sehen, was sie geweckt hat: Ein kleiner Brunnen speit aus schwarz-goldenen Hähnen schon munter Wasser. Die Äste der Zierkirschen im Rathausinnenhof ragen noch kahl und knotig in die Luft. Wie muss das erst im Frühling sein, denkt sie. Der allerdings traut sich noch nicht so ganz heraus. Da haben wir was gemeinsam, denkt sie. Ein Morgenmensch ist sie noch nie gewesen. Die Restkälte des Winters macht es nicht gerade einfacher, das Bett zu verlassen. Zumal es dafür noch viel zu früh ist. Wo ihre geliebte Kaffeemaschine geblieben ist, weiß der Geier. Jetzt auf die Schnelle noch eine Umzugskiste zu öffnen käme vermutlich dem Öffnen der Büchse der Pandora gleich.
Zum Glück hat sie gestern auf dem Weg vom Deich zurück in ihr Marzipanhäuschen ein kleines Café direkt um die Ecke gesehen. Als sie daran vorbeiging, konnte sie die Kaffeebohnen schon riechen. Das hatte ihr die Befürchtung genommen, in Ostfriesland nur Tee trinken zu können. Wacker zieht sie sich den Mantel an und verlässt das Haus.
Die Kaffeerösterei Baum gleicht mit ihrem Innenleben einem Gemisch aus Industrie und dem Chic von Hamburger Speicherstadt-Cafés. Damit ist sie nicht nur ein wirklich hübsches kleines Café im Herzen der Altstadt, sondern auch ein Ort, an dem Besucher selbst gerösteten Kaffee bekommen. Als sie das erste Mal in Leer war, hat sie in der Innenstadt eine Zweigstelle mit einer gläsernen Rösterei gesehen. Mit dem Rücken zum Hafen liegend und der Front zur gepflasterten Gasse, fällt das Café in der Altstadt auf.
Der Geruch von Kaffee liegt in der Luft, als Sonja das Café mit der beigefarbenen Fassade betritt. Schlagartig regen sich ihre Lebensgeister. Mmh, lecker. Was würde sie nur ohne Kaffee machen? »Moin. Ganz schön hip, ihr Leerer. Einen Delfter Blue, bitte.« Sonja unterdrückt ein Gähnen, ist aber stolz, die Lektion von Samstag gelernt zu haben. So schnell sagt sie hier keinem mehr Grüß Gott. Doch wieder scheint sie irgendwas falsch gemacht zu haben, jedenfalls amüsiert sich ihr Gegenüber den funkelnden Augen zufolge prächtig. »Leerer gibt’s nur als Komparativ. Wo kommst du denn wech? Zwei siebzig, bitte. To go?« Verschlafen blinzelt Sonja den Kerl hinterm Tresen an. »Wie bitte?«
»Na, to go – Jasses, zum Mitnehmen halt.«
»Nee, also ja, schon to go, aber was war das andere?«
Doch als der Barista nachhaken will, hat sich Sonja schon den Delfter Blue vom Tresen geschnappt und mit dem Becher in der Hand und einem Runzeln auf der Stirn den Rückzug angetreten. Verwirrt blickt der junge Mann der schwingenden Eingangstür hinterher. Dann zuckt er mit den Achseln und murmelt eher zu sich selbst: »Nu proot ik al maal up Engelsk.«
Wat’n Mallöör
Zwar steppt in Leer nicht gerade der Bär – semantisch gesehen hört da die Gemeinsamkeit Leers mit dem gleichlautenden Adjektiv aber auch schon wieder auf. Leerer als Begriff für die Einwohner von Leer gibt’s nicht – zumindest, was Leer in Ostfriesland betrifft. Nicht-Ostfriesen fallen schnell auf, indem sie bei den Bewohnern Leers von Leerern und nicht, wie es richtig ist, von Leeranern sprechen. Ein Fettnäpfchen, das bei den Bürgern aus Weener ebenfalls droht: Auch hier heißt es Weeneraner. Trotzdem handelt es sich bei diesem Fettnäpfchen um ein zumindest sehr nachvollziehbares, denn die Ostfriesen stiften in ihrer Inkonsequenz ordentlich Verwirrung: Bei den Bewohnern Emdens spricht man nämlich von Emdern und nicht von Emdenern oder Emderanern, ebenso heißt es Norder bei den Bürgern Nordens und auf gar keinen Fall Nordener – wat’n Mallöör.
4
NICHT ALLE,DIE IM NORDENLEBEN, LEBENAUCH INNORDEN
… UND WER VON NORDEN AUS NACHSÜDEN FÄHRT, FÄHRT NACH NORDEN
Zur Begrüßung der neuen Mitarbeiter haben die Kollegen sich in größerer Runde versammelt. Leider scheint Sonja der einzige Neuzugang zu sein. Da stehen sie nun, die neuen Kollegen, und begutachten sie, die Süddeutsche. Sie stehen in der Teeküche, die genau so und nicht etwa Kaffeeküche genannt wird, im Halbkreis um sie herum und mustern sie von Kopf bis Fuß, als wäre sie das auserkorene Objekt einer Studie über eine neue Spezies. Dabei sind sie diejenigen, die pro Kopf schon eine halbe Kanne Tee intus haben, das hat Sonja genau gesehen. Und dankbare Small-Talk-Partner sind sie auch nicht, eher die Sorte harter Brocken. Mehr als ein Moin und ein paar Jo hat sie noch nicht herausbekommen – und das als angehende Journalistin. Immerhin, die eine Kollegin, die sich ihr als Grietje vorgestellt und sie rumgeführt hat, ist ein wenig redefreudiger. Zumindest schien das Eis gebrochen, als Sonja von ihrem geliebten Golf erzählte.
KLOOKSCHIETER: DER OSTFRIESE UND SEIN VW
Seit den Sechzigern produziert Volkswagen in der ostfriesischen Hafenstadt Emden. Als westlichster Seehafen Deutschlands hat der Standort durchaus seine Vorzüge, vermutlich aber baute VW das Werk auch wegen der massiv hohen Arbeitslosenquote in Ostfriesland. Um die 9.000 Mitarbeiter beschäftigt das Werk heute – für eines der Industrielöcher Deutschlands ein Segen. Heute kennt jeder in Ostfriesland jemanden, der bei VW arbeitet oder gearbeitet hat und sich zumindest in den Ferien am Band etwas dazuverdient hat. Das zeigt zugleich die starke Abhängigkeit von den großen Arbeitgebern. Der VW-Skandal sitzt den Ostfriesen noch schwer in den Knochen, nicht umsonst gilt der Spruch: »Wenn VW hustet, bekommt Ostfriesland eine Lungenentzündung.«
Und da stehen sie nun und machen nichts, außer sie anzugucken. Wie die Schafe von ihrem Deich, denkt sie. Das kann so nicht weitergehen, ihr wird schon ganz warm vor Verlegenheit. Sie räuspert sich. »Wo wir gerade schon so nett beisammenstehen – woher kommt ihr denn eigentlich so?« Offene Frage, das kann nicht schiefgehen, denkt sie. Doch kurz und knapp, als hinge das Leben davon ab, gibt einer nach dem anderen zwischen Teeschlucken seine Antwort ab.
»Leer«, sagt ein schon etwas älterer Herr, zeigt auf Grietje und sich und stellt sich als Dieter vor. Leer, das kennt sie immerhin ein wenig. Freundlich nickt Sonja ihm zu und schaut die Nächste in der Runde an: eine Frau, die sie um die vierzig schätzt, mit einer eckigen schwarzen Brille und knallpinkem Lippenstift. »Aurich«, sagt die jetzt. »Leevke.« Merkwürdiger Name, findet Sonja, als der Mann neben der Dame schon mit einem anderen denkwürdigen Namen fortfährt. »Okko aus Emden. Nich mit Otto aus Emden zu verwechseln.« Sonja lacht. »Das kann ich mir jetzt gut merken.« Dann wendet sie sich dem Letzten im Kreis zu, einem anderen Volontär, wie sie vorher heraushören konnte. »Und wer bist du und in welcher Redaktion arbeitest du?«, fragt sie den schlaksigen Kerl mit der zerzausten Frisur. »Enno. Ich wohne im Rheiderland, fahre aber jeden Tag bis nach Norden.« Irritiert schaut Sonja ihn an. Immerhin hat sie nach der Stadt gefragt, nicht nach der Himmelsrichtung. Vielleicht wollte er testen, ob sie dranbleibt. »Okay«, sagt sie entschlossen, nicht lockerzulassen. »Die grobe Himmelsrichtung habe ich im Kopf. Aber in welcher Stadt arbeitest du genau?«
Die anderen schnauben in ihre Teetassen, während Grietje betont beiläufig sagt: »Du, also das weißt du wahrscheinlich schon, aber bei uns gibt’s auch eine Stadt namens Norden.«
Wat’n Mallöör
Jo. Norden (plattdeutsch ausgesprochen: Nörden) ist nicht nur eine Himmelsrichtung, sondern auch eine der ältesten Städte Ostfrieslands. Ihren Namen schuldet sie vermutlich der Tatsache, dass sie die nordwestlichste Stadt auf dem deutschen Festland ist.
KLOOKSCHIETER: FÜNF FAKTEN ZUM SPEEDDATING MIT NORDEN
1 Eine sechs Meter hohe Schnapsflasche ist eines der Denkmäler Nordens. Vor einer historischen Mühle stehend, erinnert die Statue an die 1806 gegründete Spirituosenfirma Doornkaat, die einst zu den wichtigsten Arbeitgebern Nordens zählte. Den Standort hat die Firma längst geschlossen, nur das skurrile Überbleibsel mit dem angelaufenen Etikett zeugt noch von den guten alten Zeiten.
2 Im Herzen Nordens befindet sich der größte Marktplatz Deutschlands. Umgeben von stattlichen Bürgerhäusern und der größten Kirche Ostfrieslands, der Ludgerikirche, bietet er mit seinen zur Stadtgröße völlig unverhältnismäßigen 6.678 Hektar Platz für