Wer weiß, in was du dich am Ende hineinreitest. Wer soll dir da noch helfen, wenn wir für dich die Unwahrheit sagen müssen?«
Karl steckte sich das Kissen hinter den Kopf und seufzte tief auf. »Im Hotel hat niemand mitbekommen, wie ich gegangen bin, glaub mir, Oma. Ich sollte eigentlich bis 19 Uhr bleiben, aber ich bin eine Stunde früher gegangen.«
»Also doch schon um sechs. Warum? Du bist in der Lehrzeit, Junge, du kannst dich nicht einfach vom Acker machen, wenn du keine Lust mehr hast.«
»Ich konnte nicht mehr, Oma, ich fühlte mich nicht so.«
»Hast du Bescheid gesagt?«
»Eben nicht. Ich habe mich einfach verdrückt.«
»Und keiner hat etwas mitbekommen?«
»In der Küche lief das Radio, und es war gerade Schichtwechsel. Da ging es drunter und drüber. Alle wollten den Anpfiff des Spiels mitbekommen. In dem Moment war ich völlig unwichtig, ehrlich.«
»Du musst dich doch irgendwo abmelden. Habt ihr keine Stechuhr?«
»Nein, das nicht. Ich habe dem Küchenchef zugerufen, dass ich gehe, und er hat nicht reagiert. Diefenthal hat mich nicht mal angesehen, die anderen auch nicht. Die waren alle aufgeregt. Die waren vollkommen irre an dem Abend.«
Verzweifelt sah sie ihn an. Am liebsten wäre sie aus dem Bett gekrabbelt, hätte sich neben ihn gesetzt und ihn in den Arm genommen wie früher, als er zu ihr gekommen war, um in ihrer Nähe Schutz zu suchen. Aber sie traute sich nicht, er fühlte sich zu groß dafür und wies sie und ihre Berührungen oft ab.
»Ist die Polizei eigentlich noch da?«
»Ich glaube schon. Bleib besser hier sitzen, bis Bettine hochkommt. Dann reden wir zu dritt in Ruhe über alles.«
»Du hilfst mir doch, Oma?« Seine Augen hatten einen kindlichen Ausdruck, besonders, wenn er sie so aufriss.
»Ich versuche es. Und ich kann nur hoffen, dass alles gut wird. Ich glaube an das Gute im Menschen, und ich glaube auch nicht, dass du irgendwas mit der Sache zu tun hast. Dafür bist du zu feinfühlig, mein Junge.«
8. Kapitel
Fritz Starnke war dazu übergegangen, mit Klebestreifen vorsichtig die Fingerspuren abzunehmen und sie anschließend auf weißes Papier zu kleben. Das nahm einige Zeit in Anspruch.
»Was geschieht nun mit ihm?«, fragte Bettine und deutete auf den Toten.
Conradi verstaute seine Kamera in der ledernen Fototasche und schlug ein dünnes Filztuch darüber, ehe er den Reißverschluss schloss. »Haben Sie einen Fernsprechanschluss?«
»Ich habe Sie doch angerufen.«
»Verzeihung.« Conradi schlug sich gegen die Stirn.
»Folgen Sie mir bitte!« Bettine beeilte sich, vor ihm ins Büro zu gehen, das sich neben einem der beiden Lagerräume hinter dem grünen Samtvorhang befand. Er wartete, bis sie den Raum verlassen hatte, und schloss die Tür hinter ihr. Die Wählscheibe des schwarzen Telefons schnarrte, als er auswendig die Nummer der Vermittlung anwählte. Er ließ sich mit einem Osnabrücker Bestattungsunternehmen verbinden.
Nach etwa einer halben Minute meldete sich ein Bestatter aus der Martinistraße. Conradi erteilte ihm den Auftrag, eine Leiche in der Johannisstraße abzuholen und in die Gerichtsmedizin zu bringen.
*
Bettine atmete auf, als die Polizei endlich verschwunden war. Sie klopfte an der Tür ihrer Großmutter und gab Bescheid, dass sie noch einmal das Haus verlassen müsste. Erstaunt blickte sie auf Karl, der auf Wilmas roséfarbenem Sessel saß und in der »Hörzu« blätterte. Seit Neuestem war darin nicht nur das Rundfunk-, sondern auch das Fernsehprogramm zu finden, was ihn brennend interessierte, obwohl er außer der Tagesschau bisher keine einzige Sendung gesehen hatte. »Was machst du hier?«, wollte sie von ihm wissen. »Wo warst du die ganze Zeit?«
»Hier, warum?«
»Du weißt genau, was ich meine.«
»Nee, weiß ich nicht. Ich war arbeiten und dann im Bett. Ich bin erkältet.« Er hustete demonstrativ.
Sie sah ihn düster an. »Aha.«
»Jetzt willst du noch mal fort?«, fragte Wilma Müller, erwartete aber keine Antwort.
»Ist die Polizei noch da?«, fragte Karl ängstlich.
»Gerade gegangen.«
»Haben sie schon etwas rausgefunden?«
»Nein, gar nichts.«
»Was hast du denen gesagt?«
»Nichts. Das heißt, doch: Ich habe von Erwin Bartsch erzählt.«
Er atmete auf. »Das klingt gut. Den können sie gerne mal verhören. Wer weiß, vielleicht ist der Fall dann ja ratzfatz gelöst.«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.« Bettine warf ihm einen herausfordernden Blick zu und schloss behutsam die Tür. Auf Socken schlich sie die Treppe herunter, zog sich erst unten die Schuhe an und verließ den Friseursalon durch die Hintertür.
Im Hof stand ihr Fahrrad. Gut, dass ihr Bruder erst am Vortag die Reifen aufgepumpt und ein neues Kleidernetz angebracht hatte. Es war lästig, mit Röcken und Kleidern Fahrrad zu fahren. Da hatten es die Jungs bedeutend leichter. Viel lieber hätte auch sie Hosen getragen. Neulich hatte sie ein Mannequin damit in der »Constanze« gesehen. So eine Hose würde ihr auch gefallen, an den Fesseln schmal und oben weiter geschnitten, aber damit durfte sie ihrer Mutter und Großmutter nicht kommen. Seit Wochen kämpfte sie für einen modernen Kurzhaarschnitt, denn sie hatte ihre langen, pflegeintensiven Haare satt. Und unmodern waren sie sowieso. Wenn sie erst einmal volljährig war, in weniger als zwei Jahren, würde sie tun und lassen können, was sie wollte, enge Hosen und kurze Haare tragen, rauchen und Cocktails mit Alkohol trinken, aber bis dahin war es noch lange hin. Vor allem wollte sie so schnell wie möglich heiraten, damit sie ausziehen und auf eigenen Füßen stehen konnte.
Ihr Weg führte sie quer durch die zerstörte Stadt. Noch immer hatte sich Bettine nicht an den Anblick der Häuserruinen und Bruchsteinberge gewöhnt, auch wenn sie allmählich kleiner wurden. Es ging langsam, viel zu langsam voran. Sie fragte sich, wie die Alten so viel Geduld aufbrachten. Sie hatte diese Geduld nicht. Es sollte alles wieder so aussehen wie vor dem Krieg! Die Häuser sollten gefälligst heil und schön sein wie in der Straße, in der Edmund lebte. Dort war alles unverändert. Als hätte es den Krieg nie gegeben. Nur dort kam Bettine zur Ruhe, nur dort konnte sie aufatmen, an eine Zukunft glauben und sich auf sie freuen!
Als sie ihr schwarzes Damenfahrrad gegen die Mauer lehnte, bemerkte sie, dass sich im oberen Stock die Gardine bewegte. Sie blickte hoch und sah Edmund am Fenster stehen. Schnell schloss er die Gardine wieder, noch ehe sie zum Gruß ansetzen konnte. Edmund Kettler wohnte in einem herrschaftlichen Gründerzeithaus in der Friedrichstraße, mit Dienstboten und einem parkähnlichen Grundstück dahinter. Geduldig wartete sie vor der Tür, bis er ihr öffnete. »Was ist passiert, Daisy?«, fragte er, als er ihr Gesicht sah. »Hast du geweint?« Er nannte sie bei diesem Kosenamen, weil sie bei ihrer ersten Begegnung wie die Comicfigur eine große Schleife im Haar getragen hatte.
»Er ist tot«, sagte sie und hoffte, dass er sie in den Arm nehmen würde.«
»Wer?«
»Rolf.«
»Rolf? Oh nein! Wie das? Was ist passiert?«
Sie erzählte es ihm. »Darf ich hereinkommen?«
»Es geht nicht, Tine. Wir haben Besuch, und außerdem wollen meine Eltern nicht, dass du herkommst. Sei nicht traurig, Daisy-Liebes, ein anderes Mal, ja?«
Fassungslos musterte sie seine Mimik. »Und du? Was willst du?«, fragte sie ängstlich.
Er wand sich. »Ich habe dich gerne um mich«, sagte er verlegen. »Das weißt du ja. Du bist wie die süße kleine Schwester, die ich gerne gehabt hätte. Aber vielleicht