Thomas Sutter

Tod eines Jagdpächters


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sie mal auf und dann schickst du sie an einen Joghurthersteller. Vielleicht kriegst du sogar Geld für die Erfindung einer neuen Joghurtkreation«, schlug Beltel scherzhaft vor.

      »Habe ich auch schon dran gedacht«, nickte Funk und merkte gar nicht, dass sein Kollege ihn auf die Schippe nahm.

      Nach wenigen Schritten standen sie vor dem Grundstück, auf dem sich die herrlich ausgebauten Bauwagen befanden, die den Kindern bei Regenwetter, anstatt eines Steinhauses, zur Verfügung standen. Beltel war froh, dass die Joghurtschwärmerei ein Ende gefunden hatte.

      Letzte Nacht hatte es geregnet, und die Wiese des abgezäunten Grundstücks war nass. Fast zehn Kinder liefen in Gummistiefeln herum. Einige hatten Matschflecken an den Knien der Jeans und auch die T-Shirts und Hemdchen strahlten nicht gerade vor Sauberkeit.

      Zwei Kleine saßen in einem Holzanhänger und ein Junge, der sicher nicht älter als vier war, versuchte den Wagen zu ziehen. Verzweifelt rief er nach Verstärkung, aber die anderen waren so beschäftigt, dass sie seiner Bitte nicht nachkamen. Der Junge gab auf, versetzte dem Holzkarren einen Tritt und blieb mit verschränkten Armen und Schmollmund stehen.

      Beltel fühlte sich an seine eigene Kindheit erinnert. Obwohl er nie einen Kindergarten kennengelernt hatte. Er hatte sich auf dem Bauernhof seiner Eltern ausgetobt und ständig so ausgesehen wie diese Kids. Scheinbar gab es kein Plastik- und Lego-Spielzeug. Hier galt es, Pflanzen und Tiere zu erkunden. Beltel sah den angelegten kleinen Teich und hörte das Quaken der Frösche.

      Für ihn waren seine ersten naturverbundenen Jahre die glücklichsten seines Lebens gewesen. Es gefiel ihm, dass es Kindergärten gab, die das »Zurück zur Natur« mit den Kleinen praktizierten.

      Zwei Erwachsene standen vor einem großen braunen Bauwagen, der eher einem wunderschönen Zirkuswagen glich, und unterhielten sich. Nicht nur von außen war der Wagen mit dichten Pflanzen bewachsen. Durch die Fenster konnte man auch im Inneren Grünzeug erkennen, das die Funktion von Gardinen eingenommen hatte.

      Die Frau sah Beltel und Funk kommen und ging ihnen entgegen.

      »Sind Sie von der Polizei? Gaby Dederichs.« Sie reichte den Polizisten die Hand. Beltel und Funk stellten sich ebenfalls vor.

      »Mordkommission?«, fragte sie ungläubig, ihr war die Farbe aus dem Gesicht gewichen. »Ralf ist doch nichts …?«

      Beltel unterbrach sie. »Nein, Ihrem Pflegesohn ist nichts passiert. Aber vorletzte Nacht ist ein Mann namens Nirbach in einem Waldgebiet ganz in der Nähe von Ihrem Wohnort erschossen worden, und in dieser Angelegenheit würden wir gerne mit Ralf sprechen.«

      »Aber Sie wissen sicher, dass Ralf letzte Nacht nicht nach Hause gekommen ist?« Gaby Dederichs konnte den sorgenvollen Ton in ihrer Stimme nicht verbergen.

      »Das wissen wir. Seine Freundin Jessica Carlius ist letzte Nacht auch nicht zu Hause gewesen. Es sieht so aus, dass die beiden zusammen abgehauen sind. Haben Sie eine Ahnung, wo sie stecken könnten?«, fragte Funk.

      »Eigentlich wollte ich mir heute hier frei nehmen. Leider sind aber zwei Kolleginnen krank und es ging nicht. Na ja, ich hätte sowieso nicht gewusst, wo ich nach Ralf suchen sollte.«

      Eines der Kinder fiel hin und Gaby Dederichs musste die Unterredung kurz unterbrechen. Ihr Kollege eilte herbei und nahm ihr die Aufgabe ab, sich um den kleinen Jungen zu kümmern. Das Kind hatte zu weinen begonnen, weil es nass geworden war. Der Erzieherkollege verschwand mit dem Jungen im Bauwagen und Gaby Dederichs wandte sich wieder an die Polizisten. »Wissen Sie, Ralf war sehr schwierig. Die ersten Monate mit ihm beanspruchten die Kräfte meines Mannes und mir dermaßen, dass wir schon aufgeben wollten. Aber nach und nach ging es besser. Teilweise hat er etwas Vertrauen zu uns aufbauen können. Nur was er mit seinen Freunden so treibe, ginge uns nichts an und erst recht nichts, was seine Freundin betraf. Darüber wollte er nicht mit uns reden. Wahrscheinlich haben die meisten Teenies in der Pubertät keine Lust, mit den Eltern über ihre Privatsphäre zu sprechen. Wo die beiden sich getroffen haben, was sie zusammen unternommen haben, weiß ich leider nicht.«

      »Frau Dederichs, Ralf hat keine einfache Geschichte. Einiges ist uns bekannt. Auch, dass er bereits mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist, unter anderem wegen Gewaltdelikten. War Ihr Pflegesohn immer noch bereit, Gewalt anzuwenden?«, wollte Beltel wissen.

      Gaby Dederichs seufzte. »Die Erzieher im Heim sind überhaupt nicht mehr mit ihm klargekommen. Dort hätte wahrscheinlich bald wieder die Jugendstrafanstalt angestanden und wie gesagt, waren auch mein Mann und ich anfangs total überfordert. In den ersten Monaten wollte ich so wenig wie möglich mit dem Jungen alleine bleiben. Von mir hat er sich überhaupt nichts sagen lassen. Das war schon frustrierend. Wenn Sie definitiv nach Gewalt fragen, dann muss ich sagen, dass ich anfangs auch Angst vor ihm hatte. Ralf war sicher ein ganz schwieriges Kind, aber es hat eine – für seine Maßstäbe – enorme Entwicklung stattgefunden. Mein Mann und ich haben da echt was hingekriegt. Aber sicherlich lag es auch an diesem Medikament. Ich war eigentlich dagegen, dass Kinder so ein Zeug nehmen. Dennoch gab ich nach, denn die Ärzte hatten bei Ralf dieses so genannte ADHS diagnostiziert und ihm Ritalin verschrieben. Wie gesagt, hat mir das anfangs gar nicht gefallen, dann aber sah ich ein, dass etwas geschehen musste. Und ja, dieses Medikament hat wirklich eine extreme Änderung herbeigeführt.«

      Funks Gesicht war ein einziges Fragezeichen. »ADHS?«, hakte er nach.

      »Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. So genannte Hyperaktivität. Kinder, die extrem den Unterricht stören und durch Ritalin dann viel ruhiger werden«, erklärte Beltel.

      »Stimmt«, fuhr Gaby Dederichs fort. »Aber die Ursachen für diese Diagnose sind seelischer Art. Das Medikament hilft den Kindern, besser in ihrer Umwelt zu funktionieren. In ihrer Seele sind sie aber trotzdem weiter leidende Wesen. Sie müssen wissen, dass Ralf von seinem leiblichen alkoholkranken Vater sehr viel Prügel einstecken musste. Im Heim hat er im Prinzip auch einiges über Faustrecht kennengelernt. Sich nichts gefallen lassen und zuschlagen, bevor der andere zuschlägt, das war lange sein Motto. Aber nach einiger Zeit bei uns ist er wieder in die Schule gegangen, und die Lehrer haben uns nicht einmal wegen einer Prügelei oder Ähnlichem kontaktiert.«

      »Wussten Sie, dass Ralf von dem Ermordeten dabei erwischt worden ist, dass er Jäger-Hochstände verwüstet hat und deshalb von ihm zusammengeschlagen wurde?«, erkundigte sich Funk.

      Die Erzieherin war betroffen. »Ich habe seine Nase und die geschwollene Lippe gesehen und sein blutiges Sweatshirt in der Wäsche gefunden. Er hat mir gesagt, er sei hingefallen. Ich habe nicht weiter nachgehakt. Sicher war ich besorgt und hatte die Befürchtung, dass da was anderes vorgefallen ist. Aber ich wusste, dass Ralf nichts weiter dazu sagen würde.«

      Der Erzieher kam mit dem kleinen Jungen wieder aus dem Bauwagen. Das Kerlchen hatte frische Sachen an und rannte sofort wieder freudestrahlend zu seinen Spielkameraden. Beltel ahnte, dass auch die frische Kleidung nicht lange trocken bleiben würde und lächelte in sich hinein. Dann kam er zu der Frage, die ihm am Herzen lag: »Frau Dederichs, könnten Sie sich vorstellen, dass Ralf für die Prügel, die er bezogen hat, Rache genommen haben könnte?«

      Die Frau zögerte kurz. Dann klang ihre Antwort umso entschlossener. »Herr Beltel, Ralf ließ sich nichts gefallen, und er reagierte auf Gewalt mit Gegengewalt. Aber kaltblütig jemanden ermorden? Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Er konnte in enorme Wut geraten. Insofern wäre es möglich, dass er im Affekt reagiert hätte. Dennoch traue ich es ihm nicht zu, einen Racheakt über Tage zu planen und dann mit einem Mord in die Tat umzusetzen.«

      »Aber was glauben Sie, weshalb Ralf nun abgehauen ist?«

      »Wie Sie wissen, hat Ralf in der Vergangenheit schon Be-kanntschaft mit der Polizei gemacht, und er hatte noch dieses Misstrauen, dass man ihm immer nur was anhaben wollte. Wahrscheinlich hat er erfahren, dass Sie nach ihm gefragt haben. Ich kann mir denken, dass er Panik bekommen hat, weil Sie ihm sowieso nicht glauben würden und dann seine Bewährung futsch wäre.«

      »Hat Ihr Mann Waffen im Haus? Oder wissen Sie von Nachbarn, bei denen Ralf ein Gewehr geklaut haben könnte? Hatte Ralf sonst irgendwie Kontakt zu Waffen, war er vielleicht in einem Schützenverein?«

      Die