Karin Bojs

Meine europäische Familie


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die „Multiregionale Hypothese“ genannt und sie sind größtenteils falsch. Dennoch enthalten sie einige Körnchen Wahrheit. Die neue DNA-Technik hat diese Körnchen sichtbar gemacht.

      Mehr als jeder andere hat der in Schweden geborene Svante Pääbo durch die Untersuchung alter DNA zur Erforschung der frühen Geschichte des Menschen beigetragen.

      Heute ist er einer der bekanntesten Forscher der Welt und leitet die Abteilung für Evolutionäre Genetik am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, die er selbst mit begründet hat.

      Während der Arbeit an diesem Buch besuche ich das Institut zweimal. Es liegt in einem großen, eigens hierfür errichteten Gebäude, durch dessen Glaswände Licht hereinflutet. In einem Atrium glitzert Wasser in einem von Grünpflanzen umgebenen Teich. Die Kletterwand im Eingangsbereich wurde nach Anweisungen von Svante Pääbo errichtet und erstreckt sich über alle vier Geschosse. Junge Forscher trainieren an dieser Wand, bevor sie zu Feldstudien nach Afrika reisen, um in Baumkronen lebende Affen zu beobachten. Neben der Kletterwand steht ein Flügel, den der Chor zum Üben nutzt. All das deutet schon den besonderen Charakter des Instituts an. Die Wissenschaftler arbeiten in verschiedenen Forschungsgebieten wie Psychologie, Paläontologie und Linguistik, um zu verstehen, wie wir uns zu den Menschen entwickelt haben, die wir heute sind. Die hauptsächlichen Forschungszweige des Instituts sind jedoch die Molekularbiologie und die DNA-Forschung.

      Das Labor für die Gewinnung alter DNA liegt im Keller, damit keine unerwünschten Verunreinigungen eindringen können. Hier unten arbeiten Svante Pääbo und seine jungen Kollegen an der Weiterentwicklung der Technik. Mittlerweile haben sie zahlreiche Konkurrenten in verschiedenen Ländern, aber die Gruppe in Leipzig ist immer noch führend in der Welt. In der Woche, in der ich das Institut zum zweiten Mal besuche, veröffentlichen sie gerade eine Studie über die DNA eines ungefähr 400.000 Jahre alten Urmenschen in Spanien, der somit aus einer Zeit stammt, in der sich der Neandertaler noch gar nicht entwickelt hatte.

      Svante Pääbo arbeitet im Bereich der Spitzenforschung, die Technik und Wissenschaft vorantreibt. Berühmt gemacht haben ihn jedoch die Neandertaler, und dank seiner immer höher aufgelösten Analysen der Neandertaler-DNA ist er auch einem breiten Publikum bekannt geworden.

      Als ich sein Büro betrete, empfängt mich als Erstes das Skelett eines Neandertalers, das zwischen Schreibtisch und Sitzgruppe eingezwängt ist. Es besteht aus Nachbildungen verschiedener Knochen, die bei Ausgrabungen gefunden wurden. Der Neandertaler ist klein und von kräftigem Körperbau. Svante Pääbo dagegen ist groß und schlank und hat ein längliches Gesicht.

      Zeitungen in aller Welt berichteten seitenweise sowohl über seine Forschung als auch über seinen ungewöhnlichen familiären Hintergrund als heimlicher außerehelicher Sohn von Sune Bergström, Nobelpreisträger und Rektor des Karolinska-Instituts. In seiner interessanten Autobiografie Der Neandertaler und wir hebt Svante Pääbo vor allem die Rolle seiner aus Estland geflohenen Mutter, der Lebensmittelchemikerin Karin Pääbo, hervor. Als er dreizehn Jahre alt war, nahm sie ihn auf eine Reise nach Ägypten mit, wo er von den Mumien fasziniert war. So kündigte sich seine Karriere als Forscher an.

      Svante Pääbo wuchs in dem Stockholmer Vorort Bagarmossen auf, lernte Russisch in der Dolmetscherschule des Militärs (einer der schwierigsten Ausbildungsgänge der Streitkräfte) und studierte Ägyptologie und Koptisch an der Universität Uppsala. Nach ein paar Jahren wechselte er von der Ägyptologie zur Medizin und begann nach vier Jahren Medizinstudium in der Zellbiologie zu forschen.

      Seine Arbeit bestand in der Erforschung eines Virusproteins. Daneben versuchte er heimlich, DNA von tausendjährigen Mumien zu isolieren. Sein Chef ahnte nichts davon, bis Svante Pääbo seinen ersten wissenschaftlichen Artikel veröffentlichte. Er erschien in einer ostdeutschen Zeitschrift, weil Pääbo die ersten Mumien aus einem Museum in Ostberlin bekommen hatte.

      Im Nachhinein stellte sich heraus, dass es sich bei dem, was Svante Pääbo für sensationelle Mumien-DNA gehalten hatte, wahrscheinlich überwiegend um Verunreinigungen durch heutige Menschen handelte. Doch die Idee war geboren: Er hatte bewiesen, dass DNA in mehrere Tausend Jahre altem Gewebe überleben kann.

      Im Westen nahm niemand von dem ostdeutschen Artikel Notiz. Ein Jahr später veröffentlichte Pääbo jedoch einen Beitrag in der britischen Zeitschrift Nature, der großes Aufsehen erregte. Unter anderem erhielt Pääbo einen Brief von Allan Wilson von der Universität Berkeley in Kalifornien, der damals einer der führenden Spezialisten für Evolution und DNA war. Wilson bat darum, in „Professor Pääbos“ Labor arbeiten zu dürfen. Svante Pääbo war damals gerade dreißig Jahre alt geworden. Er hatte seine Doktorarbeit noch nicht abgeschlossen und es stand ihm selbstverständlich kein eigenes Labor zur Verfügung.

      Stattdessen wurde vereinbart, dass Svante Pääbo in Allan Wilsons Labor in Kalifornien forschen durfte. Dort hatten Wilson und seine Mitarbeiter begonnen, DNA-Technik zu benutzen, um Licht ins Dunkel der menschlichen Frühgeschichte zu bringen.

      1987 konnten sie die erste Studie veröffentlichen, die mithilfe der DNA-Technologie belegt, dass der Ursprung aller heute lebenden Menschen in Afrika liegt. Unsere gemeinsame Urahne war eine Frau, die vor ungefähr 200.000 Jahren in Afrika lebte und „mitochondriale Eva“ genannt wird. Der Name „Eva“ ist natürlich eine Anspielung auf die biblische Schöpfungsgeschichte. Mitochondrien sind spezielle Strukturen in Zellen, die kleine Mengen DNA enthalten. Anfangs stützten sich alle DNA-Analysen zum Ursprung der Menschheit ausschließlich auf mitochondriale DNA. Die ist nämlich weitaus leichter zu untersuchen als DNA aus dem Zellkern, da die meisten Zellen Tausende Mitochondrien enthalten, aber nur einen Zellkern. Allerdings kann man mit Mitochondrien-DNA ausschließlich Herkunftsnachweise in weiblicher Abstammungslinie führen, weil wir unsere Mitochondrien nur von unseren Müttern erben.

      Schon 1987 war die Technik also ausgereift genug, um der mitochondrialen „Eva“ auf die Spur zu kommen, auch wenn die Arbeitsmethoden aus heutiger Perspektive äußerst umständlich anmuten. Die jungen Wissenschaftler in Allan Wilsons Labor besuchten Entbindungsstationen in Kalifornien und sammelten Mutterkuchen von Frauen aus unterschiedlichen Teilen der Welt ein. Mühevoll extrahierten sie daraus die DNA und berechneten die Resultate mit ihren primitiven Computern.

      Linda Vigilant, die heute mit Svante Pääbo verheiratet ist, war Doktorandin bei Allan Wilson. Sie führte einige Jahre später eine Folgestudie zur mitochondrialen „Eva“ durch. Die Computer waren immer noch so leistungsschwach und langsam, dass die Berechnungen eine Woche dauerten. Aber die DNA-Technik hatte große Fortschritte gemacht. Ein kalifornischer Wissenschaftler hatte eine Kopiermethode entwickelt, die PCR genannt wird und einige Jahre später mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Mithilfe dieser Kopiermethode konnten die Wissenschaftler nun statt der Mutterkuchen einzelne Haare als Arbeitsmaterial nutzen. Anthropologen in verschiedenen Erdteilen halfen bei der Beschaffung von Haaren aller möglichen Ethnien. Und die Ergebnisse der ersten Studie bestätigten sich: Vor ungefähr 200.000 Jahren lebte in Afrika eine Frau, von der alle heute lebenden Menschen abstammen. Sie ist unser aller gemeinsame Urahne.

      Einige Jahre später, 1995, konnten amerikanische Wissenschaftler Erkenntnisse über das männliche Gegenstück der mitochondrialen „Eva“ veröffentlichen. Es wird „Adam des Y-Chromosoms“ genannt. Die verbesserte DNA-Technik und die immer leistungsfähigeren Computer hatten es ermöglicht, Y-Chromosomen von Männern aus verschiedenen Erdteilen zu vergleichen. Y-Chromosomen enthalten sehr viel mehr DNA als Mitochondrien und werden nur vom Vater auf den Sohn vererbt. Sie können also nur für Stammbäume in der direkten männlichen Linie verwendet werden. Die Ergebnisse zeigen, dass vor ungefähr 200.000 Jahren ein Mann lebte, der der Urahn aller heute lebenden Männer war. Auch dieser Adam des Y-Chromosoms lebte in Afrika.

      Damit war die Sache klar. Die Multiregionale Hypothese war tot. Die Wiege des modernen Menschen stand in Afrika.

      Die DNA-Technik verbesserte sich stetig. Nicht zuletzt von Svante Pääbo selbst wurden Schritt für Schritt Methoden entwickelt, mit denen man mehrere Tausend Jahre alte Proben analysieren kann. Bei der Untersuchung fossiler Tiere lernte er, die Proben sauber zu halten. Die Schwierigkeit bestand darin, Verunreinigungen durch Staub, alte Bakterien und durch die Berührung heutiger Menschen zu vermeiden.

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