ohne triftigen Grund oder Willen nach seinen Belangen fragen zu müssen, höflich zu sein. Für einen Ostfriesen kommt das nicht in Frage. Er macht nichts, was er nicht machen muss. Ein Moin Moin oder das Moinsen, das gern in Hamburg verwendet wird, sind nichts für ihn. Es wäre Gesabbel. Drum hält er es auch lieber zeitökonomisch: Er begnügt sich mit einem kurzen und knackigen Moin und erstickt sogleich jegliche Art von Höflichkeitsfloskeln im Keim. Dabei ist er keineswegs ruppig, vielmehr hat er ein Gespür für die Art des Moins entwickelt, für den Tonfall, in dem sein Gegenüber sein Moin von sich gibt. Dem Klang entsprechend kann er entscheiden, wie er reagiert. Er hört eben genau hin. Ein bisschen ist es in Ostfriesland also wie in China, wo die Betonung der Silben über die Bedeutung der Wörter entscheidet. Da sag noch einmal einer, die Ostfriesen seien schlicht. Also darauf: eine Ode an das Moin.
2
EIN NEUANFANGAM ENDJE VANWELT
DAS NIEMANDSLAND ZWISCHENHOLLAND UND DEUTSCHLAND
Mühlen erheben sich aus dem flachen Land und lassen sanft ihre Flügel kreisen, Deiche werfen Falten in die sonst so ebenerdige Weite, und die Straßen, flankiert von Kanälen, sind auf dem fortwährenden Weg zum Horizont. Genau so hat sie sich das vorgestellt. Am Sonntagmorgen, unterwegs in ihrem alten Golf, der eher einem Kasten als einem winddynamischen Fortbewegungsmittel gleicht, durchpflügt Sonja rumpelnd die ostfriesische Landschaft und genießt die Ruhe, bevor am nächsten Tag die Arbeit losgeht.
Nachdem sie bereits gut zwanzig Minuten damit verbracht hat, vor einer offenen Klappbrücke darauf zu warten, dass die sich wieder schließt, reicht es ihr mit der Ruhe. Ungeduldig trommelt sie mit den Fingern aufs Lenkrad, bis sie mit großen Augen beobachtet, wie ein riesiger Dampfer an ihr vorbeischwebt.
KLOOKSCHIETER: OZEANRIESEN MADE IN GERMANY
Die Kreuzfahrtbranche boomt – mehr Deutsche als je zuvor verbringen auf den riesigen Schiffen ihren Urlaub. Die Meyer Werft, ein in Papenburg ansässiges Familienunternehmen, ist in punkto Schiffbau federführend. Urlaubern und auch Einheimischen bietet die Überführung der Riesen immer wieder ein Spektakel. Für Ostfriesland ist die Meyer Werft von großer Bedeutung – mit etwa 3.000 Beschäftigten und weiteren Zulieferern stemmt das Unternehmen neben Volkswagen in Emden die meisten Arbeitsplätze in der Region. Trotzdem ist die Werft in Anbetracht der aus dem Schiffbau resultierenden Umweltaspekte nicht unkritisch zu sehen. Seit den Achtzigern werden die Überführungen von Naturschützern kritisiert, da für die Auslieferung der Schiffe das Wasser in einem Teilabschnitt der Ems aufgestaut werden muss, was negative ökologische Folgen mit sich bringt.
Nachdem sich die Brücke wieder geschlossen hat, fährt Sonja los, biegt nach dem Überqueren rechts ab und folgt einem Schild, auf dem in schwarzen Lettern Bingum steht. Als sie der Straße folgt, passiert sie weitere Schilder mit Jemgum, Midlum, Critzum und Hatzum. Wenig überraschend ist es, dass auch das nächste kleine Dorf auf die Silbe um endet: Ditzum.
Sonja kichert. Ob sie statt in Ostfriesland in Gallien gelandet ist? Jetzt färbt Max’ Leidenschaft für Asterix und Obelix schon auf sie ab. Aber stünde auf dem nächsten Schild Kleinbonum, würde sie das nicht wundern. Schließlich weigern sich die Ostfriesen auch tapfer, Deutsch zu sprechen – unbeugsam wie das kleine Dorf in Gallien. Jedenfalls hat sie irgendwo gelesen, dass noch gut fünfzig Prozent der Einheimischen Platt sprechen, wobei es offenbar ein starkes Stadt-Land-Gefälle gibt. In Anbetracht der schwindenden Dialekte ein Zeichen des Widerstands. Sonja hofft, dass sie nicht wie die römischen Besetzer im Comic an diesen Eigenarten scheitert. Sie runzelt die Stirn.
Tatsächlich reiht sich nach Ditzum noch Pogum nahtlos ein, bevor sie eine schmale Straße erreicht, die diese Bezeichnung eigentlich nicht verdient hat. Gegenverkehr wäre zumindest unschön, denkt Sonja. Eilig schlängelt sie sich über den Deich hinunter zu einer Betonplattform.
Als sie aussteigt, befindet sie sich auf einer Halbinsel. Der Wind zerrt an ihren Haaren und presst ihr die Klamotten an den Leib. Die Nordsee leckt unter graublauem Himmel an den Pflastersteinen. Hinter ihr rotieren in der Ferne die Blätter von Windrädern, die Silhouetten vermischen sich vor dem Himmel mit flügelschlagenden Wildgänsen. Zwei Sitzbänke und ein Münzfernrohr stehen verlassen am Rande des Plateaus. Von hier aus gibt es nur noch viel Nordsee, bis irgendwann Amerika kommt. Die Sitzbank scheint Sonja wie gemacht für einen Ort der großen Träume. Ein Schild zieht ihre Aufmerksamkeit auf sich, als plötzlich ihr Handy klingelt. Sie zieht die Handschuhe aus und fingert ungelenk nach dem Handy in ihrer Jackentasche.
Das Telefon zwischen Wange und Schulter eingeklemmt, versucht sie sich gleichzeitig wieder die Handschuhe anzuziehen. Mann, ist der Wind eisig. »Ja, hallo?«
»Moin, Sonja. Hier ist Grietje.« Ist das nicht ihre neue Kollegin aus Leer?
»Du, ich wollte dich nur einmal persönlich anrufen, um dich hier zu begrüßen und zu sagen, dass es reicht, wenn du morgen um zehn Uhr in der Redaktion in Leer bist. Ich hoffe, du hast dich schon ein wenig eingelebt?« Die Stimme am anderen Ende der Leitung klingt zaghaft, aber freundlich.
»Oh, das ist aber nett von dir, danke. Ja, ich bin gerade schon ein bisschen unterwegs und schaue mir die Gegend an. Wirklich schön ist es hier.« Sonja muss mit ihrer Stimme gegen den Wind ankämpfen. Hoffentlich klingt es nicht für die neue Kollegin, als brülle sie.
»Scheint in jedem Fall windig zu sein.« Grietje lacht. Ups. Vermutlich schreit sie doch. Egal. »Ja, ich bin hier gerade auf der Bohrinsel.«
Am anderen Ende der Leitung herrscht Stille. Verzweifelt sucht Sonja nach einem Small-Talk-Thema. »Also dann braucht ihr die Amis ja nicht mal und habt euer eigenes Erdgas. Cool.« Heidenei, wann hat sie das letzte Mal »cool« gesagt? »Aber ist es nicht auch ein bisschen gefährlich, dass die Leute hier einfach so rumlaufen?« Gut. Offene Fragen sind immer gut.
Jetzt lacht ihre Kollegin schallend. »Ähm, Sonja, da muss ich dich enttäuschen – die Bohrinsel heißt nur noch so, gebohrt wird da schon seit ’64 nicht mehr.« Dann fügt sie schnell hinzu: »Aber ja, du hast recht, ganz ungefährlich ist es da nicht. Du hast Glück, dass das Wetter heute mitspielt, bei Sturm solltest du da lieber nicht stehen.«
Wat’n Mallöör
Links Holland, rechts Deutschland, einen Meter vor dem Meer – die Fahrt zur Bohrinsel lohnt sich. Bis Amerika ist es zwar noch ein ganzes Stück, allerdings wird Pogum trotzdem das Endje van Welt genannt, weil es die nördlichste Stelle des Rheiderlands ist. Die Straße endete hier früher am Wasser, am Mündungstrichter der Ems. 1964 wurden dann in Dyksterhusen, jenem Fleckchen Erde, das lediglich aus einer kleinen Reihensiedlung südlich Pogums besteht, Bohrungen durchgeführt, bei denen man Gas entdeckte. Das Vorkommen war aber so verschwindend gering, dass sich dessen Ausbeutung damals ziemlich schnell als unwirtschaftlich herausstellte. Der Name »Bohrinsel« blieb trotzdem erhalten. Und die Fahrt dahin lohnt sich: Die Halbinsel bietet einen wunderschönen Blick über das ostfriesische Wattenmeer, über Schlick, den weiten Himmel und Wildgänse. Nur sollten Touristen auch das Gefahrenpotenzial erkennen: Schon der Weg zur Bohrinsel ist bei Sturm nicht ungefährlich. Die Fluten holen sich dann die holprige Teerstraße zum Festland zurück, sodass ihnen der Rückweg abgeschnitten werden könnte.
3
LEERER GIBT’SNUR ALSKOMPARATIV
VOM MINENFELD OSTFRIESISCHERSTÄDTE UND BÜRGERNAMEN
Das Plätschern von Wasser weckt Sonja am frühen Morgen. Noch halb im Traum denkt sie an Bäche, die von Bergen plätschern, bis ihr einfällt, wo sie ist. Die ersten Sonnenstrahlen des Tages fallen als Lichtpunkte durch die weißen Spitzengardinen, als sie zögerlich ihre Zehenspitzen aus dem Bett schiebt. Sie gähnt herzhaft. Lange hat sie nicht geschlafen. Bis in die Nacht hat sie Kartons