das Wagnis nicht einlässt. In der neurotisch »verstiegenen« Angst vor den Gefahren der Reise verpasst der Mensch sein weiteres Werden der Person, das Wachstum seiner Persönlichkeit. Denn Freiheit knüpft sich am partizipativen Modus der Teilhabe. Dazu braucht er aber »Mut zum Sein«, wie es Paul Tillich nannte.
Im Lichte dieses hermeneutischen Zugangs zur latenten, verborgenen132 Sinnschicht des Epos133 wird der fünfte Gesang zum Schlüsseltext der Odyssee. Kalypso bietet ihrem geliebten Odysseus die Unsterblichkeit – also die Vergöttlichung – an, wenn er bei ihr bleiben würde. Er zögert. Aber seine Liebe treibt ihn zu Penelope nach Ithaka zurück. Dies gelingt wiederum nur mit Hilfe der Götter. Auch hier wird man die implizite philosophische Anthropologie verstehen müssen: Odysseus willigt mit dieser Entscheidung zugunsten der Rückkehr nach Ithaka in seine Endlichkeit ein. Er akzeptiert den Tod. Aber statt der Langeweile der Unsterblichkeit wählt er eben das Abenteuer des Lebens als Wagnis der Wege des Lebens und vor allem als Ziel der Reise das Telos der Liebe innerhalb der Grenzen des menschlichen Daseins. Im ambivalenten Kontrast zu dieser Sinnschicht der Liebe als Prinzip der Daseinsführung steht sodann aber das abgründige Abschlachten der Freier bei der Rückkehr von Odysseus auf Ithaka. Doch auch dies gehört zur philosophischen Anthropologie dieser Erzählung: Die Abgründigkeit gehört als Strukturelement zum Menschen. Er ist nicht nur134 Homo donans, sondern auch Homo abyssus. Gemeint ist also die ewige Pendelei des Entscheidens zwischen Gewalt und Altruismus135, wenngleich das Problem im Fall des Tyrannenmords kompliziert wird. Kulturgeschichtlich ist trotz der humanistischen Rezeptionsästhetik des antiken Griechenlands der Neuzeit immer zu bedenken, dass die alten Griechen eine Gesellschaft männlicher Gewaltbereitschaft war, eine Kultur des Krieges, der Kolonisation, der Räuberei und Plünderei. Die Tugendlehre (etwa der Gelassenheit136 und der Suche der gleichgewichtigen Mitte, der Philosophie des Guten, Wahren und Schönen), die heute noch aktualisiert wird, sollte nicht über die soziale Wirklichkeit dieser Zeit täuschen. Es mag sein, wie es einmal formuliert wurde137, dass wir (als Europäer) durch dieses Nadelöhr der primitiven Demokratie (dabei alle Züge des religiösen Synkretismus und der kulturellen Orientalisierung bedenkend) mussten, um zu dem zu werden, was wir heute sind. Aber es überrascht nicht, dass Teile von der klassischen evolutionären Ethnologie138 geprägten Altertumswissenschaften diesen gelobten Hellenismus (auch als Kontext des frühen Christentums139) in die Entwicklungsstufe sog. primitiver140 Kulturen einsortierten.141
Wir sollten uns nun darauf einlassen, diese philosophische Anthropologie des den Tod akzeptierenden Helden Odysseus nochmals neu zu reflektieren im Lichte des Mythos von Orpheus142 und Eurydike (die neuerdings auch als Frau in ihrer Rolle in dieser Tragödie verstärkt problematisiert wird143).
Die Einbahnstraße in den Hades
Eurydike wird im antiken Mythos als verstorbene Gemahlin des Orpheus thematisiert, der die Musik göttlich beherrscht. Zum Mythos von Orpheus und Eurydike gibt es viele Varianten mit einem (psychoanalytisch dechiffrierbaren) gemeinsamen daseinsthematischen Kern. Orpheus Musik hat eine solche Kraft144, dass – Reinhard Mey hat dies romantisch besungen – die Steine ihre Statik aufgeben (also sich bewegen) und Flüsse ihre Dynamik aufgeben (also still stehen), wilde Tiere sich zahm um ihn herum scharten und ihm lauschten.145 Dann stirbt Eurydike und gelangt in den Hades. Orpheus bezaubert mit seinem Gesang und dem Spiel auf seiner Leier (die apollinische Lyra, im distinkten Gegenüber zur Panflöte146 des Dionysischen bzw. der Aulos im Umkreis von Satyr und Gorgonen) den Herrscher der Unterwelt, den Gott Hades, und dessen Gemahlin, die Göttin Persephone. Er erhält die Erlaubnis, mit Eurydike vom Unten des Hades wieder zur Erde aufzusteigen. So wird der Tod durch die Kraft der Liebe und durch die Magie der Musik überwunden.147 Doch nicht endgültig. Im klassischen Griechenland wird der Mythos dadurch erweitert, dass Persephone dem Orpheus eine Bedingung stellte. Demnach dürfe er sich nicht nach Eurydike umdrehen, bis er das Tageslicht der Erdoberfläche wieder erreicht hätte. Orpheus bricht dieses Verbot, und Eurydike entschwindet ihm wiederum, nun aber endgültig, für immer.
Auch hier ist der Mythos eine Narration der Einsichten philosophierender Anthropologie. Was ist der Mensch? Ein endliches Wesen. Sicher ist nur der Tod. Heute können wir ihn in der Intensivmedizin hinauszögern. Wir können in der Palliative-Care-Kultur148 auch die Art und Weise des Sterbens gestalten, wobei auch hier – wie im Fall der Patient*innenverfügung149 oder auch im Fall von »Advanced Care Planning«150 – nicht immer alles ohne Ambivalenz ist. Aber am Ende des Lebens ist er unvermeidbar. Die Geschichte von Orpheus und Eurydike musste so ablaufen, wie sie ablief. Mögen seine musikalischen Fähigkeiten Orpheus auch, aus leidender Liebe heraus, den Zugang in den Hades gebahnt haben (auch hier wird Hermes geholfen haben), so kann die Geschichte nur so enden, wie sie geendet hat: Der Tod ist als Faktum nicht zu besiegen. Zu verstehen und sodann zu akzeptieren ist nur seine Bedeutung, nicht der Sachverhalt selbst, die er für das Leben hat. Hier könnten wir uns an die Erwägungen des von den Nazis im Konzentrationslager ermordeten Paul Ludwig Landsberg (1901–194)151 halten oder in den »Schlussstücke(n)« von Luise Reddemann152 Hilfe suchen.
Was also ist der Mensch? Wir sprachen vom Leben als »Wagnis«, von dem der Münsteraner existenziale Theologe Peter Wust schrieb153, und vom »Mut zum Sein«, so der Titel eines Büchleins des evangelischen Theologen und religiösen Sozialisten Paul Tillich154, verankert in seiner umfassenden systematischen Theologie.155 Tillich argumentierte entsprechend in einem anderen Büchlein über Liebe, Macht und Gerechtigkeit, ähnlich, aber viel radikaler und insofern politischer als Romano Guardini, dass nur aus der Urkraft der Liebe heraus im Lichte sozialer Gerechtigkeit im demokratischen Modus (der legitimen Macht156) das soziale Miteinander und somit die Personalisierung des Menschen als Telos der Weltgeschichte gelingen kann. Insofern ist der Römer-Brief von Paulus gegenüber der riesigen Bibliothek relativ langweiliger Auslegungsordnungen der kanonischen Theologie nochmals ganz anders, kompatibel mit der Philosophie der Hoffnung von Ernst Bloch157, zu interpretieren. Mit der Erlösung und der Rechtfertigung des Menschen im Symbol des Kreuzestodes von Jesus ist die messianische Jetzt-Zeit der Realgeschichte der Raum der Erfüllung158, unabhängig von der kontroversen und hier in ihrer Komplexität nicht aufzurufenden Literatur zu der Unsterblichkeitsbedürftigkeit159, in der sich Gottes Reich der Liebe und der sozialen Gerechtigkeit ereignen soll.160 Dafür trägt seit des Auszuges aus dem Garten Eden der konkrete geschichtliche Mensch die Verantwortung für sein Leben. Nichts wird aus der versprochenen Zombie-Party am Ende der Weltzeit. Diese Apokalypse ist eine falsche, zumal eine angesichts der Geschichte der Menschen als Geschichte von Klassenverhältnissen und sozialen Ausgrenzungsmechanismen, affirmative Ideologie, der auch nicht mit der Akrobatik theologischer Sophismen oder auch mit einer Erziehung zur Resilienz im Krisenkapitalismus161 zu helfen ist.
Immanente Transzendenz
Die radikale Alternative zur selbst verschuldeten Unmündigkeit des Menschen: Die eschatologische Haltung hat die kerygmatische Substanz (Botschaft) im Lichte des soteriologischen Motivs (der Heilsverkündung) in der Weise einer geschichts- und somit diesseitsimmanenten Erlösung zu transportieren.162 Der Traum der bislang nicht erfüllten sozialen Gerechtigkeit im liebenden sozialen Miteinander als Kultur der Menschen in Zeit und Raum der Immanenz ohne Transzendenz des abwesenden und zugleich teilnehmenden Gottes thematisiert eine Ontologie der Transzendenz in der Immanenz des Diesseits.163
Individuell wie kollektiv wäre dies eine Selbsttranszendenz: ein Wachsen und Werden der personalen Welt. In diesem Sinne ist das Marburger Ent-Mythologisierungsprogramm von Rudolf Bultmann nach wie vor aktuell, wenngleich dessen Mythos-Begriff problematisch ist. Denn auch diese Narration der Philosophie der Hoffnung ist ein Mythos, also ein Deutungsangebot für die gelingende Existenz der Menschen, der noch nach der wahren Daseinsgestalt sucht. Dieser Mythos ist aber befreiend. Es ist ein Mythos der politischen Theologie der befreienden Hoffnung des geschichtlichen und somit konkreten Menschen. Der Mythos der Apokalypse ist anderer Art: Es ist zu kolportieren als ein Warten164 auf Godot.
Ein Kompromiss, der sich im Lichte der obigen Erzählskizzen des klassischen Mythos