Karin Bojs

Meine europäische Familie


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Beisammensein getroffen, sondern einander viel eher aus der Ferne beobachtet haben. In einigen Fällen kam es zu sexuellen Begegnungen. Einige wenige Bastarde wurden geboren. Bald darauf starben die Neandertaler aus, zuerst im Nahen Osten und später in Kaukasien, Sibirien und Europa.

      Jean-Jacques Hublin ist fest davon überzeugt, dass unsere Ankunft der Grund dafür war. Mit überlegenen Jagdmethoden und unserer größeren Mobilität setzten wir uns gegen die Neandertaler durch. Vielleicht töteten wir sie aber auch einfach. Einige Forscher weisen auf andere denkbare Erklärungen hin, wie zum Beispiel dass wir mit Kälteperioden und Vulkanausbrüchen besser zurechtkamen, weil wir uns besser darauf verstanden, aus Fellen warme Bekleidung zu nähen. Hublin hält all diese Begründungen für vorgeschoben. Die Neandertaler hatten Eiszeiten und Kälteeinbrüche über Hundertausende von Jahren überlebt. Manchmal waren sie kräftig dezimiert worden, aber wenn das Klima sich erwärmte, erholten sie sich wieder. Bis wir kamen. Laut Jean-Jacques Hublin sind die alternativen Erklärungen nur entstanden, damit wir der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen müssen: Wir haben schlicht und einfach eine ganze Menschengruppe ausgerottet. Die Neandertaler hatten mehrere Hunderttausend Jahre lang in Europa und Asien gelebt, bis wir kamen und sie ablösten. (Als der Mensch später in Asien weiter nach Osten wanderte, kam es noch mindestens zweimal zu vergleichbaren Phänomenen. Bei unserem Auftauchen verschwanden sowohl der Denisova-Mensch als auch der zwergenhafte Flores-Mensch auf der indonesischen Insel Flores.)

      Zwar waren die Neandertaler körperlich stärker als wir, doch waren wir ihnen auf anderen Gebieten überlegen. Vermutlich konnten wir besser sprechen, wovon unsere leicht abweichenden FOXP2-Gene zeugen. Die Sprache erleichterte uns die Unterhaltung größerer Netzwerke mit stabileren Verbindungen. Funde von Schneckenhäusern und seltenen Steinen belegen, dass moderne Menschen Netzwerke besaßen, die sich über fünfhundert Kilometer erstreckten, während die Neandertaler Gegenstände nur über deutlich kürzere Entfernungen austauschten.

      Einzelfunde deuten darauf hin, dass Neandertaler ihre Toten begruben. Doch auch Schimpansen decken manchmal ihre Toten mit Zweigen und Ästen zu. Dass die Neandertaler Blumen in die Gräber gelegt haben sollen – eine These, die aufgrund eines Fundes im Irak aufgestellt wurde –, ist höchst umstritten. Demgegenüber gibt es zahlreiche Funde, die klar belegen, dass moderne Menschen ihre Toten sorgfältig begruben und ihnen Grabbeigaben mitgaben.

      Ein großer und deutlicher Unterschied zu den Neandertalern besteht darin, dass moderne Menschen Musikinstrumente verwendeten und gegenständliche Kunstwerke herstellten. Zwar gibt es einige einfache Strichmuster, die von Neandertalern in Spanien geritzt worden sein könnten und sogar von noch früheren Urmenschen auf Java, doch Kunst, die Tiere, Menschen und Fantasiefiguren darstellt, entstand erst mit uns modernen Menschen.

      Die ältesten Beispiele von Musikinstrumenten und gegenständlicher Kunst in der Welt sind in Europa gefunden worden. Tatsache ist, dass meine eigenen Verwandten – in direkter mütterlicher Abstammungslinie – dabei waren, als musizierende, künstlerische, anatomisch moderne Menschen Europa erstmals kolonisierten. Das verrät uns die DNA-Technik.

      Ein Jahr nach meiner ersten Begegnung mit Svante Pääbo unternahm ich eine Reportagereise nach Island und besuchte das Unternehmen Decode in Reykjavík. Dort interviewte ich Kári Stefánsson, einen weiteren Pionier der DNA-Forschung. Er baute gerade das Genforschungsunternehmen Decode auf, das hier unter besonderen Bedingungen arbeitet: Zum einen ist Island eine Insel, auf der die Menschen immer relativ isoliert gelebt haben. Zum anderen sind viele Isländer an Familienforschung interessiert. Einige können ihre Abstammung bis in das 9. Jahrhundert zurückverfolgen, als die Insel erstmals besiedelt wurde.

      Kári Stefánsson war damals ein großer, blonder und auffallend gut aussehender Mann in den Fünfzigern. Ihn zu interviewen war etwas Besonderes, wie auch andere Journalisten bestätigen. Seine Masche ist es, sich anfangs besonders unverschämt zu verhalten. Wenn er dann den Eindruck gewinnt, dass der Journalist seinen Anforderungen entspricht, wechselt er die Strategie und wird freundlich und offenherzig.

      Glücklicherweise bestand ich seinen Test. Lange saß ich mit ihm in seinem Büro und betrachtete das kunstvolle Seestück an der Wand, während er mir seine Vorhaben erläuterte. Er demonstrierte mir sein neues Computerprogramm, dem sämtliche Angaben aus den isländischen Kirchenbüchern zugrunde lagen, die einige Frauen für ihn erfasst hatten. Man musste nur ein paar Tasten drücken und schon konnte man beobachten, wie der eigene Stammbaum über Hunderte von Jahren auf dem Bildschirm entstand, und seine eigene Position im Verhältnis zu den anderen isländischen Familien ermitteln. Beim heutigen Stand der Technik klingt das vielleicht trivial, aber im Jahr 1998 war solch ein Programm eine Sensation.

      Decodes Forscher glichen die Angaben aus den Stammbäumen mit DNA-Analysen zahlreicher Isländer ab.

      Zu diesem Zeitpunkt tobte auf Island eine heftige Debatte darüber, welche ethischen und gesetzlichen Regeln hierfür gelten sollten. Unter anderem wurde diskutiert, in welchem Umfang das Unternehmen Decode Zugriff auf biologisches Material aus dem Gesundheitswesen erhalten sollte. Allmählich glätteten sich die Wogen und Decode wurden weitgehende Rechte eingeräumt. Gleichzeitig wurde jedoch auch gesetzliche Regelungen geschaffen, die die ethischen Grenzen festlegten. Verglichen mit den eher wild westähnlichen Verhältnissen, die vor den Zeiten der Genforschung in den 1980er- und 1990er-Jahren herrschten, sind heute die ethischen Vorgaben in den meisten Ländern generell strenger.

      Seit der Unternehmensgründung haben Kári Stefánsson und die Wissenschaftler bei Decode große Mengen an Forschungsergebnissen vorgelegt, in erster Linie zu verschiedenen Genvarianten, die das Risiko für bestimmte Krankheiten verringern oder erhöhen.

      Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen ist ihre Arbeit eine einzige Erfolgsgeschichte. Beinahe monatlich veröffentlichen sie Artikel in den anerkanntesten medizinischen Zeitschriften. Aus wirtschaftlicher Perspektive sieht es allerdings schlechter aus. Decode war als gewinnorientiertes Unternehmen angetreten, doch ein Gewinn konnte nie erwirtschaftet werden. 2009 ging das Unternehmen in Konkurs und wurde von Interessenten aus der Biotechnologiebranche in den USA übernommen.

      Schon vorher hatte Decode mit dem Verkauf von Gentests an Privatpersonen über das Internet begonnen, um zusätzliche Einkünfte zu generieren. Ich habe so einen Test gekauft, zu der damaligen Zeit der umfangreichste, den eine Privatperson erwerben konnte. Er erfasste eine Million „Punkte“ auf meiner DNA und kostete circa 15.000 schwedische Kronen. Ich investierte so viel Geld, weil ich für eines meiner Bücher recherchierte, das 2011 erschienen ist. Ich wollte wissen, wie ich auf Informationen über mein persönliches Risiko für bestimmte Erkrankungen reagieren würde.

      Tatsächlich ließen mich die Nachrichten über meine Gesundheit weitgehend unberührt. Ich hatte ein leicht erhöhtes Risiko hier und ein etwas niedrigeres Risiko dort. So habe ich zum Beispiel ein leicht erhöhtes Risiko, an bestimmten Krebsarten zu erkranken, unter anderem an Hautkrebs, was ich mir angesichts meiner blonden Haare und sehr hellen Haut ja auch schon selbst denken konnte.

      Außerdem erfuhr ich, dass ich die Fähigkeit habe, Milchzucker zu spalten, und deshalb Frischmilch trinken kann – was bei Nordeuropäern häufig vorkommt, aber im Rest der Welt ungewöhnlich ist. Das war keine Überraschung. Dass ich Milch vertrage, wusste ich schon lange.

      Ein ganz anderer Punkt jedoch, mit dem ich nie gerechnet hätte, faszinierte mich viel mehr. Ich erfuhr, dass ich der Haplogruppe U5 angehöre.

      Die Techniker von Decode hatten also den Teil meiner DNA untersucht, der aus den Mitochondrien stammt – diesen kleinen Strukturen in den Zellen, die man nur von seiner Mutter erbt und die überwiegend unverändert über viele Generationen von der Mutter an das Kind weitergegeben werden. Manchmal erfährt die mitochondriale DNA kleine Veränderungen – Mutationen –, weshalb sie bei verschiedenen Menschen etwas unterschiedlich aussieht. Diese Variationen können in Stammbäumen sortiert werden. Eine Haplogruppe entspricht einem bestimmten Zweig des Stammbaums, der eine gemeinsame Basis hat. Das bedeutet, dass alle Äste und Zweige oberhalb dieser Basis eine gemeinsame Vorfahrin haben.

      Auf diese Weise konnten Forscher schon in den 1980er-Jahren die gesamte Menschheit