Nadine Luck

Fettnäpfchenführer Weihnachten


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aus der Zukunft stammt, dann würde das bedeuten, dass sie bald noch ein Kind bekommen sollten. Einen Jungen. Ein Glücksgefühl macht sich in ihr breit. Kann das sein?

      Alles, was der Mann sagt, klingt unglaublich – und doch bitten sie ihn ins Haus und geben ihm die Gelegenheit, die gesamte Geschichte zu erzählen. Die smaragdgrünen Augen sind Annette tatsächlich sofort aufgefallen …

      Gurian redet und redet und fordert sie auf, die ersten Forschungen zur Zeitreise in der Universität einzusehen, an der zahllose Wissenschaftler bereits jetzt arbeiten – auch wenn sie noch in den Kinderschuhen stecken. Er erzählt weiter, dass beim größten Hackerangriff in der Geschichte der Menschheit im Jahr 2137 viel Wissen über die Gepflogenheiten des 21. Jahrhunderts und der Jahrhunderte davor verloren gegangen sind. Dieses soll er zurückholen, etwa über Alltagsbräuche und ein Fest namens Weihnachten, über das er zum Beispiel recherchieren soll.

      »Das feiern Sie ähnlich groß wie Halloween, oder?«, fragt er.

      Die Hollerbachs wissen nicht, ob sie entsetzt sein oder lachen sollen.

      »Groß wie Halloween? Halloween ist sehr umstritten, das mag nicht jeder …«, sagt Jürgen.

      »Oh, dann feiern Sie Weihnachten gar nicht so opulent?«, will Gurian wissen.

      »Doch, natürlich. Das wissen Sie wirklich nicht? Es ist das Fest der Feste!« Annette ist schockiert. »Gottes Sohn, Jesus, ist dann geboren. Heißt das, Sie kennen Weihnachten in der Zukunft nicht mehr?«

      »Gottes Sohn?« Gurian blickt sie entgeistert an. Wovon spricht sie? »Ein Gott soll einen Sohn haben – und das feiern Sie? Ganz im Ernst?«

      Annette blickt ebenso entgeistert. »Das ist aber nicht Verstehen Sie Spaß? jetzt, oder?«, fragt sie.

      Die Hollerbachs können Gurians Erzählungen nicht glauben, und irgendwann glauben sie sie doch. Gurian weiß zwar nichts über Weihnachten, aber er kennt ihre gesamte Familiengeschichte, und zwar mit so vielen Details, wie sie ein Unbekannter nicht recherchieren könnte. Obwohl alles so ungeheuerlich klingt, siegt die Neugier der Hollerbachs. Sie laden den Verwandten aus der Zukunft ein, die kommenden Wochen bei ihnen zu verbringen, denn die Gelegenheit, einen dermaßen persönlichen Blick in die Zukunft werfen und mit dem Verwandten aus der Ferne sogar Weihnachten feiern zu können – die wollen sie ergreifen.

       O du Peinliche

      Für einen Menschen aus der Zukunft klingt die Geschichte der Geburt Jesu so unglaublich wie für die Hollerbachs die Geschichte von Gurians Zeitreise. Mit etwas Abstand betrachtet, ist es offenbar schwer vorstellbar, dass dieses Ereignis 2.000 Jahre später mit allem Pomp gefeiert wird. Auch aus heutiger Sicht darf darüber gestaunt werden, dass Weihnachten für so viele Menschen das wichtigste Fest im Jahr ist. Natürlich halten zumindest gläubige Christen nicht Halloween für das »beste Fest des Jahres« – aber Ostern könnte der Titel grundsätzlich schon gebühren, denn: Weihnachten feiern die Menschen die Geburt Jesu; Ostern hingegen feiern sie, dass er von den Toten auferstanden ist. Das ist natürlich wesentlich bahnbrechender und Grund genug dafür, dass Ostern aus kirchlicher Sicht das bedeutendste Ereignis im Jahreskalender ist. Wie konnte es daher passieren, dass Weihnachten dem wundersamen Osterfest den Rang abgelaufen hat?

      Nun ja: Weihnachten hat diesbezüglich einen langen Weg hinter sich. In den ersten Jahrhunderten des Christentums feierten die Menschen lediglich Jesu Auferstehung. Erst ab dem frühen vierten Jahrhundert gibt es Belege dafür, dass auch der Geburt gedacht wurde – allerdings wohl in eher beschaulichem Rahmen, in Form von Gottesdiensten. Wäre es dabei geblieben, wäre das Weihnachtsfest für die Masse der Menschen heute kaum bedeutungsvoller als Festtage wie Christi Himmelfahrt oder Mariä Lichtmess. Damit es zu dem Ereignis wurde, dem wir heute Jahr für Jahr mit größtem Prunk huldigen, mussten über viele Jahrhunderte hinweg etliche Traditionen dazukommen. Wobei an dieser Stelle gesagt werden muss: Die meisten Weihnachtsrituale sind vergleichsweise neu. Das Weihnachtsfest in der Form, wie wir es heute zelebrieren und wie wir es für ein ewiges, unantastbares Ideal halten, gibt es noch keine 200 Jahre – auch wenn seine Wurzeln wesentlich weiter zurückreichen.

      In jedem Fall sind die Traditionen, die sich in der Gesellschaft und in jeder einzelnen Familie entwickelt haben, vielen Menschen wichtig. Sie begehen das Fest alljährlich mit größtem Aufwand, um von Adventsbeginn bis mindestens zum zweiten Feiertag weihnachtlich gestimmt zu sein. Das gelingt oft nur so halb, natürlich ist gestresst, wer zum Fest Großputz, Großeinkauf, Gottesdienst, Geschenke, Galamenü und die großartige Helene Fischer Show unter einen Hut bekommen will. Doch die meisten nehmen das in Kauf, weil die Menschen alles, was zum Weihnachtsfest gehört, mehr beeindruckt als gefärbte Eier, geschmückte Ostersträuche und ein Hase als Geschenkebringer. Und was ist ein Ritual wie die Ostereiersuche im Vergleich zur Adventszeit mit ihrer sinnlichen Atmosphäre? Auch in Sachen Osterlieder sieht es dünn aus – oder kennt jemand mehr davon als Stups, der kleine Osterhase von Rolf Zuckowski? Und was ist das überhaupt, verglichen mit Stille Nacht in der magischen Heiligen Nacht?

      Auch wenn Kritiker beklagen, dass Weihnachten in der heutigen Gesellschaft zum reinen Konsum- und Familienfest ganz ohne Jesus verkommt, beschäftigen sich viele Menschen in der sentimentalen Zeit kurz vor dem Jahreswechsel mit Wertigem. Sie versuchen, Gutes zu tun, vielleicht indem sie etwas Geld an Bedürftige spenden oder sich bei der ungeliebten, aber einsamen Tante Frida melden – und sie besinnen sich auf ihre Liebsten, sie werden ruhig, ziehen sich zurück, gönnen sich und anderen Ruhe. Dabei fühlen sich viele von ihnen eigenartig verbunden mit einem Ereignis, das vor über 2.000 Jahren passiert ist.

       WAS HEISST »WEIHNACHTEN«?

       Das Wort zum Fest

      Weihnachten ist ein Wort, das im Plural steht, im Singular heißt es »Weihnacht«. Bereits seit dem 12. Jahrhundert ist es im deutschen Sprachraum geläufig, im Mittelhochdeutschen feierten die Menschen entweder im Singular die wîhenaht oder im Plural wîhennahten. Aber woher kommt der Begriff? Nun ja, die Silbe »Weih-« kennen wir auch von anderen Wörtern, etwa von Weihrauch oder Weihwasser. Sie lässt sich auf das 8. Jahrhundert zurückverfolgen, als mittel- und althochdeutsches wîhen. Das germanische Wort weiha wies auf heilige Dinge und Menschen hin. Wenn wir heute das Verb »weihen« verwenden, dann heiligen wir etwas. Zu »Weih-« kommt noch die »Nacht« dazu, die mittel- und althochdeutsche naht, die oft auch den Abend einschloss. WeihNacht ist also ein Synonym für den Heiligen Abend beziehungsweise die Heilige Nacht. Die Pluralendung -en entstand, weil sich das Wort aus dem mittelhochdeutschen ze den wîhen nahten, also »in den heiligen Nächten« herausbildete.

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       ALLES ZU SEINER ZEIT

       KEIN LEBKUCHEN VOR DEM ERSTEN ADVENT

      Gurian ist zutiefst dankbar, dass ihm seine Familie aus der Vergangenheit glaubt. Er will ihr so wenig wie möglich zur Last fallen – also versucht er, sich nützlich zu machen. Wenn er Aufgaben übernimmt, wird es auch leichter für ihn sein, den Alltag und die Gepflogenheiten der Menschen so gut wie möglich kennenzulernen. Auf einem Stück Papier hat Annette in ihrer altertümlichen Schrift alles aufgeschrieben, was in Kühlschrank und Speisekammer fehlt – gerne will er das besorgen. Seine Verwandte hat ihm grob erklärt, wie das Einkaufen in ihrer Welt funktioniert. Was für eine mühselige Art und Weise, zu seinen Lebensmitteln zu kommen – in der Zukunft spricht Gurian die Dinge, die er braucht, in den Stimmrekorder, den er von überall aus anquatschen kann. Selbst wenn er gerade spazieren ist, kann er mit seinem persönlichen Lieferdienst kommunizieren. Innerhalb einer Stunde kommen die gewünschten Dinge schließlich per Drohnentransport zu ihm nach Hause – oder in den Park, ins Schwimmbad oder ins Flugmobil; dorthin jedenfalls, wo er seine Einkäufe benötigt.

      Als Gurian den sogenannten Supermarkt betritt, muss er sich erst orientieren. Er sieht, wie die anderen Menschen einen großen Metallkorb auf Rädern durch das Geschäft