die Gassen getrieben wurden. Gedämpft vollzog sich das Leben zwischen Aegidientor und Marktkirche, zwischen Leineschloss und Klickmühle. Ein grauer Himmel lastete über der Stadt. Tief und trübe. So wurde es schon früh dunkel.
Wenige Stunden später aber wurde es im Rathaus hell. Die Säle und Prunksalons strahlten im Kerzenschein von Kandelabern und Kronleuchtern, bengalisches Licht floss aus Schalen auf glänzenden Marmorsäulen, Gläser voll Champagner und Rotwein funkelten auf Silbertabletts, Geigen, Gamben, Krummhorn, Flöten und Schalmeien ließen den grauen Tag vergessen. Und der Duft parfümierten Wassers überlagerte den Qualm der Tabakspfeifen und die fauligen Ausdünstungen, die durch die Fenster hereinkrochen. Inmitten dieses festlichen Funkelns plauderte, prostete, trank und tanzte eine märchenhaft aufgeputzte Schar in bunten Kostümen: Harlekine, griechische Gottheiten, Bauern, Schäferinnen und Amazonen mit edelsteinbesetzten Roben aus raschelnder Seide.
Karneval in Hannover. Ernst August scheute keine Kosten, um zu demonstrieren, dass sich das Spiel der Verkleidung und des Rollentauschs nicht nur in Venedig, sondern auch an der Leine in Szene setzen ließ. Er selbst gefiel sich als »Hans Wurst« – in der derb-komischen Gestalt des universalen Schauspielers, der sich durch Komik, maßlose Gefräßigkeit und sexuelle Grenzenlosigkeit auszeichnete. Für den diesjährigen Straßenumzug hatte der Herzog angeordnet, dass sich sämtliche seiner männlichen Gäste als »Hanswürste« zu verkleiden und in vier »Banden« durch die Stadt zu ziehen hatten. Das hatte etwas Befreiendes, das auch die älteren Vertreter des Hochadels schätzten. Denn während der übrigen Zeit des Jahres beherrschte ja das minutiös festgelegte Protokoll das Leben der Fürstenhöfe.
Herzogin Sophie war in das Kostüm einer Zigeunerin geschlüpft, um mit ihrem Gemahl den Maskenball zu eröffnen – zu Ehren des Celler Herzogspaares, das zu einem Besuch in Hannover weilte. Um die neue Verbundenheit zu demonstrieren, hatte sie sich ihren früheren Verlobten zum »Partner der Nacht« gewählt. Gemeinhin wurden die Paare durch das Los bestimmt, die Herren zogen eckige, die Damen runde Holzplättchen, deren Farbe dann über die Paarung entschied. Aber natürlich konnte man ein wenig nachhelfen. Und Sophie war sich mit ihrem Mann einig, dass aller Welt vor Augen geführt werden musste, wie die Welfenfamilie jetzt zusammenstand.
Die Beziehung der herzoglichen Brüder war gut wie nie. Die Große Allianz gegen den Franzosenkönig Ludwig XIV. schweißte auch die Herzöge von Celle und Hannover zusammen. Gemeinsam mit den Soldaten des Kaisers, der Schweden und der Spanischen Niederlande boten die Truppen der Welfenherzöge in Flandern und der Pfalz dem Sonnenkönig Paroli. Wer wusste denn, wer als nächster von den Rollkommandos dieses Größenwahnsinnigen aus Versailles überfallen wurde? Da galt es zusammenzuhalten.
Hinter der Einladung stand aber auch das Bemühen, die desolate Ehe des Prinzenpaars zu retten. Doch sehr erfolgversprechend ließ sich der Abend in dieser Hinsicht nicht an. Sophie Dorothea richtete ihre Blicke nicht auf Georg Ludwig, sondern auf einen anderen Mann. Durch das Los war ihr ein Partner zugefallen, der sich wie ein Märchenprinz aus Tausendundeiner Nacht herausgeputzt hatte – mit Rosa- und Silberbrokat, Krummsäbel und Turban: Graf Philipp Christoph von Königsmarck. Der Soldat und Kavalier mit dem dunklen Oberlippenbart und den grau-grünen Augen war im Mai 1689 als Gardeoberst in den Dienst Ernst Augusts getreten. Man kannte sich. Sophie Dorothea war dem ein Jahr älteren Grafen schon in Celle begegnet, wo er seinerzeit mit seiner Mutter zu Besuch gewesen war.
Im Februar 1688 hatten sie sich das erste Mal bei einem Ball in Hannover wiedergesehen. Philipp Christoph hatte sogar am Tisch des Prinzenpaares gesessen. »Erinnert sich Eure Herzogliche Durchlaucht noch an meinen Besuch in Celle?«, hatte er zu fragen gewagt. Die Röte war Sophie Dorothea in die Wangen geschossen, flüsternd hatte sie geantwortet: »O Gewiss, wie sollte ich das vergessen.«
Königsmarck hatte sich im Jahr zuvor von seiner Verlobten Charlotte Dorothea Rantzau, der Tochter des dänischen Statthalters in den Herzogtümern Schleswig und Holstein, getrennt und war offen für eine neue Eroberung.
Seine »Partnerin der Nacht« war ganz nach seinem Geschmack. Ähnlich wie beim Karneval in Venedig gefiel sich die Prinzessin in einem Florakostüm – in einer weißen mit Blümchen besetzten Robe, das Haar und das weit ausgeschnittene Dekolleté geschmückt mit gelben und roten Seidenrosen. Und sie sahen sich nicht nur in die Augen, sondern tanzten auch miteinander. Zum Beispiel Menuett.
In kleinen gemessenen Schritten bewegte sich das hübsche Paar übers Parkett und vollführte die verlangten Figuren mit einer Anmut, die unter den Gästen höchste Bewunderung hervorrief.
Sophie Dorothea kannte diesen vornehmen Tanz ja schon, bevor Ludwigs XIV. ihn hoffähig gemacht hatte. Ihre Mutter hatte ihr in Celle die Schritte beigebracht, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Denn der Tanz kam ja aus der Heimat von Eleonore d’Olbreuse, war einst ein Volkstanz im Poitou gewesen. So war die Herzogin von Celle jetzt ganz besonders entzückt, dass ihre Tochter hier in Hannover mit dem Menuett so hübsch zu glänzen verstand. Dass es nicht der Gatte war, mit dem sie tanzte, sah sie gelassen. Sie wusste ja um den prekären Zustand der Ehe. Da war es doch gut, dass Sophie Dorothea sich endlich einmal ein bisschen amüsierte. Augenzwinkernd nickte sie ihr zu.
Auch die Augen einer anderen Dame in fortgeschrittenem Alter ruhten auf dem jungen Paar: die von einer Lorgnette vergrößerten Augen der Gräfin Platen, die im goldglitzernden Gewand aus grüner Seide als Fruchtbarkeitsgöttin erschienen war.
Widerstrebende Gefühlen bewegten die Mätresse des Herzogs. Einerseits ärgerte es sie, dass dieser Königsmarck sich Sophie Dorothea geangelt hatte, anstatt mit ihr, seiner Gönnerin, zu tanzen. Andererseits genoss sie es aber auch, den schönen Mann mit den kindlichen Gesichtszügen beim Tanz zu beobachten. Ach, mochte dieser Bruder Leichtfuß noch so ein Halunke sein, seine Erscheinung elektrisierte sie derart, dass ihr Seidenkleid knisterte. Doch der Anblick seiner Partnerin wühlte sie so auf, dass sie an diesem Abend kaum mehr einen anderen Gedanken fassen konnte, als Wege und Mittel zu ersinnen, um Königsmarck für sich zu gewinnen. Ganz allein für sich. Sie nahm sich fest vor, die nächste sich bietende Gelegenheit zu nutzen, um ihn einzuladen, einmal wieder auf ihr Schlösschen in Linden zu kommen. Natürlich nicht ihretwegen, wie üblich würde sie einen anderen Grund vorschieben. Der schöne Graf sollte ihre Tochter beglücken: die erst vierzehn Jahre alte Sophie Charlotte, deren Vater Herzog Ernst August war, das Kind der herzoglichen Seitensprünge. Es war kein Geheimnis, dass der Herzog Oberst Königsmarck dazu ausersehen hatte, seine uneheliche Tochter zum Traualtar zu führen. Und die Platen unterstützte ihn in diesem Bemühen. Jedenfalls nach außen hin. Schon einige Male hatte sie Philipp Christoph augenzwinkernd auf ihr Herzblut hingewiesen und dabei auch nicht versäumt, ihm andeutungsweise die Erbansprüche auszumalen, die sich mit der jungen Dame verbanden. Dass die kleine Sophie Charlotte vielleicht noch ein wenig jung für den Grafen war, war dabei das geringste Problem.
Die Gräfin nippte an ihrem Champagner, während sie sich in Gedanken schon mit dem schönen Tänzer im Bett räkelte. Aber erst einmal galt es, die Prinzessin zu übertrumpfen, diese alberne Schnepfe. Da bahnte sich etwas an. Das war für die erfahrene Liebhaberin unübersehbar.
Sophie Dorothea tanzte nicht, sie schwebte. Und das Lächeln des Tanzpartners bestärkte sie in dem Gefühl, dass ihre Empfindung nicht ganz einseitig war.
Wer war dieser Mann, dem die Herzen so vieler Frauen zuflogen?
Krieger und Kavalier:
Philipp Christoph Königsmarck
Philipp Christoph Königsmarck wurde am 14. März 1665 in Stade geboren, als Sohn Konrad Christoph Königsmarcks, des Vizegouverneurs der schwedischen Herzogtümer Bremen und Verden. Die Familie entstammte dem Uradel der Mark Brandenburg. Zu Reichtum und gesellschaftlichem Aufstieg war sie durch Philipp Christophs Großvater gelangt. Als ruhmreicher Heerführer im Sold der Schweden hatte es Hans Christoph Königsmarck (1600 – 1663) nämlich verstanden, enormen Gewinn aus dem Dreißigjährigen Krieg zu ziehen. Und die Reichtümer, die der alte Haudegen anhäufte, speisten sich nicht nur aus Beutezügen, Kriegsgewinnen und Lösegeldern, sondern auch aus den Belohnungen, mit denen die schwedische Königin Christine den Feldmarschall überhäufte. Die Königsmarcks, sie waren 1651 in den Grafenstand erhoben worden, erhielten Güter im gesamten Reichsgebiet