Eugen E. Hüsler

Auf alten Kriegspfaden und -steigen durch die Dolomiten


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die Sicherheit suggeriert, einen Teil ihres Schreckens verlieren: Gewöhnung. Wie sonst soll man sich erklären, dass unsere Kinder begeistert »Krieg spielen«, Stunden am PC verbringen, um ihr Geschick im (virtuellen) Töten zu perfektionieren?

      Der Erste Weltkrieg (1914–18) dagegen fand mitten in Europa statt; die Entfernung ist hier keine räumliche, sondern eine zeitliche. Gut ein Jahrhundert ist vergangen, und das Bild verschwimmt, auch weil es von jenem der zweiten, noch ungleich globaleren Kriegskatastrophe überlagert wird. Zeitzeugen leben keine mehr, mehr als hundert Jahre nach dem Attentat von Sarajevo. Europa ist zu einer Gemeinschaft geworden, die vom Atlantik bis ins Baltikum reicht, und die Enkel der Kaiserjäger, der Standschützen, verbringen ihren Urlaub in Italien.

      Deutsche und Österreicher fahren gerne nach Südtirol, in die Dolomiten oder an den Gardasee. Und da begegnen sie heute noch den Relikten jenes Krieges, jener »unmöglichen« Front quer durch die Ostalpen: in den Sextener Dolomiten, im Cristallomassiv, an der Marmolada, auf der Hochebene von Lavarone, am Pasubio und anderswo.

      Aus der Historie lernen. Ein viel zitierter Satz, den die Realität unserer Tage auch gleich wieder ad absurdum führt. Wer die steinerne Front zwischen der Donaumonarchie und Italien besucht, sich dabei informiert über geschichtliche Zusammenhänge, kommt dem unfassbaren Schrecken ein Stück weit näher: Geschichtsstunde unter freiem Himmel und dazu noch in einer der faszinierendsten Bergregionen der Welt. Trotzdem bleibt der Schrecken unbegreiflich fern, ist das tausendfache Sterben eine nicht wirklich nachvollziehbare Tatsache, bei allem Mitgefühl für jene, die den Krieg als Befehlsempfänger erlitten, manche verblendet von der heimischen Propaganda (auch das gab es damals schon), andere naiv in ihrem Glauben an »Gott und den Kaiser«.

      Da wirkt der Zauber der Dolomiten wie eine stille Mahnung der Natur (der Schöpfung?), die nur heißen kann: »Nie wieder!«

      Dietramszell, im Frühling 2021

      Eugen E. Hüsler

       Ein historischer Abriss

       »Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.«

      Carl von Clausewitz

      Europa vor dem KriegsausbruchBereits lange vor dem Ausbruch des Krieges war der alte Kontinent zu eng geworden für Europas Autokraten. Der Union Jack flatterte über dem Suezkanal und in Indien; Belgien plünderte den Kongo, in Südwestafrika (heute Namibia) kämpften deutsche Soldaten die Herero nieder. Die Zeiten änderten sich rasend schnell: Auf den Weltmeeren waren keine Dreimaster mehr unterwegs, sondern gepanzerte, mit Dampf betriebene Schlachtschiffe, und ein immer dichteres Eisenbahnnetz verkürzte auf dem Land Reisewege für Mensch und Material. Ein Jahrzehnt nach der Erfindung der Brüder Wright war die Eroberung des Luftraums bereits eingeleitet – auch militärisch.

      Aus Agrarstaaten wurden Industrienationen, aus Dörfern Städte und Bauern zu Proletariern. Das zerfallende Osmanische Reich hinterließ im Südosten Europas ein Machtvakuum; auf dem Balkan entstand als Folge ein militanter Nationalismus mit Serbien an der Spitze. Italiens junge Monarchie hatte sich die »Befreiung unerlöster Volkstumsgebiete« auf ihre Fahne geschrieben, was in der Donaumonarchie zu erheblichen Irritationen führte. Koalitionen und Interessenskonflikte allenthalben: hier die Entente cordiale, das Bündnis Frankreichs mit Großbritannien, dem das Zarenreich 1907 beitrat; dort der Dreibund, angeführt vom aufstrebenden Deutschland, dessen Kaiser Wilhelm II., nachdem er sich Bismarcks entledigt hatte, eine aggressive Außenpolitik betrieb. Auf dem Thron in Wien saß ein alter Mann, von vielen persönlichen Tragödien gezeichnet, Regent eines Vielvölkerstaates, der im Osten bis zur russischen Grenze reichte. Expansionsgelüste bestimmten allenthalben das politische Handeln, auch um den Preis regionaler militärischer Auseinandersetzungen, vor allem auf dem Balkan. Dass die Donaumonarchie 1908 Bosnien-Herzegowina annektierte in der Absicht, den russischen Einfluss auf dem Balkan einzudämmen, löste eine schwere politische Krise aus, erwies sich auch als belastend für die Beziehung zwischen Slawen und Deutschösterreichern innerhalb der k. u. k. Monarchie. So entbehrt es nicht einer gewissen Logik, dass gerade in Sarajevo jene Schüsse fielen, die letztlich den Ersten Weltkrieg auslösten, der in vier Jahren rund zehn Millionen Menschen das Leben kostete und halb Europa verheerte.

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       Im Ersten Weltkrieg wurden erstmals in großem Stil technische Geräte eingesetzt. Als besonders wirkungsvoll erwies sich das Maschinengewehr (Museum Tre Sassi).

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       Grandiose Kulisse schrecklicher Ereignisse: die Pala-Nordkette, gesehen aus einem Stollenloch am Costabela-Frontabschnitt (Tour 23)

      Krieg!Auf Drängen des deutschen Kaisers erklärte Franz Joseph am 28. Juli 1914 Serbien den Krieg, was die Mobilmachung in Frankreich und Russland nach sich zog. Noch aber schien Hoffnung zu bestehen, dass ein Krieg auf dem Balkan nicht zum europäischen Flächenbrand würde. Doch das Kriegskarussell drehte sich bereits, die Armeen marschierten auf, im Osten und im Westen des Kontinents. Am 1. August erklärte Wilhelm II. dem Zaren den Krieg, zwei Tage danach auch Frankreich. Damit wurde der wichtigste Bündnispartner der Grande Nation, das britische Königreich, als Mitglied der Entente automatisch Kriegspartei. Auf der anderen Seite blieb Italien neutral, es trat – obwohl Mitglied des Dreibundes – sogar ein in Geheimverhandlungen mit den Alliierten.

      Europa brannte. Im Westen kam es an der Marne zur ersten großen Feldschlacht, die mit einer Niederlage Deutschlands endete, im Osten erlitten die Truppen der Donaumonarchie bei Lemberg eine schwere Niederlage gegen die Russen, und auch die Eroberung von Belgrad mündete in ein Fiasko.

      »Nieder mit dem Parlament!«In Italien gewannen die Interventisti, die den Kriegseintritt des Landes an der Seite der Entente befürworteten, an Einfluss. In der Zeitung Il Popolo d’Italia (Das Volk Italiens) hetzte Benito Mussolini, der zuvor wegen seiner Kriegstreiberei aus der Sozialistischen Partei ausgeschlossen worden war, gegen die Neutralität des Landes. Einen Kriegseintritt befürwortete auch der Schriftsteller Gabriele D’Annunzio, später eine der Leitfiguren des italienischen Faschismus. Deutschland bemühte sich um eine Übereinkunft mit Italien, doch der dritte im wackeligen Bündnis, Österreich-Ungarn – und hier vor allem die Heeresführung –, sperrte sich kategorisch dagegen, das Trentino und Julisch-Venetien abzutreten. Die Folge: Im April 1915 unterzeichnete der Außenminister in London ein Abkommen, das Italien im Falle eines Kriegseintritts die Brennergrenze garantierte. Am 23. Mai erklärte Italien der Donaumonarchie den Krieg. Oberbefehlshaber des italienischen Heeres war seit 1914 Luigi Cadorna; er verfügte über 35 Divisionen, die er gegen die k. u. k. Truppen ins Feld führen konnte: eine erdrückende Übermacht.

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       Obskure Hinterlassenschaft, ausgestellt in Reinhold Messners besuchenswertem »Museum in den Wolken« auf dem Monte Rite (Tour 2)

      Standschützen und das AlpenkorpsDie besten Einheiten Österreichs standen fernab der Heimat an der Ostfront, wo sie im ersten Kriegsjahr bereits schwere Verluste erlitten hatten. Als letztes Aufgebot blieben in Tirol nur die Standschützen, deren Tradition bis ins 14. Jahrhundert zurückreicht und die schon unter Andreas Hofer am Bergisel gegen die Franzosen gekämpft hatten. Überall im Land meldeten sich Freiwillige zur Verteidigung der Heimat. Die Jüngsten waren eigentlich noch Kinder, 15 Jahre alt vielleicht, der älteste Standschütze – über achtzig! – versah seinen Dienst an der Ortlerfront.

      Diese bunt zusammengewürfelte Truppe – knapp 40 000 Mann – war militärisch kaum zu organisieren; es fehlte an fast allem, nur an einem nicht: dem unbedingten Willen, das Beste zu geben. Trotzdem hätten die Standschützen dem italienischen Ansturm kaum standhalten können, wären nicht bereits im Mai 1915 Einheiten des Deutschen