Karin Bojs

Meine europäische Familie


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Klei dung war mit Sicherheit in kühleren Gegenden Afrikas und des Nahen Ostens ebenso notwendig wie für die ersten Einwohner Europas.

      Sich in einen Fellmantel zu hüllen und mit einer Ahle einige Löcher zu stechen, um zwei Lederstücke zu einer Tunika zusammenzufügen, ist eine Sache. Etwas ganz anderes ist es, mithilfe von Nadeln Anoraks mit pelzgefütterten Kapuzen, gut sitzende Beinkleider und wasserdichte Stiefel zu nähen.

      Nähnadeln mit Öhr mögen uns heute nicht besonders imponieren, doch während der kältesten Perioden der Eiszeit bedeuteten sie den Unterschied zwischen Leben und Tod. Dichte und warme Kleidung muss in dem unbarmherzigen Klima entscheidend gewesen sein, und eine Nadel mit Öhr erleichterte die Arbeit.

      Außerdem konnte man mit den Nadeln auch Netze und Reusen herstellen. Damit war man bei der Jagd flexibler und es konnte jeder mithelfen, unabhängig von seiner körperlichen Leistungsfähigkeit. Die Nähnadel könnte durchaus eine der bedeutendsten Erfindungen der Menschheit gewesen sein.

      Offenbar machten die Menschen gerade während der kältesten Periode der Eiszeit hier im Südwesten Europas einen beachtlichen technologischen Entwicklungsschritt.

      Die beste Erklärung dafür liefert mir Jiři Svoboda aus Brünn. Er glaubt, dass Menschen aus nördlicheren europäischen Gegenden von der Kälte nach Süden getrieben wurden. Die verschiedenen Gruppen trafen in der neuen, kalten und entbehrungsreichen Umgebung aufeinander und taten ihr Wissen zusammen. Dieses Konglomerat aus Menschen mit unterschiedlichen Kompetenzen war eine ausgezeichnete Basis für ihre Weiterentwicklung und für neue Erfindungen.

      Auch die DNA-Forschung stützt die These, dass Menschen aus dem Norden Europas während der kältesten Periode der Eiszeit, also vor 25.000 bis 18.000 Jahren, Schutz in wärmeren Gegenden suchten. Ihre Zufluchtsorte lagen verstreut im südlichen Europa, am Schwarzen Meer, im heutigen Griechenland, in Italien und sogar weiter östlich in Sibirien.

      Ich habe Grund zu der Annahme, dass meine Verwandten in direkter mütterlicher Linie die kältesten Jahre der Eiszeit eben hier in der Nähe von Les Eyzies-de-Tayac, in Südwestfrankreich oder Nordspanien verbracht haben.

      Die Untersuchungsergebnisse des isländischen Unternehmens Decode haben mir verraten, dass ich – wie ungefähr jeder zehnte Europäer – zur Gruppe U5 gehöre. Doch im Sommer begegne ich einigen schwedischen Genealogen, die sich für das Potenzial von DNA-Analysen interessieren. Wir schauen uns meine Ergebnisse von Decode näher an und finden heraus, dass ich zu einer der zwei Untergruppen von U5 gehöre, nämlich zur Gruppe U5b. Diese Gruppe wird wiederum in drei Untergruppen unterteilt, deren erster ich angehöre: U5b1.

      Vieles deutet darauf hin, dass U5b1 innerhalb der Gruppe von Menschen entstand, die auf dem Höhepunkt der Eiszeit Zuflucht in Südwesteuropa suchten, also während des Solutréen.

      Einen wichtigen Anhaltspunkt dafür liefert die Antwort auf die Frage, wo heute die meisten Varianten dieser Gruppe auftreten. Im Fall von U5b1 scheint die Variationsbreite in den Gegenden um die Pyrenéen am größten zu sein, also in Südwestfrankreich und in Nordspanien.

      Ein weiteres, ungewöhnliches Forschungsergebnis wurde 2005 veröffentlicht. Eine Gruppe italienischer Wissenschaftler konnte nachweisen, dass eine Untergruppe von U5b1, die sich bei fast der Hälfte aller Angehörigen des Volks der Samen findet, nah mit einer bei den Berbern in Nordafrika vorkommenden Untergruppe verwandt ist. Ihre Verwandtschaftslinien scheinen sich vor mehreren Tausend Jahren getrennt zu haben. Die Nachricht rief großes Erstaunen hervor, da zwischen Nordafrika und Nordskandinavien viertausend Kilometer liegen. Die wahrscheinlichste Erklärung dafür ist, dass Menschen mit U5b1 in verschiedene Richtungen wanderten. Einige wandten sich nach Norden, als die Eiszeit ihrem Ende zuging, und einige von deren Nachkommen erreichten schließlich das nördliche Skandinavien. Andere wiederum wanderten südwärts und über die Straße von Gibraltar nach Afrika.

      Ein drittes Element in der Beweiskette sind DNA-Analysen fossiler menschlicher Knochen aus Westeuropa. Bislang existieren nur wenige solcher Untersuchungen in ausreichender Qualität und diese wurden an Proben aus einer Zeit nach dem Solutréen vorgenommen. Doch selbst diese Analysen stützen bis zu einem gewissen Grad die These, dass U5b1 im südwestlichen Europa verbreitet war, als die Kälte der Eiszeit ihren Höhepunkt erreicht hatte.

      Eine der besten Fundstätten für das Solutréen ist Laugerie Haute. Ein halbstündiger Spaziergang bringt mich von meiner Pension in Cro-Magnon dorthin.

      Laugerie Haute ist einer der ergiebigsten Fundplätze für all jene Kulturen, die in einem Zeitraum von mindestens 20.000 Jahren in dieser Gegend existiert haben. Archäologen haben 42 Schichten ausgegraben, vom Aurignacien über das Solutréen bis zum darauf folgenden Magdalénien.

      Der riesige Felsüberhang scheint ein Sammellager gewesen zu sein, ein Platz, an dem sich mehrere kleine Gruppen zu bestimmten Zeiten trafen – vor allem im Herbst, wenn das Tiervorkommen am größten war.

      Ungefähr einhundert Personen scheinen hier gleichzeitig gelebt zu haben. Das entspricht drei bis fünf kleineren Gruppen. Warum sie gerade diesen Ort auswählten, ist leicht nachzuvollziehen. Er bietet viel Platz, denn die geschützte Fläche unter dem Überhang ist so groß wie zwei Tennisplätze. Mittlerweile ist der größte Teil des Daches herabgestürzt und gigantische Felsbrocken liegen auf der Erde.

      Wie viele andere eiszeitliche Wohnplätze liegt auch Laugerie Haute nur wenige Meter von einem Fluss entfernt. Die Menschen, die sich hier aufhielten, genossen sowohl Abendsonne als auch Aussicht über das Wasser, wie in den gefragtesten Objekten heutiger Wohnungsmakler.

      Man kann darüber spekulieren, wie es den Menschen des Solutréen hier während der kältesten Periode der Eiszeit ergangen ist. Ich stelle mir vor, dass sie gerne hierherkamen. Sicher lebten die Kleingruppen die meiste Zeit des Jahres isoliert und waren durch die grimmige Kälte eingeschränkt. In Laugerie Haute begegneten sie anderen Menschen, feierten Feste und hielten Zeremonien ab. Die jungen Erwachsenen konnten einen Partner finden, man saß um die Feuer und tauschte Erfahrungen aus und alle hatten genug zu essen.

      Die Nahrung bestand zum größten Teil aus Fleisch und Knochenmark vom Rentier. Andere Beutetiere wie Pferde wurden selten, als die Kälte in dieser Region ihren Höhepunkt erreichte.

      Natürlich aßen die eiszeitlichen Menschen auch pflanzliche Kost, wie unter anderem mikroskopisch kleine Reste an ihren Zähnen belegen. Doch die Vegetationsperiode war kurz, vor allem im kalten Solutréen.

      Grabungen und Steinwerkzeuge in allen Ehren, doch der eigentliche Grund, warum jedes Jahr Hunderttausende Touristen Les Eyzies besuchen, sind die Höhlenmalereien. Auch ich begebe mich auf eine Kunstwanderung zu den hiesigen Höhlen.

      Laugerie Haute erscheint mir wie der riesige Festplatz, auf dem meine vorzeitlichen Verwandten ihre größten Partys gefeiert haben. Abri Cap Blanc, sechs Kilometer weiter östlich, vermittelt eine intimere Atmosphäre. Hier fühle ich mich, als wäre ich bei einer Familie zu Besuch und bewunderte ihre Einrichtung.

      Nur sechs Personen warten mit ihren vorab reservierten Eintrittskarten in dem kleinen Museum. Für mehr ist kein Platz. Für kurze Zeit werden wir eingelassen und dürfen den Wohnplatz besichtigen. Die Führerin kontrolliert gewissenhaft, dass keiner eine Kamera eingeschmuggelt hat, dann schließt sie eine schwere Eisentür auf.

      Unter Archäologen war es lange umstritten, wann die entlang der Felswand verlaufenden Friese eigentlich erschaffen wurden. Mittlerweile werden sie dem Solutréen zugerechnet. Sie sind außergewöhnlich gut erhaltene Beispiele dafür, wie die Eiszeitmenschen die Stätten dekorierten, an denen sie dauerhaft wohnten. An den meisten anderen Orten sind die Felswände, auf denen sich die Dekorationen ursprünglich befanden, durch Verwitterung zerstört.

      Die Friese in Cap Blanc bestehen aus Reliefs, die in den Fels gemeißelt wurden: eine ganze Prozession aus Pferden und Bisons. Paradoxerweise standen diese beiden Tierarten nur selten auf dem Speisezettel der Menschen. Das belegen die hier entdeckten Tierknochen. Fast 95 Prozent der Knochen stammen von Rentieren, der häufigsten Jagdbeute während der kältesten Zeiten. Offenbar wurde aber Pferden und