ja, nee, isch recht.« Sonja schnauft. Und sie ist doch bei den Sch’tis gelandet.
Wat’n Mallöör
Entgegen der vorliegenden Situation soll Plattdeutsch laut frühestem Beleg, einer 1524 gedruckten Delfter Bibel, »in goede(n) platten duytsche«, also »klar, deutlich, jedermann verständlich« sein. Dass es eben für jedermann verständlich war, führte Ende des 17. Jahrhunderts auch zur Stigmatisierung des Niederdeutschen. Immerhin wollten sich die Gebildeten exklusiv unterhalten können, weshalb das Hochdeutsche als Akademikersprache galt und Platt als Sprache des Pöbels. Hinzu kamen Umstände wie der Wechsel der Kirchensprache ins Niederländische und dass die Preußen nach dem Tod des letzten ostfriesischen Grafen die ostfriesische Verwaltung übernahmen und des Plattdeutschen nicht mächtig waren.
Bis heute wird immer wieder behauptet, dass Platt mehr Mundart als eigene Sprache ist. Das ist allerdings nicht der Fall (worauf viele Ostfriesen auch Wert legen). Denn worüber sich Linguisten lange Zeit stritten, wurde Ende des 20. Jahrhunderts offiziell geklärt: Mit der Aufnahme in die europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen wurde Plattdeutsch international als Sprache anerkannt.
Hervorgegangen aus dem Mittelniederdeutschen, liegt Platt sprachhistorisch betrachtet sogar näher am Englischen als am Hochdeutschen. Immerhin hat das Niederdeutsche mit der englischen Sprache gemein, dass beide die sogenannte zweite Lautverschiebung aussetzten – also die regelhafte Umwandlung bestimmter Konsonanten in andere, wie etwa das t in das s bei water. Was im Hochdeutschen seitdem Wasser heißt, ist im Plattdeutschen und Englischen gleichgeblieben.
Gesprochen wird das ostfriesische Niederdeutsch, also der ostfriesische Dialekt, wie auch das Oldenburger Platt streng genommen einer ist, in ganz Ostfriesland. Dazu zählen die Landkreise Aurich, Leer, Wittmund und die kreisfreie Stadt Emden, ebenso die Ostfriesischen Inseln. Verglichen mit anderen Regionen hat das Plattdeutsche hier in Ostfriesland noch einen hohen Stellenwert. Seine Verwendung variiert aber. So wird Platt im ländlichen Raum häufiger gesprochen und vorwiegend von älteren Menschen. Bei jüngeren Ostfriesen nimmt der Anteil der Plattsprecher stark ab. Kulturelle Institutionen wie die Ostfriesische Landschaft oder der Verein Oostfreeske Taal versuchen den Verfall der Sprache mithilfe von Projekten aufzufangen. Platt soll Teil der ostfriesischen Identität bleiben. So wird in 60 Kindergärten Ostfrieslands mitunter Plattdeutsch gesprochen. Zudem gibt es jährlich im September den Plattdüütskmaant – den Plattdeutschmonat. Dann wird in ausgesuchten Betrieben jeweils einen Tag lang Platt gesprochen. Außerdem finden etliche Veranstaltungen wie Lesungen statt, um die Sprache zu fördern.
Die Tourismusbranche setzt die Sprache gezielt ein, um Ostfriesland als Auszeit von der beschleunigten Welt zu vermarkten – eine geruhsame Region, in der mit einem Spruch up Platt und einer Tasse Tee nichts schiefgehen kann.
6
HUNNERT!
ASTREIN INS FETTNÄPFCHENGEHÜPFT
Als Sonja die Tür aufmacht, schlägt ihr der Geruch von neuen Büchern entgegen. Nichts riecht so schön wie frisch bedrucktes Papier, findet sie. Aber sie mag es ja auch, wenn es an der Tankstelle nach Benzin riecht, und schnuppert an jeder Blume. Max macht sich gern darüber lustig. Jedenfalls hat sie im Internet gelesen, dass der ehemalige Besitzer der Buchhandlung auch einen Verlag gegründet hat, der sich besonders dem Niederdeutschen widmet. Deshalb erhofft sie sich von ihrem Besuch, etwas Licht ins Dunkel bringen zu können. Immerhin überlegt sie, in Leer ihre neue Heimat zu finden. Das gelingt vermutlich besser, wenn man die Leute versteht.
KLOOKSCHIETER: DIE BUCHHANDLUNG SCHUSTER
Von seinem Vater Theodor Schuster, der das Geschäft 1929 gründete, übernahm Theo Schuster die größte Buchhandlung in Leer, die er gemeinsam mit seiner Frau führte. Nachdem er die Buchhändlerlehre abgeschlossen hatte, arbeitete er zeitgleich als Verleger niederdeutscher Literatur. Dafür kooperierte er unter anderem mit dem Bremer Institut für niederdeutsche Sprache und betreute Buchveröffentlichungen, darunter plattdeutsche Wörterbücher. Für seine regionalsprachliche verlegerische Arbeit wurde Theo Schuster mehrfach ausgezeichnet. Er starb 2016. Die Buchhandlung und den Verlag führt seine Frau heute noch. Hier finden Bücherwürmer einen Händler, der auch lokale Lektüre bietet.
Sonja sieht sich um. Die Buchhandlung strahlt Ruhe aus. Zwei Buchhändlerinnen schwirren leise im Hintergrund herum und helfen erst, sobald ein Kunde Fragen hat. Nach dem hektischen Arbeitstag genau das Richtige. Sie geht ein paar Treppenstufen hoch in den hinteren Bereich der Buchhandlung und wird fündig: lokale Bücher, die ihr hoffentlich weiterhelfen. Sie durchstöbert die Bücherreihen, als sie über einen Titel stolpert. »Erdmantjes, was soll das denn sein?«, murmelt sie gedankenverloren. Als Erstes kommen ihr die kleinen süßen Tierchen in den Kopf, die in aufgeweckter Haltung die Welt erkunden. Aber was haben die bei den Ostfriesen zu suchen? Hilfesuchend dreht sie sich um. Gerade noch hat sie eine ältere Frau zwischen den Regalen gesehen.
»Die Erdmantjes sind Figuren der friesischen Mythologie«, kommt es dumpf hinter den Bücherwänden hervor. Dann ragt der Kopf der Händlerin zwischen den Reihen hervor. »Albrecht Janssen verfasste nach der Sage das gleichnamige Märchen. Demnach bewachten die kleinen Kerlchen im Leeraner Plytenberg in einem wunderschönen marmornen Schloss einen verloren gegangenen Schatz. Bei Not suchten die Leute den Hügel auf und baten die Erdmantjes um Hilfe. Mit den Tieren haben sie aber wenig gemein.«
Die Frau, die eben noch zwischen den Regalen war, steht jetzt neben ihr. Sie zwinkert ihr zu, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. Sonjas Wangen färben sich rot.
»Kann ich Ihnen behilflich sein oder möchten Sie in Ruhe weiterstöbern?«, fragt die Dame und lächelt sie freundlich an.
»Oh, das wäre sehr nett. Ehrlich gesagt, weiß ich wirklich nicht, wo ich anfangen soll. Hier gibt es so viel Auswahl. Eigentlich suche ich nur ein Plattdeutsch-Wörterbuch.«
»Suchen Sie denn eines fürs Niederdeutsche im Allgemeinen oder fürs ostfriesische Platt?« Die Verkäuferin schaut sie wartend an.
»Äh, fürs ostfriesische, bitte.« Nicht dass sie sich nachher mit einem Wörterbuch fürs Niederdeutsche verschanzt, das in einer ganz anderen Region gesprochen wird, und damit den nächsten Fauxpas landet.
Die Frau nickt. »Dann würde ich Ihnen das empfehlen.« Sie greift nach einem Buch mit lilafarbenem Einband. »Das ist von Jürgen Byl und Elke Brückmann und umfasst 7.000 Stichwörter.«
Sonja schnaubt. »7.000! Ich wäre ja mit zehn erst mal zufrieden. Aber immerhin kann ich damit einiges nachschlagen.« Sie blättert durch ein Exemplar und seufzt. »Ich glaube, das nehme ich.«
Die Verkäuferin lacht. »Glauben Sie mir, alle kennen auch in Ostfriesland die wenigsten. Tüte, mien Leev?« Geschäftig läuft sie zum Tresen.
»Ja, hundert.« Sonja sieht von dem Buch auf und grinst stolz.
Die Frau dreht sich mit einem amüsierten Funkeln in den Augen um. »Na, mal nicht gleich übermütig werden, eine Tüte wird auch reichen«, sagt sie.
Sonja stutzt und gerät ins Schlingern. »Nee, also ich meine schon hundert, also nicht die Anzahl an Tüten, sondern den ostfriesischen Ausruf, der hier steht, das sagt man doch so. Oder etwa nicht?« Sie stöhnt. Das kann noch heiter werden.
Die Frau blickt Sonja verständnislos an, bevor sich ihre Miene aufhellt. »Ach, Sie meinen hunnert! So wie astrein!« Jetzt schmunzelt sie. »Gute Frau, tun Sie sich den Gefallen, gucken Sie sich Plattdeutsch lieber erst mal nur fürs Verständnis an, das Sprechen ist noch etwas völlig anderes. Da kann man als Nicht-Ostfriese eigentlich nur ins Fettnäpfchen treten.«
Wat’n Mallöör
Wenn Nicht-Ostfriesen versuchen,