warf seufzend einen Blick auf die Wanduhr. Es war kurz vor sechs, eigentlich wollten sie längst alle zusammen auf der Couch sitzen und es sich gemütlich machen. »Einen Kunden? Er hat versprochen, pünktlich Feierabend zu machen. Und nun will er lieber arbeiten, ach, du liebe Zeit!«, sagte sie zu ihrer Mutter. »Ich verstehe ihn nicht. Willst du nicht mal nachsehen, Bettine, wie weit er ist? Karin hat schon ihren Schlafanzug an und kann sich unten so nicht zeigen.«
»Warum nicht?«, fragte die Sechsjährige, bekam aber keine Antwort.
»Gleich«, sagte Bettine, rollte die Augen und ging in die Küche, um Knabbergebäck in Schälchen zu füllen.
Lieselotte klappte den Fernsehschrank auf und drehte den oberen Knopf nach rechts, bis das erwartete Knacken ertönte. Gespannt blieb sie vor dem Apparat stehen, ob sie auch alles richtig gemacht hatte. Das schwarz-weiße Testbild wackelte und war grobkörnig. Sie zog den Apparat ein paar Zentimeter hervor und richtete die Antenne aus, stellte sie immer wieder um. Das Bild wurde klarer. Dabei blieb es aber. »Gleich sehen wir Fußball in echt«, sagte sie.
Bettine hatte an der Schwelle mitgehört. »Das glaubst auch nur du. Ich habe gehört, dass wir nicht alle Spiele sehen können, wahrscheinlich sogar nur das Endspiel. Die deutschen Spiele werden nicht gezeigt. Man kann sie nur am Radio verfolgen und später in der Wochenschau.«
Lieselotte fuhr herum. »Das kann doch nicht sein! Dann hätte Vati nicht so viel Geld ausgegeben!«
Bettine zuckte mit den Schultern und drehte sich auf dem Absatz um. »Nur am Radio, du wirst schon sehen. Und beim Endspiel sind wir sowieso nicht mehr mit dabei! Wir werden viel früher ausscheiden. Das Geld hätte er sich sparen können.«
»Freches Gör«, schimpfte Lieselotte und richtete erneut die Antenne aus.
Als Bettine mit zwei weiteren Schalen aus der Küche kam, schaltete Lieselotte gerade das Radio ein. Es kamen die 18-Uhr-Nachrichten.
Dann war es so weit. Der Sprecher Herbert Zimmermann stellte die deutsche Mannschaft vor, mit den besonderen Stärken und Schwächen der einzelnen Spieler. Auch die gegnerische Mannschaft wurde genau unter die Lupe genommen. Wortreich legte er Chancen, Risiken und Fallstricke dar. Lieselotte setzte sich kerzengerade auf einen der beiden neuen Cocktailsessel und vergaß fast zu atmen. Noch immer hoffte sie darauf, dass Herbert Zimmermann auch auf dem Bildschirm erscheinen würde, aber das war nicht der Fall. Außer dem Testbild war nichts zu sehen. Enttäuscht drehte sie den Apparat schließlich aus.
»Und?«, fragte Bettine provozierend. »Wer von uns beiden hatte nun recht?«
Lieselotte winkte ab. Herbert Zimmermann war viel interessanter, wenn auch im Radio. Leider sah es nicht gut aus: Die Deutschen würden es gegen die Türken nicht leicht haben. Sie mussten sich gewaltig ins Zeug legen, um das desaströse Spiel gegen Ungarn vom Sonntag wieder wettzumachen.
Großmutter Wilma kam zur Tür herein, nachdem sie mehrmals zwischen Küche und Wohnstube hin- und hergelaufen war. »Was sagt er? Wie sieht’s aus heute?«
»Zimmermann meint, dass eine Chance besteht, weil Sepp Herberger die wichtigsten Spieler noch geschont hätte.«
»Denn man tau«, murmelte Wilma Müller, während sie ihrer Tochter ein Glas Bowle mit frischen Erdbeeren reichte.
Dann verteilten sich alle auf die Sofas und Sessel. Die beiden Kleinen quetschten sich dazwischen und wurden regelmäßig ermahnt, still zu sein.
»Peter, noch einmal, und es geht in die Klappe!«, sagte Großmutter Wilma streng.
*
Schwungvoll stieß der Mann die Ladentür auf. Ihn konnte nichts mehr aufhalten. Mit wenigen Schritten war er bei der Verkaufstheke, hinter der Rolf Schmalstieg gerade Geld zählte. Die Scheine knisterten in seinen Händen. Es musste ein guter Tag gewesen sein. Die Blicke der beiden Männer begegneten sich.
»Geschlossen!«, sagte Schmalstieg mit frostiger Miene. »Wir haben geschlossen. Ich bin nur noch nicht dazu gekommen, abzusperren.«
»Das macht nichts«, sagte der Besucher. Seine Stimme klang selbst in seinen Ohren fremd. Er war vorhin schon mal da gewesen, nur wenige Minuten war das her. Er musste sich zwischendurch ein wenig frische Luft verschaffen. Nun war er sich sicher. Nicht mehr denken, nur noch handeln. Keine Gefühle mehr. Er war eine Maschine. Und die hatte zu funktionieren. Schnell und reibungslos.
Mit einer langsamen Bewegung tauchte er seine Hand in die Jackentasche und fühlte den geriffelten Griff der Pistole. Sein Herz klopfte. Es hatte nicht zu klopfen.
»Ich bitte Sie, zu gehen!«, sagte Rolf Schmalstieg eisig. »Und kommen Sie nicht wieder! Ich will Sie hier nicht noch einmal sehen.«
Jetzt. Na los. Es wird nicht lange dauern. Nur wenige Sekunden, dann wäre alles vorbei.
Zwei Schritte nach vorne, die Finger am Abzug.
Der Friseur öffnete seinen Mund, schwieg aber.
Die Finger fest am Metall. Die Hand, die die Pistole aus der Tasche zog. Schwer war sie. Und gefühllos, wie der ganze Mensch in diesem Augenblick. Nur das Herz klopfte. Es klopfte, als hätte es etwas zu sagen. Kurzer Wechsel in die andere Hand.
Ein Auge zu, das rechte fixierte das Ziel.
Dann fiel ein Schuss. Es gab einen dumpfen Schlag, als der leblose Körper gegen die nierenförmige Theke sackte. Sonst kein Geräusch, kein Schrei, kein Klagelaut, nichts.
Ein blutiges Rinnsal. Er konnte nicht hinsehen.
*
Lieselotte Korittke nahm eine Zigarette aus dem fächerförmigen Spender und zündete sie an. Sie trug noch immer ihre schwarzen spitzen Pumps mit den Bleistiftabsätzen und den Satinschleifen, obwohl ihre Füße schmerzten. Aber Hausschuhe tolerierte sie nur, solange sie noch im Morgenmantel war. Rolf mochte es nicht, wenn sie sich gehen ließ. Ihm gefiel es, wenn Frauen mit ihren Reizen spielten, wenn sie sich Mühe gaben mit ihrem Erscheinungsbild, wenn sie zeigten, wie wichtig ihnen der Mann war. Heute trug sie ein flaschengrünes, weit ausgeschnittenes Kleid mit auffälliger Brosche am Revers. Der Ansatz ihrer Brüste war sichtbar. Rolf gefiel das.
Inzwischen war sie beim zweiten Glas Erdbeerbowle angelangt. Die Kinder tranken auch Erdbeerbowle, allerdings ohne Alkohol.
»Langsam werde ich unruhig«, sagte sie. »Mein Gefühl sagt mir, dass etwas nicht stimmt. Wo bleibt nur Rolf? Wir haben uns solche Mühe gegeben, all die feinen Sachen hier vorbereitet.« Ihr Blick fiel auf die Teller und Schüsseln, aus denen sich vor allen Dingen die Kinder bedienten. Sie nahm einen tiefen Zug von der Zigarette und blies den Rauch langsam aus. »Ich habe dich schon vor einer halben Stunde gebeten, nach ihm zu sehen«, sagte sie und warf ihrer Tochter Bettine einen vorwurfsvollen Blick zu.
»Wenn ihn das Spiel interessieren würde, wäre er längst da, oder? Wahrscheinlich hat er Wichtigeres zu tun, Abrechnung oder so. Ich möchte nichts verpassen. Rolf ist schließlich kein kleines Kind, dem man hinterherrennen muss. Wenn er keine Lust auf das Spiel hat, ist das seine Sache.«
»Sei nicht so frech! Du bist bald wie Karl, mit dem gibt es auch nur Ärger! Und sag gefälligst Vater oder Vati und nicht Rolf, hast du verstanden? Ich bin die Einzige, die ihn beim Vornamen nennen darf!«
»Er ist nicht mein Vater.«
»Er ist es, zum Donnerwetter! Wenn du ihn ablehnst, brauchst du dich nicht zu wundern, wenn er die Kleinen bevorzugt.«
»Also gut, dann sage ich dir klipp und klar, dass es mir egal ist, ob Rolf da ist oder nicht!«
Lieselotte hob die Hand, nahm bereits Schwung zum Ausholen, senkte sie aber wieder, als sie Wilmas strengen Blick wahrnahm.
»Komm, Kind, rede dich nicht um Kopf und Kragen«, sagte die Großmutter ruhig zu Bettine, »geh doch einfach runter und sieh nach, was er macht. Ärgere deine Mutter nicht.« Wilma saß in ihrer angestammten Sofaecke und hatte wie immer Strickzeug in den Händen. So wie es aussah, sollte es ein Pullover für Peter werden, den Jüngsten. Er wuchs so schnell und wollte die kratzigen Sachen nicht