Gudrun Söffker

Fettnäpfchenführer Finnland


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total beschäftigt ist. Apropos beschäftigt: Das Übungsbuch für den Sprachkurs steht doch schon im Regal, da könnte sie wirklich mal reingucken. Grammatik, Dialoge, Vokabellisten, fröhliche Zeichnungen von Menschen in Sommerkleidern. Gibt es eigentlich auch Sprachlehrbücher, die im Winter spielen? Wahrscheinlich nicht, da kommt nicht die tolle Urlaubsstimmung auf, die man sich wünscht, wenn man ins Ausland geht. Jetzt ist Sommer, und es ist hell, und sie ist in Helsinki, in einer netten WG, und die wollen sie nicht dabeihaben. Was nutzt einem da das fröhliche Sprachbuch? Lustlos schlägt Greta das erste Kapitel auf. Begrüßung. Hei. Hallo. Mitä kuuluu? Wie geht’s? Hyvää. Gut. Klar, wenn man gefragt wird, behauptet jeder, dass es ihm gut geht. Immer diese Stereotype. Sie kann doch nicht ins Wohnzimmer gehen und mal eben in die Runde fragen: Mitä kuuluu? Minä olen Greta. Ich bin Greta. Das ist wirklich peinlich: gleich jedem die Hand hinstrecken, ja hallo, wer bist du denn, alles klar? Minä olen saksalainen. Ich bin Deutsche. Na toll. Als ob das der erste Satz sein muss, den man sagt. Ist das denn so entscheidend? Reduziert sich die Identität immer gleich auf die Nationalität, sobald man ins Ausland geht? Aus dem Wohnzimmer ist nichts mehr zu hören. Ob die eingeschlafen sind? Greta horcht noch einmal genauer. Nichts. Halb widerwillig geht sie in den Flur. Die Tür ist zu. Ein paar Stimmen sind zu hören, Autogeräusche. Ah, jetzt sehen sie sich den Film an, irgendeinen amerikanischen Actionfilm, Greta hatte ihn auf dem Tisch liegen sehen, bevor alle kamen. Na, dann ist der nette Teil des Abends eh vorbei.

      Aber nicht für sie. Während im Wohnzimmer von stahlharten Typen die Welt gerettet wird, streckt Greta sich auf ihrem Bett aus. Die Spannung fällt langsam von ihr ab. Sie schließt die Augen und bemerkt amüsiert, dass ein leichtes Lächeln auf ihr Gesicht gezogen ist, während sie gerade an nichts gedacht und über nichts nachgegrübelt hat. Manchmal ist es offenbar schwieriger, untätig zu sein als immer überall dabei. Neben dem Übungsbuch steht auch das neue Wörterbuch im Regal. Greta setzt sich halb auf und zieht es heraus. Nach R sucht sie, nach R wie Ruhe: rauha auf Finnisch. Und darunter entdeckt sie eine Floskel: omassa rauhassa, wörtlich: in der eigenen Ruhe. In der eigenen Sommerabendruhe, im eigenen Zimmer, mit dem eigenen Fernsehprogramm, nämlich gar keinem. Warum mit sechs fremden Finnen Tiefkühlpizza konsumieren und schmatzend im Schnelldurchgang Freundschaften konstruieren? Warum nicht einfach Arme und Beine von sich strecken, die Gedanken fliegen lassen und einfach gar nichts tun? Und wenn doch, dann spontan und ganz entspannt, halt omassa rauhassa. Sie schläft ein.

      »Greta! Greta? Kommst du noch auf ein Bier rüber?«, hört sie Lauris Stimme im Traum, oder steht er wirklich in ihrer Tür? Der Blick auf den Wecker verrät, dass es schon bald elf Uhr ist. »Der Film ist zu Ende und alle sind weg, aber der Abend ist noch so schön ...«

      »Joo ... für ein paar Minuten, wenn du schon fragst. Warum nicht?«

       Noojoo!

      Ist das ein finnisches Problem? Warum sagst du nicht, was du möchtest, warum hast du mich nicht gefragt, was ich möchte ... Sicher nicht. Aber vielleicht gibt die finnische Umgebung mehr Gelegenheit dazu, solche Konflikte mit sich selbst zu lösen. Finnland ist manchmal langweilig, richtig öde. Wie schön! Das kann man natürlich nicht planen. Manchmal passiert vielleicht einfach nichts. Und das kann sehr dadurch gefördert werden, dass die Menschen nicht unbedingt immer und überall Gesellschaft suchen. Lauri kommt wohl gar nicht auf die Idee, dass Greta sich für seinen Männerabend interessieren könnte. Sie war nicht eingeladen, die Sache ist klar. Ein ungefragtes Erscheinen kann in solch einem Fall, da sich eine bestimmte Gruppe trifft, durchaus als aufdringlich empfunden werden.

      Und wenn sie vor lauter Unruhe schließlich zur Ruhe findet, warum nicht? Trotzdem mag das weniger daran liegen, dass sie in Finnland ist, als dass Lauri eben so ist, wie er ist. Und dass Jungs, wenn sie Filme gucken, nicht mit Greta Smalltalk führen wollen. Aber vielleicht wäre es ja trotzdem sehr lustig geworden? Ja, wer weiß. Wenn Greta unbedingt gewollt hätte, hätte sie dabei sein können. Dann hätten die Jungs das eben akzeptiert. Und sich gewundert. Und festgestellt, dass Greta ein bisschen komisch ist. Aber trotzdem hätten sie sie vielleicht nett gefunden. Aber dann hätte Lauri nicht fragen können, ob sie noch ein Bier mit ihm trinkt, und das wäre doch schade gewesen.

      7

       WER BIST DU DENN?

       WIE MAN KENNENGELERNT WERDEN KANN

      Freitag, 16 Uhr: Begrüßung für alle neuen ausländischen Studierenden. Die Tutoren stellen sich vor. Anschließend Wassersport. So etwa steht es auf dem Plakat. Klar, Greta ist dabei.

      Im Innenhof eines Instituts sind auf dem Rasen Tische und Bänke aufgestellt. Schade nur, dass es heute nicht so richtig warm ist, am Nachmittag hat es schon angefangen zu nieseln, und jetzt sieht alles aus wie im November. Entsprechend wenige sind auch gekommen. Drinnen gibt es ebenfalls ein paar Sitzplätze, und als es auch noch anfängt zu stürmen, sind alle schnell ins Gebäude geflüchtet. Ein ganzer Hörsaal ist geöffnet, und dort hält der Leiter der internationalen Abteilung nun seine Begrüßungsrede. Im Anzug, mit vielen freundlichen Blicken und Worten und ebenso freundlichem Applaus.

       EINMAL FINNLAND FÜR ALLE

      In Finnland leben derzeit über 250.000 Ausländer. Die mit Abstand größte Gruppe bilden die Esten mit über 50.000, gefolgt von den Russen mit etwa 30.000 Menschen. Studiengänge an den Universitäten international attraktiv zu machen, gehört seit Jahren zum Konzept. Die Internationalisierung der Jugendlichen und damit auch der jungen Wissenschaftler zu fördern, bedeutet schließlich, den Austausch mit der Welt zu verbessern, woran Finnland als geografisch fernem, ehemals politisch umstrittenem, kleinem, jungem Land besonders gelegen ist. In diesem Sinne werden auch Aufenthalte von jungen Leuten aus dem Ausland in Finnland unterstützt, sei es durch zahlreiche preisgünstige Sprachkursangebote, sei es durch das Centre for International Mobility CIMO.

      Und nun treten die Tutoren ans Mikro, nicht ganz so feierlich, aber immer noch sehr korrekt.

      »Ich bin Virva und ich bin für alle da, die den Master of European Studies machen wollen.«

      Aha, die kleine Dunkelhaarige war Greta gleich aufgefallen. Ihre Vornehmheit fällt eher gering aus im Vergleich zu den meisten anderen. Mit schwarzer Netzstrumpfhose und rotem Minikleid erzählt sie in absolut flüssigem Englisch mit deutlichem britischem Akzent Greta und zwei litauischen Frauen anschließend vom Studienaufbau.

      »Ich bin gerade aus London zurück und habe da zwei Jahre studiert. Also weiß ich ein bisschen, welche Fragen ihr haben könnt. Hier ist meine Handynummer, wenn ihr etwas braucht.«

      Die organisatorischen Dinge sind schnell geklärt. Greta fragt sich, wie es weitergeht. Gar nicht? Nach ein paar netten Worten gehen alle ihrer Wege?

      »Und, was ist mit dem Wassersportangebot?«

      Virva zuckt mit den Schultern. »Heute? Bei dem Wetter? Wir hatten eh so wenige Anmeldungen.«

      »Anmeldungen? Ich wusste gar nicht, dass man sich anmelden sollte.«

      »Ich glaube, das stand in dem Brief.«

      »Oh, den habe ich leider nicht bekommen. Vielleicht ging das anderen genauso! Komm, lass uns mal herumfragen, wer noch alles Lust hat!«

      Virva steht schon an der Tür, aber sie dreht sich noch mal um. »Ich gehe noch einen Kaffee trinken mit ein paar Freunden – wenn du mitkommen möchtest ...«

      Greta zögert. »Jetzt gleich?«

       »Joo.«

      Virvas Auto steht vor der Tür.

      »Na gut. Wohin fahren wir denn?«

      »Zum Regatta.«

      »Ist das lecker da? Gehst du da öfter hin?«

      »Ab und zu.«

      »Ist das typisch Finnisch?«

      »Ja