Manuela Dudeck

Forensische Psychiatrie interdisziplinär


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zu Bildern, die uns in einem Menschen begegnen. An ihnen orientieren wir uns wie an Vorbildern und Gegenbildern.« Daneben orientieren sich die Antworten auch an Grundregeln des Zusammenlebens, die wiederum den Alltag des Menschen bestimmen und diesem erst Gestalt verleihen. Deshalb greift eine alleinige Definition des Menschenbildes zu kurz und muss um die Beantwortung der Frage »Wie ist menschliches Leben richtig zu gestalten?« erweitert werden. Denn die Ausrichtung am Richtigen im Sinne des Wahren, Guten und Schönen darf nicht vernachlässigt werden, wenngleich das allein ebenfalls nicht ausreichend scheint. Grundsätzlich bringt uns die Frage »Was ist der Mensch?« in eine Distanz zu uns, die es uns ermöglicht, Selbstkritik im Sinne von Vernunft zu üben und so dem Menschenbild nahe zu kommen, da sich Menschen in der Zeit immer wieder in anderer Weise zu verstehen vermögen. Eine starre Begriffsbestimmung scheint der Dynamik des Menschseins nicht wirklich gerecht zu werden. Menschen stehen immer aufs Neue vor der Aufgabe, wie sie sich verstehen und wer sie dadurch sind. Sie bestimmen in unterschiedlicher, aber praktischer Weise, was ihnen wichtig ist und etablieren so Verständnisse von sich selbst, an die sie sich binden. Damit ist der Mensch ein Wesen, das vor der Aufgabe steht, sich selbstkritisch zu gestalten und sich so immer wieder von Bestimmtheiten zu lösen, aber in Beziehung zu sich selbst zu gehen und zu bleiben. Wichtig ist jedoch, dass der Mensch sich zu seinem Tiersein verhalten muss und sich entsprechend sowohl als Tier als auch als Nicht-Tier begreifen kann. Hinzu muss die Vernunft als Praxis der Öffnung gedacht werden, die Fixierungen und Stillstand vermeidet. Nur so können Menschen ihre Freiheit gestalten, indem sie sich Regeln setzen, in denen größtmögliche Freiheitsgrade gelebt werden können (Bertram 2018). Genau das also, was bereits in der Zeit der Aufklärung propagiert wurde und Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) im Gesellschaftsvertrag sagen ließ: »Der Gehorsam gegen das selbstgegebene Gesetz ist Freiheit« (Rousseau 1977, S. 23).

      2.2 Die Bedeutung von sozialen Gruppen

      Die Frage, wie Menschen mit Menschen, die soziale Normen verletzen, umgehen, bestand bereits bei Bildung von sozialen Gruppen und reicht weit über die Entstehung der Zivilgesellschaft zur Zeit der klassischen Antike hinaus. Das Eingehen von Beziehungen und die Bindung an andere Menschen erfüllen so grundlegende menschliche Bedürfnisse, dass davon auszugehen ist, dass es sich evolutionsbiologisch um einen für das Überleben notwendigen Vorteil handeln muss (Aronson et al. 2004, Baumeister & Leary 1995). Definitionsgemäß wird eine soziale Gruppe von mehr als zwei Menschen, die miteinander agieren, gebildet, sodass eine wechselseitige Abhängigkeit entsteht (Lewin 1948). Soziologisch gibt es darüber hinaus weitere Definitionselemente, die eine soziale Gruppe ausmachen. Diese hat z. B. ein gemeinsames Gruppenziel und ein Verhaltensmotiv für die Gruppe insgesamt wie für jedes einzelne Mitglied, und daraus entwickelt sich ein »Wir-Gefühl«, welches zur Kohäsion beiträgt. Es stellt ein System gemeinsamer Normen und Werte als Grundlage der Kommunikations- und Interaktionsprozesse dar, indem ein Geflecht aufeinander bezogener sozialer Rollen entsteht. Die sozialen Rollen sind auf das jeweilige Gruppenziel ausgerichtet und gewährleisten die Zielerreichung als auch die Lösung von dabei auftretenden Konflikten (Schäfers 2016). Die Interaktionen in einer Gruppe hängen nicht nur von der Gruppengröße, sondern auch von inneren Gruppenprozessen ab, die u. a. von der Familie als Steuerungselement geregelt werden. Außerdem werden diese von den Außenweltbedingungen der jeweiligen Gruppe und von dem abhängen, was die einzelnen Gruppenmitglieder in das Gruppenleben einbringen. Das können Wissen und Bildung sowie Interessen und Engagement sein. Sozial wird das Verhalten der Gruppenmitglieder solange sein, bis es für sie Alternativen gibt, um gleiche soziale, emotionale und sonstige Qualitäten des Gruppenlebens zu erreichen (Neidhardt 1999, Schäfers 2016).

      Die Evolution der sozialen Lebensform hat gegenüber einer weitgehend solitären Lebensweise entscheidende Vorteile. Es kommt aus soziobiologischer Sicht zur Verringerung des Raubdrucks, zu einem verbesserten Schutz gegen infantizidale Männchen, zu einem deutlich effizienteren Nahrungserwerb und zu entscheidenden Kooperationsgewinnen bei der Fortpflanzung. Wenn sich aber Gruppen finden, ist das ebenso mit ökologischen und/oder sozial vermittelten Nachteilen verbunden. Neben einem erhöhten Infektionsrisiko kommt es auch zu einer vermehrten Konkurrenz um Ressourcen, vor allem um Nahrung. Es beginnt eine erhöhte reproduktive Konkurrenz, die sozialstressabhängig Frauen weniger leicht schwanger werden und diese Infantizide begehen lässt. Das infantizidale Verhalten hat dabei den weiteren funktionalen Hintergrund des Territorialgewinns. Vor diesem Hintergrund hat soziales Leben einen relativ hohen Preis, wobei eine reine Kosten-Nutzen-Analyse zu kurz greift. Denn die Selektion, die bei Bildung von immer größer werdenden Gruppen entsteht, ist evolutionsbiologisch ein sich selbst optimierender Prozess, der durch soziale Normen der jeweiligen Zeit strukturiert werden kann. Die dabei zu schließenden Kompromisse sind veränderlich und ermöglichen Zusammenleben trotz sich widersprechender Einzelinteressen (Voland 2013).

      Im Laufe der raschen evolutionären Entwicklung sozialer Fähigkeiten der Spezies Homo sapiens in den letzten 20.000 bis 30.000 Jahren wurden die geltenden inner- und außergemeinschaftlichen Regeln immer differenzierter. Juristische Konstrukte wie das der Schuld, der Wahrheit und der Lüge und theologische Auffassungen zum Verhältnis von Menschlichem und Göttlichem wurden erwogen und in den Diskurs integriert. Hinzu kamen die jeweiligen philosophischen Anschauungen zum freien Willen und damit zur Verantwortung eines jeden Einzelnen. In Abhängigkeit vom jeweiligen Grundverständnis der Weltordnung und des Menschenbildes wurde das Denken und Handeln gegenüber Tätern definiert (Vasic et al. 2015). So wurde abweichendes Verhalten als eine Verhaltensweise bezeichnet, die gegen die in der Gesellschaft oder einer ihrer Teilstrukturen geltenden sozialen Normen verstößt und im Falle der Entdeckung soziale Reaktionen hervorruft, die darauf abzielen, die betreffende Person, die dieses Verhalten zeigt, zu bestrafen, zu isolieren, zu behandeln oder zu bessern. Damit das nicht passiert, d. h. um zu gewährleisten, dass sich Menschen konform verhalten, bedarf es der sozialen Kontrolle, worunter man alle Strukturen, Prozesse und Mechanismen versteht, mit deren Hilfe eine Gesellschaft oder soziale Gruppe versucht, ihre Mitglieder dazu zu bringen, ihren Normen Folge zu leisten. Soziale Kontrolle ist somit ein zentraler Bestandteil aller Prozesse der sozialen Integration (Peuckert 2016).

      2.3 Die Funktion von Ritualen, Religion und Religiosität

      2.3.1 Rituale

      Der religiöse Glaube und die dazugehörigen Rituale scheinen Anpassungen zu sein, deren Nutzen in der augenblicklichen Integration des Individuums in der Gruppe besteht, die ihm Bestrafungen erspart, die diejenigen widerfahren, die von den Bräuchen abweichen. Das sind in der Regel Menschen mit antisozialen Verhaltensweisen, die im Interesse der Gruppe kontrolliert werden müssen.

      Das Wort Ritual wird etymologisch auf Lateinisch ritualis zurückgeführt (Dücker 2007). Der Terminus des Rituals ist in der abendländischen Kultur ein verbindlich festgelegter Begriff, der in lateinischer Form im religiösen Bereich für symbolisches Handeln steht. Besonders bekannt war er in allen katholischen Ländern durch seinen Einsatz als Überschrift einer kirchenrechtlich verbindlichen Regelsammlung Rituale romanum von 1614 (Flores Arcas & Sodi 2004). Rituale werden von Ritualwissenschaftlern erforscht, die die deskriptiven und funktionalen Merkmale zusammenstellen. Dazu gehört zuerst die Sequenzierung, d. h. der gesamte rituelle Prozess wird in Makro- und Mikrorituale aufgeschlüsselt. Durch ein starres Ablaufschema, das an die jeweiligen Gegebenheiten angepasst werden kann, entsteht eine Stereotypie. Sprechhandlungen in feststehenden Wendungen, z. B. Gebete, geben dem Ritual die gewollte Formalität. Durch die Reduktion von Komplexität und die Verdichtung insbesondere auch durch Redundanz wird das Ritual auf eine einzige Wertekategorie festgelegt und der Einzelne darauf eingeschworen. Das rituelle Bewusstsein wird durch die Feierlichkeit unterstützt, die wiederum durch die Wahl des Ortes und der Kleidung bedient wird. Indem die rituellen Handlungen immer wieder aus den gleichen Anlässen wiederholt werden, werden die Rituale repetitiv eingeschliffen und jedes Individuum lernt diese so kennen und auch sich daran zu halten. Rituale müssen, wenn sie wirksam sein sollen, öffentlich und jedem zugänglich sein. Die dramatische Struktur eines Rituals und die Teilnahme aller in einer Gruppe mit den dazugehörigen Rollen bedingt eine Zugehörigkeit zur Gruppe. Rituale sind grundsätzlich selbstreferentiell, denn sie werden von Teilnehmern für die Teilnehmer inszeniert und gelten sowohl für die, die Rituale vollziehen und für die, die diese inszenieren. Zusammengefasst haben Rituale auch eine ästhetische