Heiner Feldhoff

Westerwälder Köpfe


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zur Hand. Paul Deussen, durchaus klischeehaft sich vorzustellen als wilhelminischer Professor mit Schlapphut und Gehrock, weißem Bart und Goldbrille: ein Geistessouverän, alle Barbarei und Gewalttätigkeit verabscheuend, also auch den Ersten Weltkrieg: ein Pionier als übersetzer heiliger Hindu-Schriften, ein global philosopher, dessen Stimme im heutigen interreligiösen Diskurs weiterhin Gehör verdient. Sein Werk war z. B. für Hesse, Gandhi, Max Beckmann, Jorge Luis Borges oder Erwin Schrödinger Quelle und Anregung. Ja, es ist ungemein lohnenswert, sich mit dem Denk- und Lebensweg dieses Westerwälders zu beschäftigen, der, vom Dorfe kommend, auszog, im Weltdorf die metaphysische Vielfalt zu studieren, beseelt von der Ahnung ihrer geheimen Einheit, bestrebt, nationale und religiöse Enge zu überwinden.

      HF

      E i n e n Nutzen wird das allgemeinere Bekanntwerden der indischen Weltanschauung doch haben, diesen nämlich: uns zum Bewußtsein zu bringen, daß wir mit unserm gesamten religiösen und philosophischen Denken in einer kolossalen Einseitigkeit stecken, und daß es noch eine ganz andere Art, die Dinge anzufassen, geben kann.

       Paul Deussen

      Denken mit Deussen

      Die schöne Ruhe in den Deussen-Schriften, der seine Gedanken am liebsten laut vortrug, vor großem Publikum. Bei Nietzsche hat man in aller Lesestille den Eindruck, angeschrien zu werden.

      Der Tod schien ergeben gewartet zu haben, bis Deussen mit seiner Philosophiegeschichte von den Ursprüngen übers Mittelalter in der Neuzeit, vom Orient wieder im heimischen Okzident angelangt war.

      Die verblüffende Ähnlichkeit des Steinblocks bei Surlej im Engadin, wo Nietzsche 1881 sein mystisches Erlebnis der Ewigen Wiederkunft hatte, mit dem Beilstein bei Oberdreis im Westerwald, in dessen Nähe dem jungen Deussen 1868 urplötzlich das unwandelbare Eine im Schein der Vielheit aufleuchtete. Deussens Basaltbrocken, Nietzsches Granitfels – »große, leise sprechende Natur«.

      Neben dem Beilstein gibt es in Oberdreis ein zweites Naturdenkmal: eine uralte Eibe. Auch Nietzsche wird sie bei seinem Aufenthalt in Oberdreis gesehen haben. Seither ist im Ort die Redewendung geläufig: Wenn du zur Eibe gehst, vergiß den Nietzsche nicht.

      Nietzsche, der Un-Freund, der fortwährend Bedingungen stellte. Deussen war im Grunde mit allen Menschen gut Freund, nur mit einem nicht, mit Nietzsche. Nietzsche gekannt, erduldet, überstanden zu haben – eine Lebensleistung an sich.

      Deussens Fahrt in Eilzügen durch Indiens Nächte, als trüge es ihn beinahe schon außerhalb von Raum und Zeit an das Ziel der immerwährenden Wahrheit; die moderne Beschleunigung als metaphysische Hilfe, und keine Pferde-, Kuh-, Elefantenstärke.

      Immer wieder lugt aus den Schriften Deussens der lustige Paul hervor, so wenn er im Index die Heiligen Wahrheiten zwischen Hasenhorn und Heuhund plaziert, Frauen, mehrere erlaubt, die Tänzerin weit, weit vor dem Tod auftreten läßt, dann aber festhält: Weiber ausgeschlossen.

      … »etwas so völlig Sinnloses und daher gerade besonders Geeignetes wie die Silbe Om …«

      Aus: Heiner Feldhoff, Paul Deussen und ich, Nachträge aus Oberdreis. 2011

      Der malende Messias

      Er war ein charismatischer Mensch, der niemanden kalt ließ, der ihm begegnete. Die einen verehrten ihn als visionären Maler und Messias einer Naturreligion, die anderen verhöhnten ihn als Kohlrabi-Apostel. Das Leben des Künstlers Diefenbach war ein ständiger Kampf mit der erstarrten Bürgerlichkeit der Jahrhundertwende, mit seinen widersprüchlichen Triebkräften und seinen vielen Krankheiten.

      In Hadamar, am Rande des südlichen Westerwalds, wird er am 21. Februar 1851 in eine arme, sehr religiöse Familie hineingeboren. Vom Vater, Zeichenlehrer am Gymnasium, erbt er die künstlerische Begabung, aber auch die Anfälligkeit für Krankheiten. Und die fürsorgliche Mutter hinterlässt ihm seine lebenslange Sehnsucht nach einer hingebungsvollen Frau, die »wie Wachs mich umfließt«. Vom Wunsch beseelt, Maler zu werden, bricht er die Schule ab, schlägt sich als Gehilfe eines Fotografen durch, bis er es an die Kunstakademie in München schafft. Als seine Eltern 1875 kurz hintereinander sterben und er in lähmende Trauer verfällt, kritisiert ihn der Herzog von Nassau, der sein begabtes Landeskind mit Aufträgen und Stipendien fördert, er solle sich mehr um seine Entwicklung als Künstler sorgen. Stolz antwortet Diefenbach: »Hoheit, meine Aufgabe ist es in erster Linie, Mensch zu sein.«

      An der Akademie werden seine Gemälde, die von der mystisch-symbolischen Kunst Franz von Stucks und den Historienschinken von Piloty beeinflusst sind, durchaus anerkannt. Jedoch wird seine Ausbildung unterbrochen durch eine schwere Typhus-Erkrankung, die wegen eines ärztlichen Fehlers schließlich zum Verlust großer Teile der Muskulatur des rechten Armes führt. Die andauernde Vereiterung heilt er 1878 durch eine wochenlange Traubenkur in Italien. Das ist das Schlüsselerlebnis für seine Lebensreform! Vier Jahre später gründet er in München den Verein »Menschheit«, der das Programm einer neuen natürlichen Lebensweise vertritt: Radikaler Verzicht auf Fleisch, Alkohol, Koffein und Tabak – und das mitten im Eldorado der Schweinshaxen und des Bieres. Gegen die Fischbeinkorsetts für Damen, die ihren Brustkorb verformen, und die steifen Kragen für Herren, sogenannte »Vatermörder«, propagiert er eine leichte wollene Kleidung für beide Geschlechter in der Art einer Mönchskutte. Langhaarig und mit wildwachsendem Bart wandelt er prophetengleich durch München und hält in großen Sälen gut besuchte Vorträge darüber, wie der Mensch leben sollte. Dazu gehört vor allem auch eine Abkehr von den christlichen Religionen mitsamt ihrer rigiden Sexualmoral.

      Sein eigenes Verhalten erscheint dabei allerdings ethisch fragwürdig. Zunächst geht er eine Liebesbeziehung mit Maximiliane Schlotthauer ein, die er beim Schlittschuhlaufen kennen lernt, trennt sich aber von ihr, weil sie ihm ein uneheliches Kind aus einer früheren Beziehung verheimlichte. Doch lässt er sie nie ganz los, denn immer wieder ruft er seine »Maja« zu sich, wenn es ihm dreckig geht. Parallel zu dieser Affäre hat sich ihm Margarete Atzinger als Krankenpflegerin so weit genähert, dass sie von ihm schwanger wird und 1880 den Sohn Helios zur Welt bringt. Durch seelische Erpressung gelingt es ihr, ihn in eine – wie sich später erweisen wird – Ehehölle zu drängen. Am Tag nach der Hochzeit flieht Diefenbach auf den Hohenpeißenberg in die Einsamkeit. Beim Anblick der aufgehenden Sonne und der erleuchteten Kette von Alpengipfeln widerfährt ihm dort ein Erweckungserlebnis: »Erkenne, Menschheit, deine Mutter, die NATUR, die rein und frei als höchstes Wesen dich geboren…«

      Dass immer mehr junge Männer und Frauen diesem faszinierenden Guru am Kuttenzipfel und, wenn weiblich, an den Lippen hängen, reizt das Münchner Bürgertum und die Obrigkeit ungemein. Auf der Straße wird ihm »Orang-Utan« und »Kohlrabi-Apostel« nachgerufen, seine Vorträge werden verboten, und die Presse feindet ihn an. Vor diesen Angriffen zieht sich Diefenbach mit Familie und Gefolgschaft in einen Steinbruch bei Höllriegelskreuth zurück und gründet in einem verlassenen Arbeiterhaus seine erste Kommune: HUMANITAS, Werkstätte für Religion, Kunst, Wissenschaft.

      Hier stößt als Malschüler der junge Hugo Höppener zu ihm, den Diefenbach »Fidus«, der Getreue, nennt, ein Künstlername, mit dem Höppener später als Jugendstil-Maler bekannt wird. Fidus hilft seinem oft bettlägerigen »Meister«, das große Gemälde »Kindermusik« zu vollenden, später unter dem Titel »Per aspera ad astra« berühmt geworden, ein Fries von 68 Metern Länge, der heute im Schlossmuseum Hadamar zu bestaunen ist.

      »Per aspera ad astra« (Eine Tafel des Frieses, aufgenommen im Schlossmuseum Hadamar)

      Doch Diefenbachs Gegner belauern ihn. Ein Gendarm beobachtet die nackt in der Wildnis von Höllriegelskreuth herumtollenden Kinder Helios und Stella und sieht auch Fidus, der »im adamitischen Kostüm seinen Allerwertesten unehrerbietig zum Himmel gerichtet« habe, so die Zeitung »Münchner Post« im August 1888. Diefenbach und sein Schüler werden im ersten Nudisten-Prozess Deutschlands wegen unsittlichen