ich komme gleich!«, rief Schmalstieg, ohne von seiner Arbeit aufzusehen.
»Keine Eile«, sagte der Mann und blieb hinter dem Garderobenständer stehen.
Der Kunde rauchte. Strenger Zigarrendunst waberte durch den Salon und überdeckte die parfümierten Düfte.
»Jetzt noch Kundschaft?« Die Stimme des Rauchers war etwas heiser. Er räusperte sich. »So kurz vor dem Spiel?«
Der Mann hinter dem Garderobenständer zuckte zusammen. Er kannte diese Stimme. Er kannte sie gut.
»Einen Haarschnitt werde ich noch schaffen«, sagte Schmalstieg. »Die Spiele sind im Moment so langweilig, dass ich nicht unbedingt von Anfang an dabei sein muss. Meine Frau wird mir davon erzählen. Ich hoffe nur, dass nicht gleich in den ersten paar Minuten ein Tor fällt. Dann würde ich mich vielleicht ein klein wenig ärgern.«
Der Kunde ließ ein beifälliges Grunzen ertönen.
Der Mann konnte keinen klaren Gedanken fassen. Am Garderobenhaken hingen mehrere Jacken, Mützen und Hüte, darüber ein Hinweisschild, man möge bitte auf seine Garderobe achten. Anscheinend hatten einige Kunden das so wenig getan, dass sie ihre Sachen dort vergessen hatten. Es gab alles wieder im Überfluss. Wirtschaftswunder, sie waren mittendrin. Niemand musste mehr Löwenzahn und Brennnesseln sammeln für die Suppe am Abend, Kartoffeln vom Feld organisieren oder Beeren pflücken, um Kompott daraus zu machen.
Draußen rumpelte ein Lastwagen vorbei. Eine Frau schrie mit gellender Stimme hinter einem Kind her. Es schien noch einmal gut gegangen zu sein, denn auf ihren Schrei folgten wüstes Geschimpfe und daraufhin das durchdringende Brüllen eines Kleinkindes.
»Sie wollten mir noch etwas sagen«, stellte der Raucher fest, nachdem sich die Situation draußen beruhigt hatte.
Der Mann hinter dem Garderobenständer hielt den Atem an.
»Lieber ein anderes Mal, wir sind nicht allein.« Der Friseur räusperte sich und dämpfte seine Stimme. »Vielleicht morgen früh in meinem Büro. Um 8 Uhr, da ist noch keine Kundschaft da. Wird nicht lange dauern.«
»Bitte verschonen Sie mich mit einer weiteren Hiobsbotschaft.«
»Na ja … Stellen Sie sich darauf ein, dass es kein gemütlicher Kaffeeklatsch wird.«
Für ein, zwei Minuten war nur das Schaben des Rasiermessers zu vernehmen, dann folgten trappelnde Schritte und die helle Stimme eines Kindes. »Dauert’s noch lange? Mutti will das wissen. Oben ist alles fertig. Das Spiel fängt gleich an.«
»Sag ihr, ich brauche noch etwas Zeit. Einen Herren bediene ich noch, dann mache ich zu.«
»Gut, aber wirklich bald kommen«, sagte das Kind und ging wieder.
Der Mann hinter dem Garderobenständer ballte seine Hände zu Fäusten, die sich plötzlich eiskalt und taub anfühlten, als gehörten sie nicht zu ihm. Kalt wurde sein ganzer Körper, während sein Herz hart in seiner Brust schlug. »Mutti will das wissen … Das Spiel fängt gleich an«, dröhnte es in seinen Ohren. Es ging nicht anders. Er musste es tun. Die Zeit drängte. Es gab kein Zurück mehr.
*
Lieselotte Korittke blickte betrübt aus dem Fenster. Vom Sommer keine Spur. Es war kühl, regnerisch und windig. Jagende Wolken bedeckten den Himmel, der dunkel und schwer über der Stadt lag. Nachdenklich zog sie die Gardine zu und staubte den niedrigen Nussbaumschrank ab. Äußerlich wirkte er wie eine hübsche, etwas größere Kommode, aber sein Innenleben war eine Überraschung, mit der niemand rechnete: ein nagelneuer Telefunken befand sich darin, außerdem Radio und Schallplattenspieler! Es war eine Sünde, die sie sich eigentlich nicht leisten konnten. Sie und Rolf lebten über ihre Verhältnisse. Was hatten sie sich allein in den letzten zwei Jahren alles gegönnt! Allem voran den Salon, sie hatten ihn eigenhändig modernisiert und viel Arbeit hineingesteckt. Rolf hatte den Führerschein gemacht und sich den Traum von einem fabrikneuen Volkswagen erfüllt. Die Miete für den Salon und die dazugehörige Wohnung war teuer, denn die Wohnung verfügte sogar über eine Zentralheizung und ein Badezimmer mit Badewanne und Fliesen.
Lieselottes größter Wunsch war eine moderne Einbauküche mit Kühlschrank und Elektroherd gewesen. Auch hier hatte Rolf sich großzügig gezeigt. Die neue Küche war wunderbar, denn nun hatte sie alles Wichtige auf engstem Raum zusammen und musste nicht mehr ständig hin und her laufen, um zu kochen und zu spülen. Für jeden Handgriff brauchte sie sich nur umzudrehen, eine großartige Zeitersparnis! Leichtsinnigerweise hatte sie überdies bei Neckermann eine vollautomatische Waschmaschine bestellt, die drei Wochen später, kurz vor Weihnachten, geliefert wurde. Sie hätte sich ein wenig länger gedulden sollen, weil der Schuldenberg immer größer wurde, aber ihre Nachbarin hatte schon eine gehabt und in den höchsten Tönen geschwärmt! Bei jedem Zusammentreffen mit ihr hatte sie damit angegeben. Außerdem bot Neckermann einen Ratenkauf mit niedrigen Zinsen. Wenn Lieselotte ehrlich war, war dies ihre größte Errungenschaft, noch wertvoller als die Einbauküche! Hätte sie vorher gewusst, wie viel Zeit sie damit einsparte, hätte sie alle anderen Dinge aufgeschoben, nur nicht die Waschmaschine. Keine schwieligen, roten, runzligen Hände mehr, keine Rückenschmerzen vom vielen Bücken, keine hässlichen Haare vom Dunst in der Waschküche. Lieselotte wusch nun die Kleidung der Familie öfter und regelmäßiger und schimpfte nicht mehr so viel mit den Kleinen, wenn sie ihre Sachen dreckig machten.
Auf den Fernseher hatten sie eigentlich noch zwei oder drei Jahre warten wollen, bis sie einen Großteil der Schulden abbezahlt hätten. Aber Rolf hielt sich nicht daran. Die Fußballweltmeisterschaft war sein Antrieb. Er wollte unbedingt das Endspiel sehen, nicht nur hören. Vor zwei Tagen war er zu Radio Wischott gegangen und hatte den teuersten Fernsehschrank für sage und schreibe 748 Mark gekauft. Lieselotte war außer sich, dass er sich über ihre Bedenken hinweggesetzt und sogar ihre Mutter angepumpt hatte. Die schenkte ihm trotz ihrer mageren Rente 100 Mark dafür. Das war ihr erster großer Streit gewesen. Rolf sagte, dass er ein Leben lang der Dumme gewesen sei, der nichts besessen hatte, außer einer winzigen ungeheizten Wohnung ohne Badezimmer. Die Kunden würden nun sehen, dass er es weit gebracht hatte und sich viel mehr leisten konnte als die Konkurrenz, einfach, weil er erfolgreicher war. Er freute sich auf das triumphale Gefühl, von Fernsehsendungen zu erzählen, die seine Kunden nur vom Hörensagen kannten, wenn überhaupt. Es war schön, endlich etwas zu haben, mit dem er angeben konnte.
Dieses Argument leuchtete ihr schließlich ein. Lieselotte musste zugeben, dass der Fernsehschrank auch in geschlossenem Zustand überaus apart war und sich hübsch dekorieren ließ. Nach der Politur stellte sie eine Blumenvase mit drei weißen Nelken darauf und goss den Gummibaum, dessen große Blätter ein wenig Staub angesetzt hatten. Morgen würde sie sie mit Schmierseife bearbeiten.
Bettine, die 19-jährige Tochter, und Großmutter Wilma brachten Teller und Platten mit belegten Schnittchen, russischen Eiern und Frikadellen herein und stellten Bowle- und Biergläser bereit. Aus dem Kinderzimmer am Ende des Flurs, nur durch einen dicken Vorhang vom Schlafzimmer abgetrennt, drangen helles Lachen, Quietschen und Juchzen, weil die Kleinen sich gerade ihre Schlafanzüge anzogen und vor lauter Freude darüber, dass sie ausnahmsweise einmal länger aufbleiben durften, auf den Betten herumsprangen.
Im Vogelkäfig, der an einer Stange vor dem Wohnzimmerschrank hing, zwitscherte Coco, der blaue Wellensittich. An Weihnachten war er eingezogen und forderte seitdem sein abendliches Beschäftigungsprogramm ein. Bettine gab ihm ein Salatblatt von der Garnitur ab und kraulte durch die Gitterstäbe hindurch sein Köpfchen. »Coco brav, Coco brav?«, gurrte sie und pfiff ihm etwas vor. Der Vogel antwortete mit lautem Zwitschern. Ein bisschen klang es, als wolle er die menschliche Stimme nachahmen.
»Händewaschen nicht vergessen«, mahnte Lieselotte, während sie rasch noch etwas Ordnung im Wohnzimmer machte, die »Hörzu« weglegte und die Kissen auf der Couch mit einem ordentlichen Knick in der Mitte versah.
Plötzlich hielt sie inne und fragte nach Rolf. Die sechsjährige Karin, die gerade das Zimmer betrat, zog rasch ihr Schlafanzug-Oberteil auf die richtige Seite, bevor ihre Mutter sie dafür tadelte und möglicherweise sogar ins Bett schickte. Man konnte nie wissen.
»Papa hat noch einen Kunden«,