rief er, »lassen Sie mich das bitte machen.«
Perplex starrte Drescher ihn an. Conradi nahm eine Karteikarte aus einem Holzgestell und schob sie vorsichtig unter das Tierchen. Damit trug er es zum Fenster. Den Hebel nach links, dann gab es da noch diesen Haken an der Seite und … Mit einem Quietschen ließ der Rahmen sich schließlich öffnen. Conradi streckte den Arm ins Freie. Zufrieden sah er zu, wie das Insekt seine Flügel ausbreitete und davonflog. »Gute Reise, Kleiner«, murmelte Conradi.
Beim Schließen des Fensters merkte er, dass es aus den Angeln geraten war. Mit etwas zu viel Kraft wollte er es zurück in die Verankerung drücken. Dabei löste sich die Scheibe und zersplitterte krachend auf dem Fußboden. Fassungslos starrte Conradi auf die zahllosen Scherben. Dass er sich am Unterarm verletzt hatte, merkte er erst, als er das Blut sah. Zum Glück hatte er ein sauberes Stofftaschentuch dabei und drückte es dagegen. Langsam drehte er sich um und sah Drescher den Kopf schütteln.
»Ein Depp sind Sie, Conradi, ein Depp!«
*
Als Conradi zu seinem Schreibtisch zurückkehrte, lief das Radio. Fritz Starnke pfiff leise mit. Der Schlager handelte von einer Orangenverkäuferin aus Italien, von Sonne, Wärme und Liebe, alles Dinge, von denen sie in ihrem kleinen muffigen Büro nur träumen konnten.
»Bleiben Sie auch länger, Herr Starnke? Ich habe noch einen Vorgang bekommen.«
Der junge Kommissar nickte. Er hatte ein fein geschnittenes Gesicht und war im Sitzen fast einen Kopf größer als Conradi. »Ja, aber es macht mir nichts aus. Hier habe ich mehr Ruhe als zu Hause. Meine Mutter hat ständig kleine Aufträge für mich, seit mein Vater nicht mehr da ist.«
»Wartet sie immer noch jeden Sonnabend mit ihrem Schild am Bahnhof?«
»Allerdings. Ich sehe sie freudig aufgeregt weggehen, wenn ein Transport aus Russland angekündigt ist, und bedrückt wiederkommen. Furchtbar ist das. Eine sehr belastende Situation, und das seit nunmehr zehn Jahren. In mir sieht sie eine Art Ersatz-Ehemann. Mal soll ich eine Glühbirne auswechseln, dann einen kaputten Wasserhahn reparieren oder ein Regal an die Wand dübeln. Nicht, dass ich das ungern mache, aber manchmal wird es mir zu viel, und heute geht nun einmal der Fußball vor. Das versteht sie nur leider nicht.«
»Ich muss gestehen, dass ich zwei linke Hände habe«, meinte Conradi kleinlaut. »Ich könnte das gar nicht. Meine Frau hat sich häufig über mich lustig gemacht. Für jeden Handgriff musste sie einen Handwerker holen.«
»Sie haben bestimmt andere Qualitäten«, meinte der junge Polizist schmunzelnd.
»Anscheinend habe ich gar keine. Wissen Sie, was mir eben passiert ist? Ich habe Dreschers Fenster ruiniert.«
»Sie haben … was? Ich habe mich schon über Ihren seltsamen Verband gewundert.« Er deutete auf Conradis Arm mit dem zusammengeknoteten Taschentuch und dem durchscheinenden Blutfleck. »Haben Sie sich verletzt?«
»Halb so wild, ist nur ein Kratzer.« Conradi erzählte die Geschichte mit dem Marienkäfer und dem Fenster.
»Na, da haben Sie ja jetzt einen neuen Freund gewonnen.«
»Ich mache mir eher Sorgen um das kaputte Fenster.«
»Cheffe wird sich bei dem Regenwetter hoffentlich eine Lungenentzündung holen und lange krank zu Hause bleiben.«
Conradi verzog zerknirscht den Mund.
»Na, wenigstens haben Sie ein Leben gerettet«, meinte Starnke und zwinkerte ihm zu. »Der Marienkäfer wird es Ihnen auf ewig danken.«
»Und Drescher wird mich auf ewig hassen.«
»Das tut er doch sowieso schon, wo ist der Unterschied?«
Conradi grinste.
»Machen Sie sich nichts draus, Herr Conradi, der Kerl mag niemanden außer sich selbst. Aber wir haben uns inzwischen daran gewöhnt. Liebe holen wir uns woanders, nicht wahr?«
Conradi lächelte gequält und schlug die Akte auf, die Drescher ihm gegeben hatte. Liebe gab es nicht mehr, jedenfalls nicht für ihn.
Ein paar Kollegen aus der Abteilung hatten sich dazugesellt, um das Spiel gemeinsam zu verfolgen.
Die Tür flog auf und eine Duftmischung aus starkem Tabak und Eau de Toilette wehte herein. Albert Drescher lehnte sich gegen Conradis Schreibtisch und mischte sich sofort ein. Conradi bedachte er mit keinem einzigen Blick. »Was fiel Sepp Herberger ein, gegen Ungarn mit so einer miserablen Mannschaft anzutreten«, regte er sich auf. »Ungarn spielte in Bestbesetzung, dagegen hatten wir nicht die geringste Chance. Nach 20 Minuten bereits 0:3, unfassbar, so eine Katastrophe!« Wieder erwähnte er den Leserbrief, den er an die Redaktion der Osnabrücker Tagespost geschickt hatte, mit Kopie an Sepp Herberger, Mannschaftshotel Belvédère in Bern. Die »faulen Spieler« sollten ihr Fett wegbekommen, jeder einzelne. Er war stolz, die Adresse des Hotels herausgefunden zu haben, und fest davon überzeugt, mit dem Brief etwas bewirken zu können. »Die sollen mal aufwachen, die Jungs, die sollen sich warm anziehen und in die Pötte kommen, kann doch nicht so schwer sein! Zwei Kriege verloren und nun auch noch eine Niete im Fußball!«
Conradi bedachte ihn mit einem ärgerlichen Blick. Ihm gefiel es nicht, dass sich Drescher zu ihnen gesellt hatte.
»Im Grunde können die einpacken, diese Waschlappen«, polterte Drescher und steckte seine Hände in die Hosentaschen. »Es ist gelaufen, so muss man das leider sehen. Aus und vorbei, keine Chance mehr.«
»Vielleicht ja doch«, meinte Starnke mit wenig überzeugtem Gesichtsausdruck. »Nach dem Spiel ist vor dem Spiel«, dozierte er wie ein Alter. Den Satz hatte er sicher schon dutzende Male von seiner Mutter und seinem Großvater gehört.
»Abwarten«, sagte Drescher, »abwarten. Was glauben Sie denn, Herr Conradi, wer gewinnt das heutige Spiel?«
Inspektor Conradi zuckte mit den Schultern. »Der Bessere, würde ich sagen.«
»Haben Sie überhaupt Ahnung von Fußball?«, dröhnte Drescher. »Jetzt still sein, es geht los, ich will was mitkriegen!«
Im Büro wurde es ruhig. Alle stellten die Arbeit ein, legten die Bleistifte weg, brachten die Hängeordner in die Registraturen und in die Aktenschränke, schlossen ab und verriegelten ebenfalls die Schreibtische. Zigaretten wurden herumgereicht und angezündet. Bier wäre auch schön gewesen, aber im Büro herrschte strenges Alkoholverbot. Da wurde auch heute keine Ausnahme gemacht.
Nach fünf Minuten Spielzeit stieß Drescher einen gellenden Schrei aus. Conradi, in Gedanken versunken, fuhr zusammen.
»Ottmar Walter, klasse Junge! Mensch, das erste Tor«, frohlockte Drescher, sprang auf und schlug sich auf die dürren Oberschenkel. »Weiter so, Bursche, zeig es den Türken!« Er riss die Arme in die Höhe und ballte die Fäuste. Auch Fritz Starnke strahlte übers ganze Gesicht und jubelte, wenngleich auch dezenter.
Als in der zwölften Minute das zweite Tor fiel, geschossen von Hans Schäfer, hielt die Kollegen nichts mehr auf den Stühlen. Sie wirbelten herum, schrien, tänzelten vor den Schreibtischen, klatschten sich ab. Conradi fühlte sich ausgeschlossen. Er war hin- und hergerissen. Für ihn gab es noch keinen Frieden und wegen der Vorkommnisse der letzten Jahre keinen Grund, fröhlich zu sein. Ihm war nicht nach ausgelassener Partystimmung. Der Nationalstolz war ihm fremd geworden, auch wenn er sich darüber freute, dass Deutschland zum ersten Mal seit 16 Jahren bei der WM mitspielen durfte. Und dennoch: Das Deutschlandlied, das Fahnenschwenken, die Kampfbereitschaft … Er hatte das alles so satt! Der Krieg war erst knapp neun Jahre her und steckte ihm immer noch in den Knochen. Die anderen konnten nicht wissen, wie es in ihm aussah, denn er sprach nicht darüber. Die wussten nichts von seinem Schicksal, nichts von seiner Trauer. Ratlos blickte er zu seinen Kollegen hin, die nicht aufhören wollten, sich zu freuen.
Erst als die Türkei aufholte und ein Tor für sich verbuchen konnte, wurden die Mienen ernster und es herrschte Totenstille im Raum. Der Jubel setzte aber sofort wieder ein, als Max Morlock kurze Zeit später für ein 3:1 sorgte. Ihn und weitere Spieler hatte Sepp Herberger zuvor geschont. Sie sollten erst zu strategisch wichtigen