sie abermals kurz davor waren, die Fassung zu verlieren. Je fröhlicher und ausgelassener sie wurden, desto trauriger wurde er selbst. Es tat ihm leid für die anderen, aber er konnte es nicht ändern.
»Tooor!«, schrie Drescher und entblößte sein blasses Zahnfleisch beim Lachen. Die Schlaffheit war von ihm gewichen, auf einmal sah er viel jünger aus, seinem Alter entsprechend und nicht wie ein alternder Mann. »Tor, Tooor, Tooor!«, freute er sich, »begnadet, der Kerl, ein As! Ich fasse es nicht! Herbergers bestes Pferd im Stall, und den hast du uns vorenthalten, du Schweinehund! Morlock, Walter, Schäfer, Donnerwetter, Granaten seid ihr, die Besten, ihr seid Weltklasse! Menschenskinder, was für ein Tag, was!« Er boxte sich in die flache Hand und drehte sich um die eigene Achse, was bei seiner mickrigen Statur an einen Derwisch erinnerte.
»Das Spiel ist noch lange nicht zu Ende«, warf Conradi mit einem schiefen Lächeln ein. Auch er freute sich über den Erfolg der deutschen Mannschaft, aber er ärgerte sich noch immer über das Gespräch mit Drescher. Die Arbeit konnte noch so schön sein, wenn der Chef einem das Leben schwermachte, war alles nichts.
»Ach was! Wie schon gesagt, die Türken können nach Hause fahren.« Drescher winkte ab. »Und morgen kümmern Sie sich um das verflixte Fenster!«
6. Kapitel
In der Halbzeit klingelte das Telefon. Starnke zog eine Grimasse und stellte das Radio leiser. Albert Drescher und die Kollegen hatten sich wenige Minuten zuvor in den Feierabend verabschiedet, um das Fußballspiel am heimischen Radio weiterzuverfolgen. Auf dem Sofa war es gemütlicher, und Bier floss sicher auch in rauen Mengen.
Conradi war ebenfalls im Begriff, das Büro zu verlassen. Mit einer Kopfbewegung in Richtung Tür gab er seinem jungen Kollegen zu verstehen, dass er nicht mehr zu sprechen sei, und schnappte sich Aktentasche, Hut und Trenchcoat. Während er sich anzog, verdüsterte sich Starnkes Miene, was nichts Gutes bedeuten konnte, erst recht nicht, als er ihm mit energischem Gesichtsausdruck und der freien Hand zu verstehen gab, dass er ihn brauchte. Schließlich schob Starnke ihm das Telefon quer über den Schreibtisch zu und reichte ihm den Hörer. »Ein Toter in einem Friseursalon«, zischte der Kollege hinter vorgehaltener Hand. »Johannisstraße. Kopfschuss.«
Conradi hielt sich sein freies Ohr zu, um besser zuhören zu können. Eine junge Frau berichtete in knappen, abgehackten Sätzen, was vorgefallen war, immer wieder von heftigem Schniefen unterbrochen. Er reichte Starnke den Mithörer, eine Hörmuschel aus grauem Bakelit.
»Ich war allein«, sagte die junge Frau. »Ich wollte ihn holen, weil er nicht kam. Dann habe ich bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Rolfs Beine schauten unter dem Tresen hervor. Ich habe mich erst gar nicht hingewagt, dann aber doch. Er blutete stark aus dem Kopf. Ich glaube, jemand hat ihn erschossen. Ich konnte kaum hinsehen.« Sie brach ab. Sekundenlang war nur ein unterdrücktes Schluchzen zu hören. Es klang wie eine Störung in der Leitung.
»Wann war das?«
»Vor einer halben Stunde etwa. Ich konnte erst nicht … Ich war wie gelähmt. Meine Großmutter meinte, ich soll den Arzt rufen.«
»Und? Was sagt der Arzt?« Johann Conradi musste die Frage wiederholen, bis sie sich so weit beruhigt hatte, dass sie wieder sprechen konnte.
»Er ist gerade weg«, antwortete sie schließlich mit erstickter Stimme. »Kam schnell, wohnt ja um die Ecke. Rolf ist tot. Er ist tot! Dr. Cordes hat einen Totenschein ausgestellt.«
»Sie hätten erst uns rufen sollen, hat Ihnen das der Doktor nicht gesagt?«
Sie verneinte.
»Ist jemand bei Ihnen?«
»Ja, meine Oma.«
»Gut. Ich bin auf dem Weg. Wo finde ich Sie?«
Bettine Korittke nannte ihm die Adresse.
»Fassen Sie bitte in der Zwischenzeit nichts an, verändern Sie nichts, und sagen Sie das auch Ihren Angehörigen. Wir machen uns auf den Weg!«
»Wir haben aber schon …«
Conradi warf den schweren Hörer auf die Gabel.
»Das Feierabendbier muss warten«, raunte Conradi seinem jungen Kollegen zu. »Kommen Sie!«
Fritz Starnke tippte sich an die Brust. »Ich auch?« Mit verstimmter Miene hängte er den Mithörer zurück.
»Aber selbstverständlich! Den Ausgang des Fußballspiels können Sie morgen der Tagespost entnehmen«, schmetterte Conradi ihm ungerührt entgegen. Insgeheim musste er schmunzeln. Es war gemein. Es war unerhört! Ein Mordfall mitten im Fußballspiel! Er wusste, dass Starnke ihm am liebsten an die Gurgel gegangen wäre. Das Radio auszuschalten war im Moment die schlimmste Strafe, die man ihm antun konnte. Der junge Mann schwieg enttäuscht. Er hatte gelernt, dass er seine persönliche Meinung und seine Gefühle zu unterdrücken hatte. Seine Ausbildung war wesentlich härter als die von Conradi vor vielen Jahren gewesen. Die Reform der Polizeiausbildung hing mit der politischen Vergangenheit zusammen. Fritz Starnke war unter dem Eindruck des Nationalsozialismus stark militärisch erzogen worden. Nach seinem Grundausbildungsjahr bei der Polizeiakademie in Osnabrück folgte die dreijährige Kasernierung bei der Bereitschaftspolizei. Dort wurden Drill und unbedingter Gehorsam gefordert. Starnke, ein sensibler Bursche, hatte sehr unter dem rauen Ton gelitten, der dort herrschte, sodass er am liebsten abgebrochen und das Fuhrunternehmen seines Vaters übernommen hätte. Sein Vater galt als vermisst, und sein Onkel, dessen Bruder, hatte sich das Unternehmen unter den Nagel gerissen.
Mit hochroten Ohren schaltete Fritz Starnke das Radio aus, löschte das Licht und trottete hinter Conradi aus dem Büro.
Draußen hatte es aufgefrischt. Die letzten Tage waren ohnehin ungewöhnlich kühl für die Jahreszeit gewesen, immer wieder hatte es geregnet und gerade fing es an zu nieseln. Schon lange hofften sie auf sommerliche Temperaturen, denn besonders abends wurde es recht ungemütlich. Aber Innentemperaturen von 15 bis 17 Grad galten als gesund und dienten der Abhärtung. So hatte es erst letzte Woche in der Zeitung gestanden. Die Bürger sollten Kohle und Briketts sparen. Die Bewohner der modernen Wohnungen mit Zentralheizung wurden aufgefordert, diese auf die unterste Stufe herunterzudrehen, um mit Erdöl nicht verschwenderisch umzugehen.
Der Fuhrpark der Polizei war übersichtlich. Hauptsächlich bestand er aus Fahrrädern und Mopeds. Ein paar Autos verloren sich im hinteren Teil, da sie nicht oft gebraucht wurden, darunter vier schwarze Volkswagen und mehrere BMW aus der Vorkriegszeit. Ein grauer Mannschaftswagen diente zum Gefangenentransport, und die beiden Opel Olympia in Mausgrau wurden lediglich von den Chefs gefahren. Überhaupt gab es nur wenige Kollegen, die einen Führerschein besaßen. Johann Conradi und Fritz Starnke waren nicht darunter.
Sie nahmen eines der Mopeds, eine NSU Max. Fritz Starnke war ein geübter Motorradfahrer, der in seiner Freizeit gerne über die Landstraßen bretterte und es sogar schon einmal bis nach Italien geschafft hatte. So wurde nicht lange diskutiert, wer fuhr und wer auf dem Sozius Platz nahm. Das Moped, schon etwas in die Jahre gekommen, knatterte gewaltig, schnaufte, ruckelte und stotterte, sobald sie zum Stehen kamen und wieder anfahren mussten.
Conradi und sein Assistent Fritz Starnke fanden die Adresse in der Johannisstraße auf Anhieb. Es dauerte eine Weile, bis die Ladentür entriegelt wurde. Eine Frau mit silberweißen Locken öffnete. Conradi wunderte sich über den ungetrübten Ausdruck in ihrem Gesicht. Fast lächelte sie zur Begrüßung. Auch trug sie kein Schwarz, sondern einen bunt geblümten Kittel, aus dem die kurzen Ärmel eines gelben Strickpullovers herausschauten.
»Haben wir miteinander telefoniert?«, fragte er und zeigte seine Polizeimarke.
»Das muss meine Enkelin gewesen sein, Bettine.«
»Und wer sind Sie?«
Ihre blassblauen Augen blitzten auf. »Wilma Müller. Warten Sie, Herr Wachtmeister, ich hole meine Enkeltochter.« Mit ihren leicht krummen Beinen durchquerte sie den Laden, verschwand hinter einem grünen Samtvorhang und rief einen Namen. Zusätzlich läutete sie mit einer Glocke.
Conradi nutzte die Gelegenheit, um sich umzusehen. Ein schicker Salon, elegant eingerichtet.