Alida Leimbach

Tod unterm Nierentisch


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würde. Nie hätte er damit gerechnet, dass sie nicht auf ihn warten würde! Wie auch? Schließlich hatte er sie nicht freiwillig verlassen, sondern war gezwungen worden, sich bei der Wehrmacht zu melden. Er hatte ihr versprochen, so schnell wie möglich gesund zurückzukommen. Sie hatte ihn bei ihrem letzten Abschied nach einem Heimaturlaub lange in den Arm genommen und geweint. Wie hätte er damit rechnen sollen, dass sie es nicht ernst meinte, sondern sich den Nächstbesten schnappte, der an ihr vorbeilief, um heimlich mit ihm erst ein Techtelmechtel zu haben und dann ein neues Leben zu beginnen?

      »Ich weiß«, sagte Lieselotte. »Ich halte es in Ehren.«

      »Das tust du nicht«, platzte es aus ihm heraus. »Du benutzt es mit einem anderen Mann, diesem Friseur. Er trinkt aus meinen Tassen und isst von meinen Tellern. Was ist mit deinem Ehering? Du hast ihn abgenommen?«

      Sie blickte auf ihre Hände, als suche sie ihn dort. »Willst du ihn wiederhaben?«

      Bekümmert schüttelte er den Kopf. »Behalte ihn ruhig. Bewahre ihn für Bettine auf. Ich habe keine Verwendung dafür.«

      »Ach, Otto.«

      »Es ist, wie es ist. Du brauchst mich nicht zu bemitleiden.«

      Eine Weile saßen sie sich schweigend gegenüber und tranken Tee. Als das Essen fertig war, gab sie ihm eine ordentliche Portion direkt aus der Pfanne und sah zu, wie er aß. Beim Anblick der fettigen Bratkartoffeln hatte er doch Appetit bekommen. Sie bot ihm einen Nachschlag an, aber er lehnte ab.

      »Wie soll es jetzt weitergehen?« Er legte das Besteck quer auf den Teller und schob ihn ein Stück zur Seite. »Ich habe mich so auf unser Wiedersehen gefreut!«

      »Ich mich doch auch, Otto, das musst du mir glauben! Lange habe ich davon geträumt, dass du zurückkehrst. Ich habe mich an der Hoffnung festgehalten, dass alles gut werden wird. Ich habe mir vorgestellt, wie es sein würde, wenn wir uns in die Arme fallen, wie du dich anfühlst, wie deine Haut riecht. Aber irgendwann … Hörst du, es war nicht leicht für mich. Hinter uns liegen schwere Zeiten. Ich musste doch an unsere Kinder denken. Der Hungerwinter 1947 war furchtbar, wir waren alle krank und bekamen keine Medizin. Ich weiß nicht, wie wir diese Zeit überhaupt überlebt haben.« Sie machte eine kurze Pause, sah ihn an. »Gerd ist tot, weißt du das überhaupt?«

      Entsetzt hob er den Blick. »Nein, das wusste ich nicht. Mein erstgeborener Sohn tot? Was ist geschehen? Ist er gefallen?«

      Sie nickte. »Ich will jetzt nicht darüber sprechen, sonst muss ich wieder weinen, und das will ich nicht.«

      Verlegen kratzte er sich am Nacken. »Ich könnte die Wut kriegen, wenn ich noch die Kraft dafür hätte. Er war ein Kind, unerfahren, übermütig, gutgläubig. Am Ende haben sie auch die ganz Jungen geholt.«

      »Gerd fehlt mir so sehr«, sagte sie. »Es gibt Momente, in denen ich besonders an ihn denke. Dann zerreißt es mich jedes Mal aufs Neue. Aber es geht vielen so. Man darf nicht ständig jammern.«

      »Ich verstehe dich. Wir müssen nach vorne schauen, Lieselotte.« Seine Lippen bebten. »Was ist mit den anderen? Was macht Karl?«

      Ihre Miene erhellte sich. »Eva studiert. In Hamburg«, sagte sie stolz. »Sie will Lehrerin werden!«

      »Das ist ja großartig. Wie hat sie das denn geschafft? Sie war immer schon ehrgeizig, eine gute Schülerin, aber dass sie studiert? So ein Studium kostet doch eine Unmenge Geld!«

      »Ihr Lehrer unterstützt sie. Er hat dafür gesorgt, dass sie ein Stipendium bekommt. So müssen wir das Hörergeld nicht bezahlen, zumindest für die ersten vier Semester. Die Miete für ihr Zimmer bezahlt Rolf. Das geht schon. Die 25 Mark kann er erübrigen.«

      »Rolf. Ja«, sagte Otto. »Rolf hat genug, ich sehe schon. Dein Rolf scheint richtig im Geld zu schwimmen. Da kann ein ehemaliger Hotelkoch wie ich nicht mithalten. Und Karl? Wie geht es Karl?« Röte schoss ihm ins Gesicht. Er wollte keine Hiobsbotschaft mehr hören. Es war genug.

      Sie zögerte, sah an ihm vorbei. »Karl ist im Moment in einer etwas schwierigen Phase. Er ist laut und frech. Nun ja, er ist 19, kein einfaches Alter. Oft eckt er bei Rolf an. Die zwei sind wie Hund und Katz. Aber er hat Glück gehabt«, fuhr sie munterer fort. »Das Hotel Hohenzollern hat ihn genommen, nachdem er vom Elektriker, vom Herrenschneider und vom Buchbinder wegen Unpünktlichkeit und Aufsässigkeit gefeuert worden ist. Er tritt in deine Fußstapfen, Otto, macht eine Lehre als Koch, ist im zweiten Lehrjahr, verdient schon 60 Mark. Die Hälfte davon gibt er uns als Kostgeld ab. Rolf wollte ihm nur 10 Mark lassen, das sei genug Taschengeld, meint er, aber das konnte ich verhindern, denn Karl spart auf einen Motorroller. Es gefällt ihm im Hotel, darüber bin ich sehr froh. Ich bete jeden Tag, dass er endlich bleiben kann. Schon länger habe ich keine Klagen mehr gehört. Vielleicht ist das seine Berufung!«

      »Das ist schön«, sagte Otto lächelnd. »Ich wusste, dass er eines Tages meinen Weg einschlägt und im Hotel arbeitet. Als Kind wollte er immer Kellner sein, weißt du noch? Das war sein Lieblingsspiel.«

      Sie schmunzelte bei der Erinnerung daran.

      »Verkaufstüchtig war er immer schon. Wie geht es deiner Mutter?«

      »Ausgezeichnet. Sie ist froh, wieder eine Aufgabe zu haben.«

      »Eine Aufgabe? Was meinst du damit?« Sein Gesicht wurde ernst.

      Sie schluckte hörbar. »Wo warst du überhaupt?«, fragte sie schnell. Sie rieb ihre Fingerknöchel, bis sie weiß wurden. »All die Jahre, ohne etwas von dir hören zu lassen. In Russland?«

      Otto griff nach seiner Teetasse und nickte. »Fast zehn Jahre Gefangenschaft. Ich habe dir geschrieben, sehr oft sogar. Hast du meine Briefe nicht bekommen?«

      »Anfangs ja. Ich habe zurückgeschrieben, aber irgendwann hast du nicht mehr geantwortet. Was ist passiert, Otto?«

      »Ich möchte nicht darüber reden.«

      Sie rührte die Kandisbrocken in ihrer Teetasse um, immer wieder, bis sie sich langsam auflösten. Eine Weile war nur das knisternde Geräusch zu hören, das der Löffel beim Umrühren der Zuckerstücke in ihrer Tasse verursachte. »Ich muss dir etwas sagen«, sagte sie und atmete tief durch. »Du würdest es ja doch erfahren.« Kurz sah sie zu ihm hin, es fiel ihr sichtlich schwer zu sprechen, aber es half nichts. »Ich habe zwei weitere Kinder bekommen. Sie sind noch sehr klein, Karin und Peter, sechs Jahre alt und fast drei. Sie geht schon zur Schule, ist Ostern eingeschult worden. Ihr Mund steht den ganzen Tag nicht still. Der Kleine hat erst spät angefangen zu laufen, ist noch etwas unsicher auf den Beinen. Meine Mutter ist mit ihnen unterwegs. Ich rechne jede Minute damit, dass sie zurückkommen.«

      Er erstarrte. »Mit ihm? Mit diesem Friseur?« Er deutete mit dem Daumen in Richtung Küchentür. Pure Verzweiflung stand ihm ins Gesicht geschrieben, als erfasse er erst jetzt das Ausmaß der Katastrophe. »Es ist also vorbei mit uns?«

      Sie nickte traurig. »Ja, Otto. So ist es. Rolf und ich sind ein Paar, wir leben zusammen wie Mann und Frau. Endlich ist es raus. Es bleibt dir nichts anderes übrig, als dich damit abzufinden.«

      »Du kommst nicht zurück zu mir? Ist das endgültig?«

      »Ja, Otto.«

      »Seid ihr verheiratet?«, presste er atemlos hervor.

      »Noch nicht. Aber wir werden es wohl bald sein.«

      »Und wir? Was ist mit uns?« Seine Stimme brach. Seine Augen wurden rot und schienen vor Erschöpfung zufallen zu wollen.

      »Es tut mir so leid. Ich dachte, du würdest nie wiederkommen, und deshalb habe ich mir ein neues Leben aufgebaut. Zusammen mit Rolf.« Draußen ratterte die Straßenbahn vorbei. Sie wartete, bis es ruhiger wurde. »Was hätte ich denn tun sollen? Mit den Kindern allein bleiben? Wie hätte ich sie ernähren sollen? Die Kinder brauchen einen Vater und ich brauche einen Mann! Ich bin nicht geschaffen für ein Leben als alleinstehende Frau. Das wollte ich nicht, Otto.«

      »Und in diesem Leben habe ich keinen Platz«, schlussfolgerte er. »Darin habe ich nichts mehr zu suchen.« Er streifte seinen Ehering ab und legte ihn auf den Küchentisch. »Den