Wind. Der breite Fluss im Norden, die Ficha, war an ihrem fischigen Geschmack zu erahnen.
Bis nach Bims-Char waren es fast drei Stunden. Aber sie würden viel früher in einer der kleinen Zwischenstationen aussteigen und ihre monatliche Wanderschaft beginnen. Hinein in die Moorgebiete, in denen leckere Wildschlangen, Igelegel und schnabelgroße Wasserhüpfer darauf warteten, gebraten und heruntergeschlungen zu werden. In den Abendstunden würden sie es sich auf einer der vielen Hüttenstangen bequem machen, die die Naturparkverwaltung gratis zur Verfügung stellte.
Das Leben war schön.
Das Leben wäre schön, verbesserte sich Kibrr, dessen Gesichtsgefieder nun unangenehm stark juckte, wenn da nicht diese zirpenden Störenfriede aus dem All wären. Diese schrecklichen Wesen, die unsere Leben zu zerstören versuchen. Ohne dass wir wissen, was sie eigentlich von uns wollen.
3.
Einige Tage vor dem Aufprall
»Du hast Glück gehabt«, sagte ANANSI.
»Ich habe spekuliert«, widersprach Icho Tolot und wischte das Holoschachbrett beiseite, nachdem er sich die Positionen der Figuren eingeprägt und das Spiel zwischen den Hunderttausenden anderen in seinem Gedächtnis abgelegt hatte. »Ich gebe zu, dass ich im Endspiel mehrmals mein Glück herausgefordert habe. Aber die Erfahrung sagt mir, dass mir ein Spiel mit einem Damengambit in Kombination mit einer geschlossenen Imartischen Eröffnung die besten Chancen gegen dich einräumt.«
»Du weißt selbst, dass das nicht stimmt, Taravat«, widersprach die Bordsemitronik mit sanfter Stimme und verwendete dabei einen halutischen Ehrentitel. »Ich habe das terranische Schach durchgespielt. Ich habe jede denkbare Zugkombination überlegt und bewertet. Mit Weiß gewinne ich immer. Mit Schwarz gibt es eine nullkommadreiprozentige Chance, dass mein Gegner mich besiegt. Wenn er jederzeit alles richtig macht – und das hast du im Endspiel mit Entscheidungen geschafft, die du aus dem Bauch heraus getätigt hast.«
»Willst du mir den Sieg vergällen, ANANSI?«
»Keineswegs. Hast du Lust auf noch eine Partie?«
»Später vielleicht.« Icho Tolot kam auf die Beine und sah sich in der Zentrale um. Er blickte auf seine Schutzbefohlenen hinab. Die meisten waren nur halb so groß wie er.
Terraner, Epsaler, Jülziish, Oxtorner, Arkoniden und Angehörige anderer Milchstraßenvölker waren mit Kontrollaufgaben beschäftigt. Alles klappte wie am Schnürchen, es gab – wie in den Wochen und Monaten zuvor – kaum Zwischenfälle.
Langweilig.
Die RAS TSCHUBAI erledigte ihre Aufgabe hervorragend, die Rückreise in die Milchstraße war trotz der gewaltigen Dauer und den Belastungen eine Routineangelegenheit.
Weil die Schiffsbesatzung hervorragend ausgebildet und während ihrer Abenteuer in der Galaxis Ancaisin gereift war. Insbesondere ANANSIS Versagen vor der Wiedergeburt der VECU war analysiert und die Kontrollmechanismen entsprechend verbessert worden. Die an Bord verbliebenen Phersunen waren abgesetzt, die Vorräte auf einer abgelegenen und unberührten Welt ergänzt worden. Die Reise selbst verlief seitdem ereignislos.
Langweilig.
Tolot streifte über die Bedienungskonsole seines Stuhls. Er übte ein wenig zu viel Druck aus, ein rötliches Holofeld glühte auf. Er hatte das Panel beschädigt.
Ein Serviceroboter kam herbeigeschwebt und nahm sich des Problems an.
»Du bist ungeduldig, Taravat«, sagte ANANSI.
»Kein Wunder. Wir haben die 3453. Partie Blitzschach seit unserem Abflug aus der Peripherie von Ancaisin gespielt. Und das in hundertachtundzwanzig Tagen, während derer wir etwa hundertsechzig Millionen Lichtjahre zurückgelegt haben. Auf uns warten weitere hundertzwölf Millionen Lichtjahre gepflegter Langeweile.«
»Es gibt viel mehr zu tun als das, Taravat. Ich habe dir vorgestern einige knifflige Simulationen zum Nutzungsverzicht der Suspensionsalkoven bereitgestellt.«
Richtig. Tolot hatte kaum einen Gedanken daran verschwendet. Diese Forschungsarbeit lief auf einen Zahlen- und Datenvergleich mehrerer Rechenmodelle hinaus, der sein Planhirn tagelang beschäftigten würde.
Er wollte sich nicht darum kümmern, nicht an diesem Tag. Er brauchte Bewegung. Die Simulationshalle auf Deck 14 bot kaum Gelegenheit, sich richtig auszutoben.
Tolot fühlte eine ungewohnte Regung. Ein selten gespürtes Durcheinander in der Kombination seiner beiden Hirnteile. Das Planhirn übernahm mit ungewohnter Vehemenz die Kontrolle über seine Denkprozesse und lieferte ihm alarmierende Fakten.
Tolot verstand.
Er trat zu Cascard Holonder, dem stoisch dasitzenden Kommandanten der RAS TSCHUBAI, und sagte: »Es gibt ein Problem.«
»Ein Haluter tritt mit einem Problem an einen Terraner heran, das er selbst nicht lösen kann? Da bin ich aber gespannt.« Holonder blickte starr geradeaus auf ein Holo, das die Galaxis Ancaisin zeigte.
»Ein Vurhatu-Problem.«
Es dauerte eine Weile, bis Holonder verstand und reagierte. Er rieb sich die Augen und wandte sich Tolot zu. »Bist du dir sicher?«
»Ich werde einige Untersuchungen machen, um völlige Gewissheit zu haben. Aber ich erkenne die Anzeichen. Ich erwarte, in den nächsten Tagen in eine Drangwäsche zu rutschen.«
*
Drangwäsche.
Ein Vorgang, der auf Icho Tolots mörderisches genetisches Erbe zurückging.
Um dem Zerstörungsdrang, der in Halutern als den Nachfolgern der Bestien steckte, ein Ventil zu geben, unterliefen alle Mitglieder seines Volkes in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen die Drangwäsche. Sie ließen es, wie die Terraner es gerne nannten, mal so richtig krachen.
Wehe dem, der sich einem Haluter in dieser Lebensphase in den Weg stellte. Während des mehrtägigen Vurhatu war das Planhirn praktisch komplett ausgeschaltet, jegliches logische Denken verbannt, nur kochende Emotionen lenkten die drei Meter großen Wesen dann.
Aber noch war es nicht so weit.
»Die Drangwäsche kommt ungeplant«, sagte Tolot und hievte sich vom schweren Untersuchungstisch der Medoabteilung.
Matho Thoveno, der araische Chefmediker der RAS TSCHUBAI, drehte ihm den Rücken zu. Mit leisem Brummeln suchte er in einer Holobibliothek und fuchtelte dabei mit den Händen, als würde er unsichtbare Geister dirigieren.
Tolot wartete geduldig. Er kannte die affektierte Art des Medikers.
»Da ist es«, sagte Thoveno und zog die Buchdatei hervor. »Zwischen den Sternen lauert das wahre Leben. Verfasst von Bré Tsinga, mit Ergänzungen durch ihre Enkelin Anni K. Tsinga. Sechste Neuauflage. Das Standardwerk zur halutischen Drangwäsche.«
»Ich kenne das Buch in- und auswendig. Es ist hervorragend, aber es bringt uns in diesem Fall nicht weiter. Warum erwischt es mich gerade jetzt, um mindestens zwei Jahre zu früh?«
Thoveno antwortete nicht. Er blätterte konzentriert in der Datei, murmelte vor sich hin, wischte sich mit seinem roten Kopftuch Schweißtropfen von der hohen Stirn.
»In der Tat steht nichts darin, was uns weiterhelfen könnte«, sagte er nach einer Weile und schob die Datei in ihren Ordner zurück.
»Das sagte ich bereits, Matho.«
»Richtig. Aber wichtig ist, was nicht im Buch steht.«
»Das bedeutet?«
»Es gibt Einflüsse, die eine Drangwäsche verzögern oder beschleunigen können, nicht wahr?«
»Selbstverständlich. Ein Vurhatu tritt nicht periodisch auf. Äußere Bedingungen können sein Einsetzen herauszögern, aber auch beschleunigen.«
»Eben. In Bré Tsingas Werk werden mögliche Auslöser für diese Beschleunigung genannt. Es geht um besondere Trigger wie eine zu