einer Afrikareise im vorigen Jahr trug Maike diese Kaftane. Bodenlange Hängekleider, die sie verhüllten und in unseren Breitengraden etwas sonderbar wirkten. Sicher waren sie bequem. Schön fand ich sie nicht. Dazu trug sie Turbane, die sie aus Tüchern wickelte. Ich fand, man hatte das Recht, im Alter ein wenig sonderbar zu werden und sich auch so zu kleiden. Sie war jetzt Mitte 50. Der Gedanke, mir könnte es ähnlich ergehen, ließ mich schaudern. Sonderbar. Wie das schon klang. Das kam kurz vor aussortiert.
Maike legte ordentlich Make-up auf, schlang sich das graue Tuch um den Kopf und hielt sich für ausgehfertig. Als wir um kurz vor 17.30 Uhr auf den Gang traten, öffnete sich die Tür einer Nachbarkabine.
»Mama, jetzt komm, ich hab Hunger«, hörte ich eine tiefe Männerstimme. Es trat ein stämmiger Herr Anfang 40 auf den Gang mit einer älteren Dame, die nicht mehr gut zu Fuß war. Ungeduldig trottete er hinter ihr her. Freundlicherweise ließen sie uns an sich vorbei, während ich mich fragte, wie es sich wohl für einen Mann anfühlte, in diesem Alter noch das Bett mit der Mutter zu teilen. Vermutlich besser, als es für den Rest seines Lebens mit niemandem mehr zu teilen. Dagegen war Maike als Bettgenossin ein richtiges Schnäppchen.
Kurz vor der Rezeption kam uns eine ernst dreinschauende Dame in dunkelblauer Uniform entgegen. In ihrem kastanienbraunen Pagenkopf steckte eine Lesebrille. Sie ergriff meine Hand, schaute mir tief in die Augen und stellte sich als die Hoteldirektorin dieses Schiffes, Heike Hurter, vor. Für eine Sekunde hellte sich ihr Blick auf, und sie schenkte mir ein freundliches Lächeln, dann senkten sich ihre Gesichtszüge wieder herab. Wenn es mir an etwas fehlen würde, solle ich sie ansprechen, sie sei für das Wohlergehen der Passagiere an Bord zuständig und immer für mich da. Was für ein schönes Versprechen, dachte ich. Hier wollte man bleiben. Jetzt ergriff sie Maikes Hand, und alles wiederholte sich. Sie bat uns zu warten, damit sich die Crew den Gästen vorstellen konnte. Deshalb blieben wir im Gang vor dem bereits gut gefüllten Restaurantbereich stehen, der jetzt mit einer Kette abgesperrt war. Durch den Raumteiler aus Holzstreben sahen wir, wie man sich an den Tischen angeregt unterhielt. Vor uns sammelten sich Mannschaftsmitglieder in Uniform. Manche sprachen russisch, ein untersetzter Herr mit Ziegenbart plapperte ein paar Brocken nach und brachte damit den Rest der Truppe zum Lachen. Bei ihm klemmte etwas im Bart, was ich nicht einordnen konnte. Als er bemerkte, wo ich hinsah, kam er auf mich zu und zeigte es mir aus der Nähe.
Ein lachender Totenkopf aus Silber klemmte seinen bereits ergrauenden Bart in der Mitte zusammen. »Das ist eine Bartperle«, erklärte er. »Fassen Sie sie ruhig an.«
Das ging mir dann doch zu weit. Tatsächlich hatte ich so etwas noch nie gesehen. Er reichte mir seine Hand und stellte sich vor. »Ladislaus Stapetke, Erster Technischer Offizier an Bord.«
Sein kugelrunder Bauch war das Einzige, was zwischen uns stand, und der zog ihn leicht vornüber, sodass mir sein Gesicht recht nahe kam. Ich beugte mich zurück und stellte mich als einfache Passagierin vor.
»Für uns sind Sie alle etwas Besonderes«, war seine Reaktion, bevor er in die Reihe seiner Kollegen zurücktrat. Bei jedem neuen Gast unterbrachen sie ihre persönliche Unterhaltung für ein »Guten Abend« mit kurzem Lächeln. Alle trugen Uniformen mit und ohne Streifen. Auf ein Zeichen stellten sie sich hintereinander auf wie bei einer Polonaise. In dieser Stellung verharrten sie noch kurz, bis Krappmann, jetzt in blauer Kapitänsuniform, angerannt kam und sich an die Spitze dieses Zuges stellte. »Los, du Sonnensittich«, drängte ihn der Bartperlenträger. Es erklang festliche Musik, und alle marschierten in Reih und Glied ins Restaurant, wo die Gäste bereits Platz genommen hatten und schlagartig still wurden. Krappmann sprach einige Sätze der Begrüßung, gab dann das Mikro weiter an die Hoteldirektorin und verschwand wieder.
Wir Zuspätkommer standen noch immer im Gang und sahen alles durch die Holzstreben von hinten. Es duftete nach Fleisch und leckerem Gemüse. Enni kam in Stöckelschuhen, auf denen sie so unsicher lief, dass man ihr Krücken reichen wollte. Dazu trug sie ein knielanges hochzeitskleidweißes Glitzershirt und sah aus wie eine Braut, die man aus dem Wasser gefischt hatte. Ihre Haare standen hochtoupiert vom Kopf ab. Ein Anblick zum Davonlaufen.
Endlich durften wir zu unserem vereinbarten Tisch hinter den Desserts. In blütenweißem Hemd und lila Samtjackett saß dort bereits Herr Behorn. Er lächelte, deutete an, sich zu erheben, als wir uns an den Tisch setzten, und sagte ansonsten nichts. Er wirkte in allem, was er tat, jungenhaft und auf eigentümliche Weise unbeschwert. Auch hier am Tisch vermochte er es, die Laune seiner Umgebung positiv zu beeinflussen. Selbst einer durchhängenden Trauermaus wie mir tat er irgendwie gut.
Noch bevor einer von uns zum Buffet aufbrach, kam eine Kellnerin mit einem Gruß aus der Küche für jeden von uns. »Lorena« stand auf ihrem Namensschild. Ich schätzte sie kaum älter als 18. Im Haar trug sie lauter bunte Plastikspängchen, mit denen sie auch die letzte Strähne am Kopf fixierte. Jedem von uns servierte sie eine kleine Pastete. Während ich sie etwas fade fand, verzog Herr Behorn sein Gesicht, lief rot an und produzierte Schweißperlen auf seiner Stirn. Hektisch griff er nach seinem Wasserglas, trank es aus, dann Wein, Sekt, was immer er in die Finger bekam. Ich machte mir Sorgen um ihn, denn er bekam kaum Luft und lief rot an. Hustend stand er auf und kam erst nach einer ganzen Weile, immer noch mit rotem Gesicht, wieder zurück. Enni hörte nicht auf, mit Anzüglichkeiten um sich zu werfen. Ich war knapp davor, mich vor Scham aus dem Fenster zu stürzen. Dieses hier ließ sich allerdings nicht öffnen. Kurz schloss ich die Augen. Als ich am Morgen dieses Tages unser Haus verließ, wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass ich nicht zurückkehren konnte. Jetzt war ich hier gefangen. Zumindest bis zum nächsten Hafen.
Ich öffnete die Augen wieder und schaute auf die kleinen, rundlichen Wellen des Wassers. Allmählich stellte sich eine Art Grundmüdigkeit ein. Vieles wurde einem einfach egal. Dieser dösige Zustand war nicht gut und auch nicht schlecht. Ich fühlte mich merkwürdig getrennt vom Rest der Welt, der da an Land geschäftig seinen Angelegenheiten nachging. So wie ich. Sonst.
Es wurde immer dunkler draußen, hier und da waren noch Lichter an Land zu sehen, aber es wurde immer anstrengender, etwas erkennen zu wollen, bis meine Augen schließlich müde aufgaben und alles zur grau-schwarzen Einheitsbrühe erklärten.
Der Club anonymer Steuerberaterinnen, wie ich das Vierertrüppchen Frauen im Twinset getauft hatte, ließ sich an einem der Nachbartische nieder. An ihnen sah man edle Perlen, teure Uhren und perfekte Frisuren. Ich seufzte. Meine Haare machten gerne, was sie wollten. Meine Naturkrause stand bei Regen in alle Richtungen ab, man bekam sie kaum gebändigt. Struwwelpeter war mein zweiter Vorname. Vielleicht sollte ich auch auf Maikes Turbankonzept zurückgreifen. So musste man sich nicht mehr um eine Frisur kümmern.
Ein Paar besetzte den Tisch gegenüber. Er sehr akkurat im Strickpullunder und grauer Stoffhose mit Bügelfalte. Die junge Frau mit wallender Mähne und blutrotem Lippenstift, ein südländischer Typ mit dunkler, makelloser Haut, um einiges jünger als er. Als sie ihr kleines Jäckchen auszog, entblößte sie zarte Schultern und ein Dekolleté so tief wie der Vesuv. Sie griff mit der Hand eine Haarsträhne und strich mit einer langsamen, lasziven Bewegung an dieser herunter bis auf die Spitze ihres Busens. Dann ließ sie die Hand wie in Zeitlupe weiter an sich hinuntergleiten in den Schoß. Eine der aufreizendsten Gesten, die ich bis dahin je in der Öffentlichkeit gesehen hatte. Seitlich vom Tisch schlug sie nackte Endlosbeine übereinander. Die war niemals seine Ehefrau. Ich dachte an Adi, und mir explodierte fast das Herz.
In diesem Moment wandte sich Herr Behorn an mich. »Endlich allein mit Ihnen.«
Enni und Maike liefen zum Buffet. Gunnar Behorn legte seine Hand auf meinen Oberschenkel.
»Ich bin ganz verrückt nach Ihnen«, flüsterte er.
Für einen Moment war ich geneigt, mich umzudrehen, um zu schauen, ob noch jemand hinter mir saß, der gemeint sein könnte. Ich hatte keine Ahnung, wie ich reagieren sollte, starrte ihn nur an. Hektische Flecken breiteten sich in Windeseile über meinen Körper aus. Auch an Stellen, an denen ich sie sonst nicht kannte.
»Sie müssen nichts sagen, ich spüre Ihr Herz«, meinte er.
Ich spürte es auch. Es schlug Alarm. Schon schlenderte Enni unserem Tisch mit einem Haufen Pommes auf dem Teller entgegen. Behorn zog seine Hand zurück