wieder, vom Aussehen her nicht und auch nicht vom Wesen. Am liebsten würden sie sich scheiden lassen.«

      Nachdenklich trank Bettine einen Schluck Milch und wischte sich anschließend den Mund ab. »Was meinst du, wird die Polizei ihn vernehmen?«

      »Ich weiß es nicht. Es tut mir leid für ihn und ich habe Schuldgefühle ihm gegenüber. Lassen wir ihn am besten in Ruhe.«

      Bettine warf fast ihr Glas um. »Wie meinst du das, was verstehst du unter Ruhe?«

      »Wir müssen nicht unbedingt erwähnen, dass Otto wieder da ist, oder? Nur wir beide wissen davon und Oma. Aber ihr ist klar, wann sie den Mund zu halten hat. Die kennt sich aus mit Obrigkeiten.«

      »Wenn du meinst …«

      »Auch Karl brauchst du es nicht zu sagen, wer weiß, wie er damit umgeht. Nachher zieht es ihn zu Vater hin, die beiden hatten früher ein besonderes Verhältnis. Das will ich nicht. Auf keinen Fall. Und Karin und Peter kennen ihn nicht einmal. Für sie ist er ein Fremder. Ich will das alles nicht, es überfordert mich. Wäre er bloß nicht wiedergekommen!«

      »Gut«, sagte Bettine, »machen wir es so, wie du willst.«

      Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander. Der Wellensittich im Käfig schlief längst, und die Wanduhr schlug zur halben Stunde. »Komm, Kind«, sagte Lieselotte, »trink deine Milch aus und dann gehen wir in die Falle. Es ist weit nach Mitternacht durch, halb eins schon. Morgen steht uns ein anstrengender Tag bevor, ich muss Karl auf die Polizeiwache begleiten.«

      Bettine rieb sich die Augen, stand auf und stellte das Radio aus.

      *

      Liebe Frederike,

      meinen Geburtstag habe ich halbwegs überstanden. Nun ist er zum Glück vorbei, es ist halb eins in der Nacht, und er war nicht so schlimm, wie ich befürchtet habe. Natürlich grummelt mein Magen von der Buttercremetorte, aber ich bin heimlich an Frau Westermanns Medizinschränkchen gegangen und habe etwas von ihren Hoffmannstropfen genommen.

      Trotzdem geht es mir nicht gut. Du fehlst mir, Fredi, und wie du mir fehlst! Ich dachte, es würde irgendwann aufhören oder zumindest besser werden. Es heißt ja, die Zeit heile alle Wunden. Aber für mich ist das Gegenteil der Fall, es wird von Tag zu Tag schlimmer. Ich fühle mich wie in