im Kaukasus, in Sibirien und Europa. Die Neandertaler lebten dort jahrtausendelang, dann kamen wir und sie verschwanden. In einigen Regionen waren die Neandertaler schon verschwunden, bevor wir eintrafen. So stellt es sich in Hohle Fels dar. Andernorts lassen die Grabungen Überschneidungen von mehreren Tausend Jahren erkennen, während derer mehrere Gruppen gleichzeitig gelebt haben könnten – wenn auch in gebührendem Abstand voneinander. Außerdem gibt es Beispiele von Ausgrabungen, wo alle Neandertalerspuren abrupt aufhören und unmittelbar darauf Spuren von uns modernen Menschen sichtbar werden.
In der Nähe des Grabes von Kostenki und in Erdschichten aus derselben Periode haben Archäologen außer Nadeln auch eine Reihe anderer Gegenstände gefunden, die für das Aurignacien typisch sind: Werkzeuge aus Knochen und Horn, außerdem Steine, die von einhundertfünfzig Kilometer weit entfernten Felsen stammen.
Die Aurignacien-Menschen in Kostenki stellten auch Schmuckstücke aus Eckzähnen von Polarfüchsen und aus Schneckenhäusern her, die vom fünfhundert Kilometer südlich gelegenen Schwarzen Meer stammen. Sie fertigten sogar längliche Perlen aus Fuchs- und Vogelknochen mit spiralförmigen Rillenmustern an.
Ähnliche Perlen sind überall dort gefunden worden, wo die Aurignacien-Menschen ihre Spuren hinterlassen haben. Der Grabungsplatz Abri Castanet in der Dordogne in Frankreich war ehemals eine regelrechte Fabrik, wo Perlen aus Mammutzähnen, Rentiergeweihen sowie aus Speckstein in Serie hergestellt wurden. Speckstein kam lokal nicht vor, sondern muss aus der Gebirgskette der Pyrenäen, viele Kilometer weiter südlich, herangeschafft worden sein. Die Menschen in den Bergen der Dordogne schmückten sich auch mit Schnecken aus dem Mittelmeer und von der Atlantikküste. Entweder legten sie selbst Strecken von bis zu zweihundert Kilometern zurück, oder sie unterhielten gut ausgebaute Netzwerke, innerhalb derer sie Waren mit anderen Gruppen austauschten.
Mutmaßlich kamen die Aurignacien-Menschen über die Türkei aus dem Nahen Osten. Mit Sicherheit wanderten sie vor gut 43.000 Jahren an der Donau entlang nach Westen. Lassen wir einmal die Frage außer Acht, ob sie Flöten und Kunstgegenstände aus Elfenbein in ihrem leichten Gepäck hatten, auch wenn ich glaube, dass es sich so verhielt. Auf jeden Fall waren ihre Kleider mit Schmuck verziert.
Doch es lebten sogar noch früher anatomisch moderne Menschen in Europa – Menschen wie wir.
Die ältesten Hinterlassenschaften in Kostenki stammen vermutlich von Neandertalern. Aber in den letzten 45.000 Jahren scheinen die Gegenstände von modernen Menschen herzurühren. Diese Funde sind also bedeutend älter als der Mann aus Kostenki, dessen DNA untersucht wurde, und als alle anderen Funde aus der Kultur des Aurignacien.
Mindestens genauso alte Steinwerkzeuge – allem Anschein nach von modernen Menschen – wurden an einigen Orten im heutigen Ungarn und Tschechien entdeckt. Mutmaßlich unternahmen kleine Gruppen schon sehr früh Vorstöße nach Europa hinein, vielleicht schon vor 50.000 Jahren. Doch diese frühen Pioniere überlebten nicht. Erst mit der Kultur des Aurignacien erhielt Europa eine überlebensfähige Bevölkerung moderner Menschen.
Auch mehrere Funde aus Italien und Griechenland werden modernen Menschen zugeordnet. Die betreffende Kultur, das sogenannte Uluzzien, wurde in den 1960er-Jahren entdeckt. Viele Jahre lang hielt sich die Auffassung, dass deren Werkzeuge und Schmuckstücke von einer Gruppe ungewöhnlich weit entwickelter Neandertaler stammten. Die Steinwerkzeuge wirken wie eine eigenartige Mischform aus der Produktion von Neandertalern und von modernen Menschen. Unter den Fundstücken befinden sich auch als Schmuckanhänger durchbohrte Schneckenhäuser und Zähne, Reste roter Ockerfarbe und Werkzeuge aus Knochen.
Erst vor wenigen Jahren untersuchten italienische Wissenschaftler zwei Milchzähne aus der Höhle Grotta del Cavallo in Italien. Die Form dieser Zähne hat mittlerweile viele – wenn auch nicht alle – Experten davon überzeugt, dass sie tatsächlich einem modernen Menschen gehörten. Die Diskussion darüber geht weiter und DNAAnalysen liegen bislang nicht vor.
Vor ungefähr 39 300 Jahren verschwinden alle Spuren des Uluzzien. Höchstwahrscheinlich besteht ein Zusammenhang mit dem großen Vulkanausbruch, der gerade zu dieser Zeit ganz in der Nähe stattfand.
Bevor jedoch die Menschen dieser Kultur verschwanden, hatten sie ihr Umfeld maßgeblich verändert. Sie – oder andere Pioniergruppen moderner Menschen – führten neue Techniken in Europa ein.
Schon bald ahmten die Neandertaler sie nach.
Darüber hinaus existierte in Westeuropa noch eine weitere eigentümliche Kultur, die eine Mischform von Neandertalern und modernen Menschen zu sein scheint: das Châtelperronien, das in Nordspanien und Südwestfrankreich entdeckt wurde. Die Menschen dieser Kultur haben ihre Toten offenbar gelegentlich begraben – wenn auch in primitiver Form – und sie scheinen Schmuckstücke, Pfeile und auch Farbpigmente verwendet zu haben.
In der Forschung ist viel darüber gestritten worden, welche Menschen sich hinter dem Châtelperronien verbargen. Doch dank neuer und exakterer Methoden der Radiokarbondatierung ergibt sich jetzt endlich ein klareres Bild.
Alles deutet darauf hin, dass es sich um Neandertaler handelte, die moderne Menschen nachahmten. Von Neuankömmlingen in ihrer Gegend inspiriert, begannen sie Schmuck, Schminke und Wurfpfeile zu benutzen.
Die neuen und präziseren Radiokarbondatierungen sind an der Universität Oxford unter der Leitung von Tom Higham durchgeführt worden. Sie lassen darauf schließen, dass sämtliche europäischen Neandertaler erst vor 39.000 Jahren verschwanden. Zumindest gibt es keine gesicherten Belege für das Vorkommen von Neandertalern in jüngerer Zeit.
Die neuen Datierungen bestätigen jedoch auch, dass Neandertaler und moderne Menschen jahrtausendelang in Europa koexistiert haben müssen. Die Neandertaler hatten also reichlich Zeit, sich Neuerungen abzugucken.
Der Leipziger Paläontologe Jean-Jacques Hublin ist wie gesagt davon überzeugt, dass die beiden Gruppen einander skeptisch gegenüberstanden und so viel Abstand voneinander hielten wie möglich. Er glaubt aber auch, dass sie einander manchmal aus der Ferne beobachteten. So konnten die Neandertaler sehen, dass die modernen Menschen Pfeile benutzten, die sie nach ihrer Beute warfen – eine geniale Erfindung, die die Jagd sowohl sicherer als auch effektiver machte. Die herkömmliche Vorgehensweise bestand darin, auf das Tier zuzulaufen und es abzustechen. Das hatten die Neandertaler mehrere Hunderttausend Jahre lang praktiziert. Natürlich war das lebensgefährlich, doch eine bessere Methode war ihnen nicht bekannt. Die Funde aus dem Châtelperronien belegen, dass sie ganz plötzlich, just als die modernen Menschen in Europa ankamen, begannen Wurfpfeile zu benutzen. Die Pfeile der Neandertaler waren den Waffen der modernen Menschen sehr ähnlich und konnten auch genauso verwendet werden. Ihre Steinwerkzeuge stellten die zwei Gruppen jedoch auf unterschiedliche Weise her. Diese Tatsache bestärkt Jean-Jacques Hublin in seiner Auffassung, dass die Neandertaler moderne Menschen aus der Ferne nachahmten und nicht etwa mit ihnen verkehrten. Unter Umständen könnte er sich vorstellen, dass sie bei seltenen Gelegenheiten Waren miteinander austauschten. Das würde erklären, warum die Fundschichten der Neandertaler Perlen enthalten, die an den Schmuck der modernen Menschen erinnern.
Die neuen Techniken, die die Neandertaler übernahmen, verlängerten womöglich ihre Existenz ein wenig. Dennoch waren sie dem Untergang geweiht, als Menschen unserer Art Europa besiedelten.
Einer von vielen Erklärungsversuchen dafür, dass die Neandertaler ausstarben, während wir überlebten, besagt, dass wir beim Essen weniger wählerisch gewesen wären. Wir hätten mehr Gemüse wie zum Beispiel stärkehaltige Wurzeln gegessen. Neuere Forschungsergebnisse, wie die von Amanda Henry vom Max-Planck-Institut in Leipzig, widerlegen das jedoch. Henry hat mikroskopisch kleine Reste von fossilen Zähnen untersucht und kann bestätigen, dass auch die Neandertaler durchaus Stärke aus Pflanzenwurzeln zu sich nahmen. Es stimmt also nicht, dass sie zugrundegingen, weil sie sich zu einseitig von Fleisch ernährten.
Es könnte allerdings zutreffen, dass wir erfolgreicher bei der Jagd auf Fische und kleine, schnelle Tiere wie Hasen und Vögel waren. Denkbar ist auch, dass wir geschickter darin waren, aus Pflanzenfasern Netze zu knüpfen. Mit solchen Netzen zu fischen und zu jagen, hätte uns große Vorteile verschafft. Unsere Ernährungsgrundlage wäre dadurch sowohl abwechslungsreicher als auch verlässlicher geworden. Blieben die großen Beutetiere aus, konnte man immer