versteh doch und verzeih! Wenn ich wenigstens gewusst hätte, dass du noch lebst! Ich kann es nicht ändern, Otto, auch wenn ich wollte! Es ist zu spät! Ich habe mit Rolf zusammen eine neue Familie. Mach es uns nicht schwerer, als es ist!«
»Dann werde ich jetzt gehen«, sagte er traurig und nahm seine Kappe. »Ich habe hier nichts mehr verloren.« Er trank den Tee aus, nahm sein Gepäck und ging, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen.
»Komm bitte nicht wieder, hörst du? Glaub mir, es ist am besten so. Du wirst eine andere Frau finden und mit ihr glücklich werden, bist ja noch jung genug«, rief Lieselotte ihm hinterher, aber er antwortete nicht.
Auf der Stiege begegnete er seiner Noch-Schwiegermutter Wilma, die ein Kleinkind auf dem Arm trug. Schnell zog er seine Kappe tiefer ins Gesicht und murmelte einen Gruß. Hinter ihr tauchte ein Mädchen mit hellem Bubikopf auf. Sie sang mit ihrer hellen Kinderstimme ein Lied, das er gut kannte, denn seine Schwiegermutter hatte es auch mit den älteren Enkeln oft gesungen: »Im Frühtau zu Berge wir ziehn, fallera«. Das Mädchen stoppte sofort, als sie ihn erblickte. »Oma, wer ist dieser fremde Mann?«, fragte sie und schaute ihn mit großen Augen an.
»Ich weiß es nicht«, sagte Wilma, erwiderte aber kurz seinen Gruß.
Unten angekommen, drehte Otto Korittke sich um und sah der kleinen Gruppe hinterher. Wilmas Haare waren weiß geworden, und die der Kleinen waren blond, nicht braun wie die der anderen vier Kinder. Mit hängenden Schultern durchquerte er den Salon. Hinten öffnete sich eine Tür, und heraus kam Karl. Er erkannte ihn sofort. »Karl«, rief er, »Karl!« Kurz standen sie sich gegenüber. Karl war inzwischen ein paar Zentimeter größer als er. Er hatte eine aufgeplatzte Augenbraue, eine rote Wange und einen frischen Erguss unter einem Auge. Otto zuckte erschrocken zurück. »Was ist los?« Er wollte ihn am Arm festhalten, aber Karl schien nicht zu wissen, wer er war, machte sich los und ging, ohne ein Wort zu sagen, an ihm vorbei in Richtung Privatwohnung.
3. Kapitel
Johann Conradi war froh, dass der Tag endlich seinem Ende zuging. Lang und kräftezehrend war er gewesen, Probleme mit seinem Chef, Vorwürfe, er würde seine Arbeit nicht genau genug nehmen, habe sich nicht gründlich genug eingearbeitet – dabei war er schon seit mehr als vier Wochen auf seiner neuen Dienststelle in Osnabrück. Auch sei er mit seinen Gedanken oft woanders. In diesem Punkt musste der Kriminalkommissar seinem Vorgesetzten leider recht geben. Er dachte oft an Frederike, seine Frau, und vermisste sie schmerzlich. Noch nie in seinem Leben hatte er einen Menschen so sehr vermisst wie sie.
Frau Westermann, bei der er zur Untermiete wohnte, hatte ihn im Treppenhaus abgefangen und zum Essen eingeladen. Sie habe ein paar Bratkartoffeln mit Bohnen und Speck übrig. Aber er hatte dankend abgelehnt, weil ihm nicht nach Gesellschaft war. Inzwischen bereute er seine Entscheidung. Das bisschen, was er in seinem Regalfach von gestern Abend übrig hatte – etwas Brot, Gewürzgurken und eine Büchse Ölsardinen –, würde nicht reichen. Aber nun hatte er sich entschieden, und dabei blieb es auch. Der Kriminalkommissar suchte im Radio nach einem Klassiksender. Dann setzte er sich an seinen Schreibtisch, nahm einen Schreibblock zur Hand und tauchte seinen Füllfederhalter ins Tintenfass.
Liebe Frederike,
ich sitze am Fenster, höre Radio und denke an dich. Stell dir vor, ich wohne wieder in der Lotter Straße. Es war ein großer Zufall. Aus alter Gewohnheit habe ich bei Feinkost Remme ein Heringsbrötchen gekauft und mitbekommen, dass eine ältere Dame einen Untermieter für ein möbliertes Zimmer suchte. Wie du dir denken kannst, habe ich die Gelegenheit beim Schopf gepackt und sie angesprochen. Ich muss wohl einen guten Eindruck hinterlassen haben, denn sie hat mich sofort mitgenommen.
Die Miete von 20 Mark im Monat ist nicht zu viel verlangt, finde ich. Es ist ein hübsches Zimmer mit Dachschrägen, zwar ohne fließendes Wasser, aber für den Anfang geht es. Es hat eine Rosentapete und Vorhänge mit Rosenmuster. Das ganze Jahr grünt und blüht es hier. Manchmal scheint es mir, als könne ich die Rosen sogar riechen. Was du wohl dazu sagen würdest? Über meinem Bett hängen weiße Tauben in einem Blumenbouquet und daneben starrt mich ein röhrender Hirsch im Herbstblätterwald an. Beide Bilder stecken in vergoldeten Rahmen, solche verschnörkelten, du weißt schon. Ich weiß, du hättest die Tiere abgehängt, aber ich bringe es nicht übers Herz.
Was dir ebenfalls nicht gefallen würde: Es gibt kein Badezimmer wie bei uns früher. Weißt du, was Frau Westermann mir zur Antwort gab, als ich sie danach fragte? »Mit der Linie eins kommen Sie bequem zum Badehaus am Pottgraben. Dort gibt es Duschen und Wannenbäder für zwei Groschen!« Ich habe mir ein Lachen verkniffen, denn ich wollte sie nicht beleidigen. Vielleicht finde ich bald eine Unterkunft mit fließend warmem Wasser, das wäre komfortabler. Zwar bin ich Luxus nicht mehr gewohnt, aber kaum lebe ich wieder zivilisiert, möchte ich am liebsten sofort an unser früheres Leben anknüpfen und es behaglich und schön haben.
Ich versuche mal, dir meine Vermieterin zu beschreiben. Sie ist eine gute Seele mit Küchenschürze und Brille auf der spitzen Nase, verwitwet und mindestens 70 Jahre alt. Ihre Haare sind silberweiß und zu einem dünnen Dutt gezwirbelt. Energisch ist sie und pingelig, was Geräusche anbelangt, denn du weißt ja, dass ich gerne Opern höre, und das am liebsten ziemlich laut.
Im Großen und Ganzen bin ich zufrieden, denn ich habe alles, was ich brauche. Besonders schätze ich den gemütlichen Ohrensessel vor dem Fenster, in dem ich nach der Arbeit lese und Musik höre, wie jetzt gerade. Das Grundig-Radio, das auf dem Schreibtisch steht, habe ich letzte Woche bei Wischott gekauft, es war im Sonderangebot, hat einen prima Empfang, viel besser als unser altes Gerät. Kein Rauschen mehr, kein Verwackeln der Sender. Der Ton der Musik ist so brillant, als würde ich mich in einem Konzertsaal befinden, und die Stimme des Sportmoderators klingt glasklar, als wäre er direkt nebenan. Die Fußballweltmeisterschaft ist nämlich im Gange, eine wunderbare Abwechslung vom schnöden Alltag. Spannende Spiele, auf die ich mich freue. Heute spielte Deutschland gegen die Türkei und hat tatsächlich 4:1 gewonnen. Das hätte ich nie für möglich gehalten! Du hättest dich vermutlich währenddessen mit deinen Freundinnen ins nächste Café verdrückt, Fußball hat dich ja nie wirklich interessiert.
Inzwischen ist es fast neun am Abend. Eben habe ich eine Pause gemacht, um Abendbrot zu essen. Frau Westermann besteht darauf, morgen für mich zu kochen. Es gibt eine kräftige Rinderbouillon und zum Nachtisch eingelegte Pflaumen. Dank ihrer guten Pflege habe ich schon acht Pfund zugenommen. Es könnte mittlerweile auch mehr sein, denn eine Waage gibt es nur im Pottgrabenbad, und da war ich seit einer Woche nicht mehr, ich Schweinchen. Ich sehe dich den Kopf schütteln und mit mir schimpfen. Beruhige dich, Fredi, morgen gehe ich wieder und bleibe so lange in der Wanne, bis ich schrumpelig werde. Vorübergehend leistet die Waschschüssel gute Dienste, und dank Eau de Cologne hat sich noch niemand im Büro beschwert. Frau Westermann denkt, dass ein Kriegsheimkehrer wie ich viel Nachholbedarf hat, dabei war ich ja nicht mal in Russland, aber die Unterschiede sagen ihr nichts. Sie will sogar zu meinem Geburtstag am nächsten Mittwoch eine Buttercremetorte für mich backen. Ich freue mich, weiß aber auch, dass ich danach Magendrücken haben werde.
Du, ich habe Angst vor meinem Geburtstag. Ein weiterer Geburtstag ohne dich. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, wie du zur Tür hereinkommst, mir einen Kuss gibst, dich auf meinen Schoß setzt und deine Arme um meinen Hals schlingst. Ich höre deine Stimme, sehe deine lachenden Augen, deine Grübchen und die zarte Röte deiner Wangen. Ich fühle deinen Kopf in meiner Halsbeuge, deine braunen verwuschelten Haare, die weichen Rundungen deines Körpers. Ich erinnere mich noch an deinen Duft. Den vergesse ich nie, ein wenig nach Mandeln, Vanille und Honig. An meinem Geburtstag werde ich besonders an dich denken, voller Sehnsucht, mein Engel. Ich werde mich nach dir verzehren, wenn ich mit vollgeschlagenem Bauch auf dem Bett liege und die Rosen an der Tapete zähle. Ach, du, Fredi, wenn du wüsstest, wie sehr du noch immer in meinem Herzen bist! Hätte ich einen Wunsch frei, dann würde ich mir wünschen, dich noch einmal in den Arm zu nehmen und ganz lange festzuhalten, nein, für ewig festzuhalten und niemals mehr freizugeben.
In ewiger Liebe
Dein Johann
4. Kapitel
Mittwoch, 23.06.1954
Die