Fortgehen
Die Menschen dieser Landschaft krallten sich nicht auf Teufel komm raus an ihre Scholle. Immer wenn die Not es verlangte oder die Abenteuerlust sie überkam, sind sie fortgezogen in die weite Welt – wie es so manche der Biografien in diesem Buch beweist.
»Jetzt ist die Zeit und Stunde da,
wir fahren nach Amerika.
Die Wagen stehn schon vor der Tür,
mit Weib und Kind marschieren wir!«
Dieses Auswandererlied des 19. Jahrhunderts haben viele Wäller gesungen. Manchmal ging sogar ein ganzes Dorf nach Amerika, ließ seine Häuser, seine Äcker und seine Geschichte hinter sich.
Nein, die Westerwälder sind keine Hinterwäld(l)er. Sie waren nie bedroht von sprachlicher, kultureller, genetischer Inzucht wie abgeschlossene Alpentäler. Dafür ist ihre Region zu offen und wird durchzogen von vielerlei Fließgewässern und Einflüssen und grenzt an den europäischen Strom, den Rhein. Ihr eigentümlicher, schwer nachzuahmender Dialekt ist eine besondere Melange aus den benachbarten Sprachgebieten, denn die Menschen überschritten oft genug nach allen Seiten den Rhein, die Lahn, die Sieg und die Dill.
Die von uns Ausgewählten sind von diesem Austausch mit der Welt unterschiedlich geprägt: Der Boxer Hussing zum Beispiel wurde geboren, lebte und starb in seinem Dorf Brachbach, kämpfte aber in vielen Ländern; der Bildhauer Wortelkamp kehrte nach Jahren in der Fremde in seine Heimat zurück, um hier sich und sein Werk zur Reife zu bringen; der Regisseur Piscator schleppte sein altes Westerwälder Autokennzeichen bis nach New York mit …
Menschen in ihrer Zeit
über das besondere Individuelle hinaus repräsentieren die ausgesuchten Lebensläufe auch – oft zu unserer eigenen überraschung – geradezu exemplarisch ihre historische Zeit, die gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen. Prinz Maximilian zu Wied zum Beispiel untersuchte fremde Völker mit dem vorurteilsfreien, aufklärerischen Geist des Forschungsreisenden à la Humboldt und trauerte gleichzeitig über den Niedergang der traditionellen Adelsherrschaft in seiner deutschen Heimat nach 1848. Édouard Baldus flüchtete aus dem Dorf Grünebach nach Paris und ließ sich von der Welle der industriellen Revolution und der Erfindung der Photographie mitreißen. Willy Korf aus Hamm an der Sieg, der Star der Stahlindustrie in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts, personifizierte einen global orientierten Unternehmungsgeist und musste schließlich erleben, wie gerade sein Typus des ideenreichen Unternehmers mit Privathaftung durch die Global Players verdrängt wurde. Der Gewerkschaftler und Pazifist Hermann Kempf saß in allen vier deutschen Staaten des 20. Jahrhunderts im Gefängnis …
Die Unbekannten
Vor Jahren hatte der Dramatiker Heiner Müller die Idee, ein deutsches Museum zu gründen, in dem das Leben von Unbekannten ausgestellt wird. Per Losverfahren ausgewählte Deutsche sollten in je einer Box ihre Existenz dokumentieren mit Fotografien, überbleibseln wie Strampelanzug, alten Turnschuhen, Autokennzeichen, Briefen und Tagebüchern, Schulzeugnissen usw. Die Museumsbesucher sollten einen tiefen Einblick haben in das besondere Leben aller Einzelnen.
Dieser schöne Gedanke steht hinter unserer Sammlung von Biografien bedeutsamer Westerwälder. Die von uns ausgewählten, namhaften Menschen stehen für all jene anderen nicht prominenten aus diesem Erdenwinkel, die hier gelebt, geliebt und gelitten, gearbeitet und Feste gefeiert haben – für alle Unbekannten also, deren Leben genauso unwiederholbar ist wie das der Berühmten, und für ihre Angehörigen und Freunde ebenso kostbar und einzigartig.
CG
Édouard Baldus, 1813-1885, Photograph, Grünebach
Vom Geldfälscher zum Photographen der Grande Nation
Wie eigentümlich! Demselben unscheinbaren Landschaftswinkel entstammen gleich zwei geniale Künstler, beide Weltmeister ihres Faches, der Photographie! Neben August Sander ist nun endlich auch der große Andere zu nennen: Édouard Baldus, der allerdings nicht so ohne weiteres von den Westerwäldern zu vereinnahmen ist. Die Franzosen sehen ihn nämlich als einen der Ihren an, zu Recht, denn er hat später nicht nur ihre Nationalität angenommen, sondern ist buchstäblich zu einem der bedeutendsten Repräsentanten seines neuen Vaterlandes aufgestiegen.
In Grünebach, einem Weiler im Hellertal im Kirchspiel Siegen, kommt als zweites Kind von Johann Peter und Elisabeth Baldus am 5. Juni 1813 ihr Sohn Eduard zur Welt. Zunächst noch zu Nassau gehörig, gelangt seine von Landwirtschaft und Eisenverhüttung geprägte Heimat zwei Jahre später an Preußen. Der Junge wächst in schlichten katholischen Verhältnissen auf und dient schon früh als Soldat bei der preußischen Artillerie in Köln. Doch dann nimmt er seinen Abschied vom Militär, offensichtlich hat er sein besonderes Talent bei der Handhabung neuester Drucktechniken entdeckt. Die nächste urkundlich überlieferte Erwähnung ist eine höchst unrühmliche, erst in jüngster Zeit von Peter Lindlein aus Betzdorf aufgedeckt: 1835 wird der »vormalige Bombardier Eduard Baldus« steckbrieflich in der Rheinprovinz gesucht, als Krimineller, der vom Staat ausgegebene Kassenanweisungen gefälscht hat. Ein lebensgefährliches Risiko, schlimmstenfalls droht ihm nach damaligem Recht die Todesstrafe.
Steckbrief in der preußischen Rheinprovinz, 1835
Der 21-jährige Grünebacher verduftet ins Ausland. 1838 taucht er als Kunststudent in Paris auf, mit einem fingierten Lebenslauf als Maler amerikanischer Herkunft, er ändert sein Geburtsdatum und schreibt sich gemäß französischer Aussprache Édouard. Zehn Jahre lang reicht er beim Pariser Kunstsalon seine Gemälde ein, letztlich ohne Resonanz. Privat ist er erfolgreicher: er heiratet die begüterte Elisabeth-Caroline Étienne und hat mit ihr drei Kinder. Da kommt ihm im Zweiten Kaiserreich unter Napoleon III. der zivilisatorische und technische Fortschritt zu Hilfe: Paris wird nach Plänen des Barons Haussmann zur modernen Metropole umgestaltet. Die engen Viertel der einfachen Leute werden abgerissen, neue breite Boulevards ermöglichen einen zügigeren Straßenverkehr, bieten dem Second Empire mehr Schutz vor revolutionären Barrikadenkämpfen, aber auch, stadtästhetisch im wahrsten Sinne weitsichtig, imposante Durchblicke, z.B. auf den Arc de Triomphe oder die Oper. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich in Frankreich über Hippolyte Bayard, Louis Daguerre und andere Pioniere die neue Kunst der photographischen Ablichtung entwickelt, welcher sich der wendige und erfinderische Baldus nun mit aller Energie widmet: Er experimentiert, inzwischen Steckbrief in der preußischen Rheinprovinz, 1835 Gründungsmitglied der Pariser »Héliographischen Gesellschaft«, mit Salzpapier- bzw. Glasnegativen, später dann mit Kollodium-Nassplatten, seinem eigenen Heliogravüre-Verfahren, er weiß zu retuschieren und mehrere Negative zu einem Panoramabild zusammenzufügen. 1851 beauftragt ihn die Kommission für Denkmalspflege, historische Baudenkmäler zu photographieren, nicht nur in der Hauptstadt und Fontainebleau, sondern in ganz Frankreich, so in Burgund, in der Auvergne und im Midi. Seine Schwarz-Weiß-Bilder mit ihrer klassisch-ausgewogenen Sichtweise zeichnen sich durch eine ungewöhnliche Klarheit und Präzision aus, so dass sich sein Auftrag schon bald über das dokumentarische Festhalten der alten Bauwerke erweitert auf die Monumente des Fortschritts, wie Aquädukte, Bahnhöfe, Hafenanlagen.
Pont du Gard, 1861
Auf der Weltausstellung 1855 finden die Bilder seiner »Mission Héliographique « viele Bewunderer. Der Bankier James de Rothschild, Eigentümer der französischen Nordbahn, beauftragt ihn, ein Photoalbum von der Eisenbahnstrecke Paris-Boulogne zusammenzustellen, 50 Aufnahmen in einem Prachtexemplar, das Rothschild der Queen Victoria bei ihrem Besuch Pont du Gard, 1861 der Weltausstellung überreicht. Ein weiterer, ungleich umfänglicher Staatsauftrag wird ihm zuteil: Baldus dokumentiert mit mehr als 2000 Photographien den Neubau des Louvre.
Arc