Alida Leimbach

Tod unterm Nierentisch


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der mich oft im Hof herumgeschleudert hat, wie in einem Karussell, das war schön. Es kann aber auch sein, dass mir das nur erzählt worden ist. Mein Vater war lange in russischer Gefangenschaft.«

      »War? Ist er wieder da? Es sollen viele Männer in letzter Zeit zurückgekehrt sein.«

      »Nein, er war nicht darunter. Vielleicht kommt er ja noch.«

      Conradi stockte für einen Moment, ehe er fortfuhr, Fragen zu stellen. Er war sich nicht sicher, ob er die junge Frau damit überforderte. »Wie war das Familienleben mit Ihrem Stiefvater? Gab es öfter Streit?«

      Die junge Friseurin überlegte. »Nun ja, das kommt in jeder Familie vor.«

      »Verstehe«, sagte Conradi und wartete erst mal ab, weil er aus Erfahrung wusste, dass es oft gar nicht nötig war, direkte Fragen zu stellen.

      »Es ging oft recht turbulent zu. Ich habe mich immer rausgehalten.« Erneut sah sie an Conradi vorbei auf den Tisch, als interessiere sie sich für die weißen Nelken, die in einer trichterförmigen Blumenvase steckten. Daneben stand eine Anordnung von kleinen Tellern und Schälchen mit Süßem und Salzigem.

      »Sie haben sich aus jedem Streit rausgehalten?«, bohrte sein Assistent nach. »Geht das denn?«

      »Meistens ja«, sagte Bettine mit rauer Stimme.

      »Erinnern Sie sich an die letzte Begebenheit?«

      »Ich glaube, da ging es um Karl, meinen Bruder. Meinem Stiefvater passte es nicht, dass er oft Regeln ignoriert und abends lange wegbleibt, um sich mit Freunden zu treffen. Herumtreiben und Gammeln nannte er das.«

      Conradi schaltete sich wieder ein. »Wie hat Ihr Vater, also Ihr Stiefvater, dann reagiert? Hat er Karl bestraft?«

      Die Wanduhr schlug mit einer kleinen Melodie zur halben Stunde. Draußen bellten Hunde.

      Conradi wartete, bis wieder Ruhe eingekehrt war. »Ich sehe an Ihrer Reaktion, dass ich mit meiner Frage gar nicht so falschliege. Kann das sein? Wurde er schnell wütend, vielleicht sogar jähzornig?«

      Sie senkte den Blick, ordnete mit ihren Händen ihren knielangen dunkelblauen Tellerrock, zupfte einen Fussel ab. »Nein, nicht so«, sagte sie ausweichend.

      »Wie denn?«

      »Ich bin hundemüde und möchte im Moment nicht reden. Es ist schlimm genug, was mit Rolf passiert ist! Da kann ich nichts Schlechtes über ihn sagen.«

      Conradi tastete nach seiner Brusttasche, in der er eine Zigarettenpackung fühlte. Er hätte gerne geraucht, beherrschte sich aber. Er nickte Starnke zu, der das Ruder übernehmen sollte. Der hatte sich aber gerade einen Salzcracker in den Mund gesteckt. »Ging Ihr Vater oft außer Haus, ohne zu sagen, wohin?«, fragte der junge Kommissar kauend.

      »Eigentlich nicht. Er arbeitete viel, war sehr ehrgeizig, wollte der beste Friseur in Osnabrück werden. Er hatte Träume. Sein Traum war zum Beispiel, weitere Läden zu eröffnen in den nächsten Jahren, auch in anderen Stadtteilen.« Bettines Gesichtszüge wirkten entspannter, ihre Augen klarer. Die roten Flecken verschwanden.

      Fritz Starnke verschluckte sich an dem Keks und hustete einen Krümel auf den Tisch. Er murmelte eine Entschuldigung und sammelte sich kurz, bevor er zur nächsten Frage kam. »Ihre Großmutter sagte vorhin, die Ladenkasse habe offen gestanden. Fehlt etwas? Haben Sie nachgesehen?«

      »Erst dachte ich ja, aber es scheint alles in Ordnung zu sein. Die Kasse stimmt, soweit ich das auf die Schnelle beurteilen konnte. Aber wenn der Typ es auf Geld abgesehen hätte, hätte er wohl alles mitgenommen.«

      »Wie kam es überhaupt dazu, dass Sie Ihren Stiefvater gefunden haben?«, setzte Starnke die Befragung fort. »Was wollten Sie unten?« Er freute sich über Conradis anerkennendes Nicken.

      »Meine Mutter hat mich runtergeschickt, weil mein Vater nicht kam. Erst haben wir es gar nicht bemerkt, weil wir alle so aufgeregt waren wegen des Spiels. Das war von Anfang an spannend. Meiner Mutter fiel plötzlich auf, dass Rolf noch nicht da war. Sie meinte, er wäre wohl immer noch wütend, weil die Deutschen es am letzten Sonntag so vermasselt haben. Trotzdem wunderte sie sich und machte sich plötzlich Sorgen. Erst schickte sie meine kleine Schwester runter und dann mich.« Sie räusperte sich kräftig, kurz davor, wieder zu weinen.

      »Was sagte Ihre kleine Schwester?«

      »Sie meinte, dass Rolf bald käme. Er hätte noch einen Kunden.«

      »Erinnern Sie sich an die Uhrzeit?«, fragte Conradi und sah sie mitfühlend an.

      Bettine konnte sich nicht länger beherrschen. Tränen rannen ihr über die Wange. Vor lauter Weinen konnte sie nicht sprechen, nickte nur und schluckte mehrmals hintereinander. »Ich habe so etwas noch nie erlebt, ich habe noch nie einen Toten aus direkter Nähe gesehen. Nach Bombenangriffen lagen sie manchmal auf der Straße, aber da habe ich weggeschaut, bin einfach weitergelaufen. Das mit Rolf war etwas völlig anderes! Es kam so plötzlich, so unerwartet!«

      Conradi ließ ein paar Sekunden verstreichen, bevor er weitersprach. »Wie spät war es, als Sie ihn gefunden haben?«, fragte er noch einmal.

      Erneut schluckte sie, hustete. »Warten Sie. Es waren schon Tore gefallen, also war es so ungefähr … Ich kann es Ihnen nicht sagen. Schauen Sie mal auf den Totenschein, da steht es doch.«

      »Hier ist 18.20 Uhr vermerkt.«

      »Ja, dann war es so. Dr. Cordes war etwas später da.«

      »Wann genau?«

      »Vielleicht um 20 vor sieben.«

      »Wann war Ihre Schwester unten?«

      »Die genaue Uhrzeit weiß ich nicht. Das war während der Vorberichte im Radio.«

      Conradi warf ihr einen langen Blick zu und einen kurzen in Richtung seines Kollegen. Der starrte trübsinnig auf das tote Radio. »Herr Starnke«, mahnte er leicht kopfschüttelnd, da zuckte der junge Kollege zusammen und war wieder präsent.

      »Sie haben den Schuss aus der Waffe nicht gehört, Fräulein Korittke?«, fuhr Conradi fort.

      »Nein. Alle waren laut, weil Deutschland kurz hintereinander so viele Tore geschossen hat. Es kann sein, dass der Schuss mit dem letzten Tor zusammenfiel und im Jubel unterging. Wir hören sowieso nie Geräusche aus dem Laden. Der Lärm, der von der Straße kommt, übertönt alles. Wenn ein Laster über das Kopfsteinpflaster rumpelt, klingt das, als ob eine Granate einschlägt. Auch die Straßenbahn ist nicht gerade leise, weil der Lokführer oft direkt vor unserem Haus hupen muss.«

      »Na, ich gehe mal davon aus, dass diese Geräusche, die Sie mir schildern, nicht gleichzeitig aufgetreten sind. Ist Ihnen sonst etwas aufgefallen? War er allein, als Sie nach ihm sahen?«

      »Als ich Feierabend gemacht habe, ein paar Minuten nach 17 Uhr, war noch ein Kunde da.«

      Conradi merkte auf. »»Kennen Sie den Kunden? Wissen Sie seinen Namen?«

      Achselzucken.

      »Sonst befand sich niemand im Salon?«

      Bettine Korittke schien nicht verstanden zu haben, sodass Conradi die Frage wiederholte.

      »Nein, niemand«, sagte die junge Frau schließlich.

      »Sie wirken auf mich verunsichert. Zeigen Sie mir bitte mal den Terminkalender.«

      »Für den heutigen Tag ist nichts eingetragen.«

      »Sie arbeiten nicht auf Termin?«

      »Nur wenn Kundinnen eine Dauerwelle oder eine neue Haarfarbe wünschen. Haarschnitte machen wir so. Dafür ist immer Zeit. Die Kunden warten gerne.«

      »Ich möchte den Kalender trotzdem sehen.«

      »Er ist unten im Laden.«

      »Na gut. Beschreiben Sie mir bitte mal den letzten Kunden. Wie sah er aus?«

      »Mittelgroß, etwas kräftig«, gab Bettine knapp zur Auskunft, um dann wieder für ein paar Sekunden in Schweigen