Dirk Udelhoven

Fettnäpfchenführer Köln


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einer anderen Legende servierte ein Wirt seinem Gast ein ganzes Roggenbrötchen mit Käse, woraufhin der Gast sagte: »Ääver isch will doch bloß ne halve han.« (Aber ich möchte doch bloß ein halbes haben.) Der Wirt teilte das Roggenbrötchen und taufte das Gericht: Halve Hahn.

      Eine dritte Version kommt aus der Kriegszeit. Käse war damals billig, Brot teuer. Deshalb hörten die Wirte oft: »Kann ich och ne halve han?« (Kann ich auch ein halbes haben?)

       Schwaadschnüss

      Natürlich hat die kölsche Fooderkaart nicht nur den Halven Hahn zu bieten. Typisches Kennzeichen der Spezialitäten: angeberische Bezeichnungen für simple Gerichte. Wie zum Beispiel beim Kölschen Kaviar. Mit echtem Kaviar hat der nämlich rein gar nichts zu tun. Noch nicht mal mit dem Kaviarersatz, Fischrogen. Kölscher Kaviar ist schlicht und einfach Blutwurst. Auf Kölsch nennt man die Blutwurst aber Flönz oder Blotwoosch. Serviert wird der Kaviar mit den bereits bekannten Beilagen: Röggelchen, Senf und Zwiebelringe. Auf Kölsch heißen die Beilagen: »Röggelsche, Mostert un Musik.« Musik steht für Zwiebel, auf Kölsch Öllich. Musik, weil sich nach dem Öllich-Verzehr Magen und Darm gern auf die eine oder andere Weise bemerkbar machen. Woher die Bezeichnung Kölscher Kaviar kommt? Das liegt im Auge der Betrachter*innen.

      Auf der Fooderkaart darf nicht fehlen: Himmel un Ääd (Himmel und Erde). Das Gericht soll es bereits seit dem 18. Jahrhundert geben. Kross gebratene Blutwurstscheiben, geröstete Zwiebeln, Apfelmus und Kartoffelstampf. Wieso der Name? Ganz profan: Kartoffeln, die hier Äädappel heißen, also Erdapfel, kommen aus der Erde. Die Äpfel oder auf Kölsch Appel, vom Apfelmus, wachsen an Bäumen, also quasi am Himmel.

      Auf jeder Fooderkaart steht außerdem der Rheinische Sauerbraten, auf Kölsch der Soorbrode. Sein Hauptbestandteil könnte allerdings auf Ablehnung stoßen. Das Fleisch stammt vom Pferd. Wegen der Vorbehalte vieler Menschen kochen die meisten Restaurants das Gericht aber aus Rindfleisch. Dabei passt Pferdefleisch mit seiner süßlichen Note optimal zum süß-säuerlichen Essen. Das Fleisch wird stundenlang geschmort. Dem Sud werden anschließend Rosinen und zerbröselte Aachener Printen beigefügt und alles mit Rübensaft, Salz und Pfeffer abgeschmeckt. Fertig. Als Beilage gibt es diesmal kein Röggelchen mit Senf und Zwiebeln, sondern Kartoffelklöße und Apfelmus.

      Auch auf der Fooderkaart: Eisbein, auf Kölsch Hämmche. Das gepökelte Eisbein vom Ferkel wird gekocht und mit Sauerkraut, auf Kölsch suure Kappes, serviert. Der Name Hämmche kommt aus dem Englischen: ham für Schinken. Auf kölsche Lesart ist ham der große Schinken oder jruße Schinke, wie man hier sagt, und Hämmche der kleine Schinken oder kleene Schinke.

      Last but not least auf der Fooderkaart: Reibekuchen, der Rievkooche. Liebste Beilage der Kölner*innen: Apfelmus und Schwarzbrot.

      Übrigens: Weil die Kölner*innen große Enttäuschungen von Immis und Touris vermeiden wollen, haben die meisten Fooderkaarten eine hochdeutsche Übersetzung parat, bei Bedarf wird die englische Version ausgehändigt.

      7

       STOP AND GO

       ABER DIESMAL ANDERSWO

      Nach Ullas kulinarisch-kölscher Stippvisite, die mit ihrem dicken Fettnäpfchenplatscher und Stefans Schlaumeierei »Du wolltest ja nicht auf mich hören« endete, will Ulla den Spieß heute umdrehen. Oder wie es so schön heißt: Rache ist Blutwurst, in Köln natürlich: Blotwoosch.

      Beim Frühstück kippt Stefan noch den Kaffee herunter, schnappt sich Jacke und Tasche und gibt Ulla einen Kuss. Er muss zur Arbeit, fährt heute mit dem Auto, weil er einen Außentermin hat.

      »Wann bist du ungefähr wieder zu Hause?«, fragt Ulla.

      Stefan zuckt mit den Achseln. »Wie immer. Wieso?«

      Ulla lächelt verschmitzt und tut betont beiläufig, dass nichts Besonderes sei, außer dass sie für Stefan und sich zum Abendessen etwas zaubern möchte.

      Stefan horcht überrascht auf. Er kennt Ullas Unlust am Kochen. »Gibt es einen besonderen Grund?«

      Ulla schüttelt den Kopf. »Ich koch was aus meiner Heimat.«

      Stefan lacht. »Hat dir unser Halver Hahn etwa nicht geschmeckt?«

      »Ganz vorzüglich«, grinst Ulla und fügt foppend hinzu, »aber ist doch immer schön, mal über den eigenen Tellerrand zu schauen, oder?« Sie weiß, wie ungern sich Stefan auf Neues einlässt.

      Er knufft und küsst sie und schnurrt: »Dann lass mich mal über deinen Tellerrand gucken, Süße. Ich bin pünktlich um halb sechs wieder hier. Was gibt es denn Leckeres?«

      »Überraschung«, kichert Ulla vergnügt.

      Kaum ist Stefan weg, sputet sie sich. Sie muss die Zutaten für den Grönen Heini kaufen. Den was? Ja, man glaubt es kaum, aber nicht nur in Köln gibt es Essen mit merkwürdigem Namen. Auch in Itzehoe kennt man das. Der Gröne Heini heißt auch Beer’n, Boh’n un Speck, Gröön Hinnerk oder einfach Birnen, Bohnen und Speck.

      Ulla will Stefan mit dem Namen foppen. Das Essen selbst wird ihm schmecken. Das hat ihr der gestrige Ausflug ins Kölner Brauhaus gezeigt: Rheinländer*innen und Schleswig-Holsteiner*innen teilen gleiche Geschmacksvorlieben.

      Das typisch holsteinische brooken sööt (herzhaft-süß) und das söötsuur (süßsauer) findet sich auch in der Kölner Fooderkaart, zum Beispiel beim Rheinischen Sauerbraten. Die Lust auf Deftiges und Fettiges gibt es hüben wie drüben, und hier wie dort trinkt man Bier und kippt im Anschluss Schnäpschen. In Itzehoe ’nen Lütten, traditionell ein Köm (Kümmelschnaps), in Köln ’n Vügelche, traditionell Kabänes (Kräuterlikör).

      Ein paar Stunden später schleppt Ulla ihre Einkäufe in die Wohnung. Gar nicht so leicht, um nicht zu sagen unmöglich, die richtigen Zutaten für ihr nordisches Gericht zu bekommen. Die Kochbirnen, die nur gegart genießbar sind, hat sie nicht gefunden. Eigentlich kein Wunder. Die alten Sorten sind selten, und zudem ist jetzt, im Frühjahr, auch keine Birnenzeit. Handelsübliche, von irgendwoher importierte Birnen aus dem Supermarkt mussten es also tun. Im Supermarkt gab es auch grüne Brechbohnen. In der Metzgerei im Viertel bekam sie immerhin durchwachsenen, luftgetrockneten und -gelagerten Speck, so wie er sein soll. Das Essen zu kochen ist selbst für die passionierte Nicht-Köchin Ulla nicht allzu schwer. Alles in einen Topf, nur in der richtigen Reihenfolge: Speck, Bohnen und zu guter Letzt die Birnen.

      Halb sechs. Der Tisch ist gedeckt, Bier und Köm im Eisfach und das Essen servierfertig. Ein letzter prüfender Blick in den Spiegel, schnell noch mal Lippenstift nachgezogen und perfekt. Fehlt nur noch das Tüpfelchen auf dem i: Stefan.

      Die Zeit verrinnt. Für Ulla eine gefühlte Ewigkeit, in Wirklichkeit ein paar Minuten. Geduld war noch nie Ullas Stärke. Unruhig geht sie durch die Wohnung, sieht durch das Fenster auf die Straße, checkt das Essen.

      Zwanzig vor sechs. Ob ihm was passiert ist?, drängt sich ein Gedanke in ihr Hirn. Vielleicht ein Unfall? Stefan hatte einen Außentermin, er fährt nicht so oft mit dem Auto, und der Verkehr in und um Köln ist schlimm.

      Sie kennt die Stadt, lange bevor sie auch nur im Traum daran dachte, herzuziehen. Und zwar von den Staumeldungen aus dem Autoradio. Auf der A 1 zehn Kilometer Stau zwischen Kreuz Leverkusen-West und Kreuz Köln-West, stockender Verkehr auf der A 3, Köln–Frankfurt, zwischen Dreieck Köln-Heumar und Königsforst in beiden Richtungen. A 57, Krefeld–Köln, zwischen Köln-Chorweiler und Köln-Longerich stockender Verkehr in beiden Richtungen.

      Seitdem sie in Köln ist, gewiss noch nicht lange, hat Ulla eins sehr schnell mitgekriegt: Nicht nur auf den Kölner Autobahnkreuzen staut es, sondern auch innerhalb Kölns heißt es Stop-and-go.