Heiner Feldhoff

Westerwälder Köpfe


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– nicht nur zeitgemäße correctness lässt dies sogleich ergänzen, tatsächlich kann sich der Frauenanteil von 30 Prozent durchaus sehen lassen. Birgt aber der geschlechtsneutrale Buchtitel nicht die Gefahr, eine allzu intellektuelle Sortierung anzukündigen? Keine Sorge, hier werden nicht nur Hochkultivierte, durch kulturelle Glanzleistungen Aufgefallene vorgestellt, nicht nur Künstler, Schriftsteller, Adlige, Kirchengrößen, sondern auch Boxer, Schäfer und Koch. Umgekehrt war es August Sander, der zum Ausdruck gebracht hat, dass es nicht den geringsten Grund dafür gibt, auf »nur« volksschulisch Gebildete hochmütig herabzublicken, wenn er einfache, lebenserfahrene Bauersleute fotografiert und mit dem Titel versieht: »Der Philosoph«, »Die Philosophin«; ein alter Hirte wird ihm zum »Weisen«, Menschen, die offenkundig, mehr als mancher Studierter, etwas verstanden haben vom Werden und Vergehen, von der Mühsal tagaus, tagein, geprägt auch von der Gottesfurcht, vom Immergleichen im Wandel der Zeiten, von der Stille des Landes.

      für die Abfolge entschieden wir uns gegen die Chronologie; die Anordnung nach dem Alphabet schafft neue überraschende Begegnungen, so stellt sie den Gewerkschafter neben den Unternehmer, den Koch neben den Wirtshaussohn, den ausschweifenden Maler neben die keusche Selige, Raiffeisen und Sander, die beiden Berühmtesten, stehen beieinander, mittendrin Mechthild von Sayn, unsere Älteste, aus dem 13. Jahrhundert.

      Das Verfassen dieser Kurzbiographien war stets begleitet von einem gewissen Schuldbewusstsein, so viele Menschenleben in jeweils kaum mehr als tausend Worten einzufangen und möglicherweise, auch wenn das jeweilige Leben geglückt schien, es posthum doch noch zu verpfuschen, so lückenhaft, so verknappt, so fragmentarisch, wie es hier nur dargestellt werden konnte, bei aller Sorgfalt der Recherche. Aber unsere Lebensbilder verstehen sich als Einladungen an den Leser, den Spuren jener verehrten Westerwälder weiter nachzugehen, deren Lebensleistung bis heute Früchte trägt und die Nachgeborenen berührt, animiert, aufregt.

      Bisweilen, so erging es mir nach langer Beschäftigung mit diesen ganz Anderen, schienen einige von ihnen auf einmal ihr Anderssein zu verlieren und wurden mir zeitweilig zum Bruder, zur Schwester, andere blieben fremd und fern und rätselhaft. Jedenfalls mag ein solches Festhalten in Bild und Wort ein wenig dazu beitragen, dass, umtost von der schönen neuen, immer erreichbaren medialen Präsenz, die Erinnerungsfähigkeit des wachsamen Einzelnen gestärkt wird, konkret im Blick auf unsere Westerwälder Köpfe in Geschichte und Gegenwart, und nicht nur auf Köpfe, denn auch die Hände sind beteiligt, die Fäuste gar, die Beine, nicht zu vergessen das Herz. Was sie alle, fast alle eint: sie wollen ins Öffentliche, sie wollen wirken, verändern, wollen Erfolg, gänzlich selbstlos die wenigsten, auch die Frömmsten nicht, denen es zumindest um einen Schatz im Himmel geht; Ika, Erwin, Annegret, Johannes, Carmen, Paul, sie alle tragen das, was sie befähigt und beseelt, zu Markte: ihre Kunst, ihr Denken, ihren Witz, ihre Mission.

      Hervorragende Westerwälder Köpfe gibt es, wir sagten es, nicht wenige. Ein besonderer sei hier noch zum Schluss erwähnt: der Beulskopf bei Altenkirchen. Wer dort auf den Raiffeisenturm hinaufsteigt und sich ganz oben, weit ins Land hinausblickend, in den Wäller Wind stellt, den ergreift vielleicht jener Schwindel, bei welchem er nicht mehr recht zu entscheiden vermag, ob das, was ihn da umweht, noch Naturgeräusch ist oder schon Geisteshauch. Immer muss man sich erst um ein weniges aus dem Alltag erheben und den eigenen Kopf hinhalten. Um den überblick zu gewinnen. Sei es auch zwischen zwei Buchdeckeln.

      HF

      Wer wohl auch in diese Sammlung gepasst hätte:

       Johann Peter Altgeld, der Gouverneur von Illinois; die Maler Karl Bruchhäuser, Robert Schuppner und Alois Stettner; der virtuose Bratschist Wolfram Christ, der Pianist Martin Stadtfeld und die Akkordeonistin Eva Zöllner, natürlich der Kabarettist Matthias Deutschmann; die historische Unternehmerpersönlichkeit Carl Johann Freudenberg und aus der Jetztzeit Ralph Dommermuth, Internet-Unternehmer, der Top-Manager Thomas Enders oder Joachim Fuhrländer, Apostel der Windräder: welche Karrieren! Dazu der »Holzpellet-Mann« Markus Mann und Willi H. Grün, Finanzjournalist – und Heimaterzähler. Aus der Welt des Sports ein Rudi Gutendorf oder Jutta Heine, Silbermedaillengewinnerin von Rom, Peter Hermann, Fußballprofi und Trainer bei Spitzenvereinen, Artur Knautz, Feldhandball-Nationalspieler. Dazu gehören auch: Hermann Graf Hatzfeldt, Schlossbesitzer und Hüter des Waldes, der Widerstandskämpfer Franz Leuninger, der Evangelist Anton Schulte, Friedrich Muck-Lamberty, furioser Lebensreformer. Dann die Schriftsteller Karl Ramseger-Mühle und Wilhelm Reuter, Hans-Christian Kirsch, der Erzähler für junge Menschen, der Bestseller-Autor Klaus-Peter Wolf und die Dichterin Maria Homscheid. Zudem Barbara Rudnik, die herbschöne Schauspielerin, oder Heinrich Roth, Landrat und Gegner des Hitler-Regimes, Hermann Josef Roth, der Kulturhistoriker der Region. Gewiss auch Wilhelm von Nassau-Dillenburg, hochadliger Kämpfer für die Freiheit der Oranjes, sowie die Verleger-Legende Klaus Wagenbach. Und nicht zuletzt der preußische Staatsreformer Karl Freiherr vom Stein.

       Der Westerwald – immer wieder bewirkt er biografische Wunder …

      Carl Gneist

      Wir kamen, blieben und sind noch da …

      Der eine im Herzen des Ruhrpotts aufgewachsen. Der andere, in Berlin geboren, verbrachte seine Kindheit und Jugend in der Lüneburger Heide – wie konnten gerade die beiden Autoren Feldhoff und Gneist es wagen, die Geschichten bekannter Westerwälder Persönlichkeiten zu erzählen? Die einfache und auf der Hand liegende Antwort: Oft braucht es den unbestechlichen Blick von außen, um die Binnenwelt in ihrer Eigenart zu erkennen. Die hintergründige Antwort: Wir beide sind hierher gekommen und nicht mehr fortgegangen. Damit haben wir uns ganz unspektakulär zu dieser Landschaft und ihren Menschen bekannt. Mag sein, dass es woanders schöner und aufregender ist. Aber hier lässt sich auch leben, ohne zu verkümmern. Im Gegenteil: Der Westerwald ist eine Welt für sich, in der Menschen zu sich selbst kommen können – auch durch seine Ruhe.

      Dableiben

      Jede Kultur, besonders eine regionale, braucht einen abgegrenzten Raum und Menschen, die ihn bevölkern und dort bleiben für lange Zeit. Nur dann können sie in der langwierigen Auseinandersetzung mit den landschaftlichen Gegebenheiten besondere Techniken des überlebens, des Anbauens und Bauens und ihre besondere Sprache, den Dialekt, entwickeln, die alle Errungenschaften und Traditionen spiegelt und weitergibt.

      Das Wort »Kultur« kommt von dem vieldeutigen lateinischen Verb »colere« = bebauen, pflegen, verehren. Die Römer bezeichneten mit dem Wort also die Bearbeitung des Bodens, das Errichten von Bauten aller Art, das Bewahren der Kenntnisse, Fähigkeiten, Sitten und schließlich den Dank an übergeordnete, hilfreiche Mächte, unter deren Schutz sie sich stellten. Das alles zusammengenommen ergab in den verschiedenen Regionen z. B. unseres Kontinents über die Jahrhunderte das Italienische, das Französische, das Deutsche usw. Und innerhalb der nationalen Kulturgruppierungen entwickelten sich regionale Lebenswelten, in die heute Touristen für eine Zeitlang eintauchen möchten: in die Provence, die Toskana, die Masuren, in den Schwarzwald.

      Der Westerwald wurde allerdings lange nicht als Kulturlandschaft und Reiseziel wahrgenommen, als ab dem 19. Jh. mit der Eisenbahn der Massentourismus begann. Er blieb abgelegen. Schon zu Beginn des 20. Jh. versuchte deshalb Leo Sternberg – einer der von uns Porträtierten –, auf die landschaftliche Schönheit und die kulturelle Besonderheit der Gegend aufmerksam zu machen mit dem weithin beachteten Buch »Der Westerwald«. Später bekam diese Region eine zweifelhafte Berühmtheit, als deutsche Soldaten mit »O du schöhöhöner Wehehesterwald« durch Europa marschierten.

      Gibt es in diesem Archiv von Lebensläufen bedeutsamer Menschen, die dem Westerwald entsprangen oder hierher kamen, etwas spezifisch Westerwäldisches zu entdecken?

      Einst war es August Sander gelungen, in seinen Fotografien der Bauern und Arbeiter die besondere Physiognomie dieser Landschaft sichtbar zu machen. Ihre Gesichter und ihre Körper sind gezeichnet vom Ringen mit harten Existenzbedingungen. Jeder dieser Charaktere hätte eine eigene Biografie verdient. Es sind ja immer die Dagebliebenen als die ersten, die die Grundlagen für alles Spätere schaffen. In ihren eindrucksvollen »Westerwälder Köpfen« mit den tief eingekerbten Zügen ist aber auch schon die Gefahr der Versteinerung zu erahnen, wenn Menschen sich notgedrungen an ihrer engen Welt festklammern oder sich allzu