Karin Bojs

Meine europäische Familie


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jagten.

      Aus der familiären Umgebung in Cap Blanc begebe ich mich ins Tal hinunter nach Font de Gaume. Das ist eine völlig andere Erfahrung, gar nicht alltäglich, sondern beinahe schon sakral. Tief im Innern einer Höhle sehe ich exklusive Kunstwerke. Die Künstler hinter diesen Bildern müssen die eiszeitliche Entsprechung von Meistern wie Rembrandt oder Leonardo da Vinci gewesen sein.

      Gemeinsam mit einer französischsprachigen Gruppe von etwa zehn Personen trete ich ein. Nach nur wenigen Schritten in den Berg hinein haben wir schon alle Eindrücke der Außenwelt hinter uns gelassen. Das Sonnenlicht verschwindet. Wir hören keine Vögel mehr und auch nicht das Geräusch des Windes. Die Haut registriert nur noch Kälte und Feuchtigkeit. In meinem Kopf entsteht ein schwaches Summen, als der Gehörsinn versucht, die Stille des Berges zu kompensieren. Ich blinzele, um mich an die Dunkelheit zu gewöhnen.

      Die Gänge in der Höhle von Font de Gaume sind eng, aber heutzutage kann man als Besucher zumindest aufrecht gehen, da der Fußboden zu unserer Bequemlichkeit abgesenkt worden ist. Außerdem gibt es elektrische Lampen, die unsere Führerin löscht, sobald wir einen Bereich der Höhle verlassen. Sie will die Bilder so gut als möglich schützen, sowohl vor dem elektrischen Licht als auch vor unserer Atemluft.

      Die Künstler der Eiszeit waren hier teilweise noch gezwungen zu kriechen. Doch als sie die Bilder in der Höhle malten, half ihnen eine neue und bedeutende Erfindung: Sie hatten Lampen. Sie brauchten sich nicht länger mit einfachen Holzfackeln zu begnügen wie frühere Generationen. Die Künstler in Font de Gaume erleuchteten ihre Umgebung mithilfe von ausgehöhlten Steinen. In der Vertiefung verbrannten sie tierisches Fett und Dochte aus Pflanzenfasern.

      Font de Gaume, am Rande von Les Eyzies, wurde vor ungefähr 17.000 Jahren während des Magdalénien genutzt. Diese Kultur folgte nach einer unspektakulären Übergangsphase auf das Solutréen. Die Werkzeuge wurden etwas ausgereifter, doch die Menschen scheinen weitgehend die gleichen geblieben zu sein. Die Kälte der Eiszeit begann allmählich abzunehmen und das Klima wurde ein wenig wärmer.

      Die Meister in Font de Gaume malten ihre Bilder mit gemischten Pigmenten: Gelb, Rot, Braun und Schwarz und viele Nuancen dazwischen. Sie stellten die Farben aus rötlichen Eisenoxiden und schwarzem Manganoxid aus den umliegenden Bergen her. Manchmal brannten sie die Steine, um spezielle Farbnuancen zu erzielen. Sie zerstießen die Pigmente in Mörsern und mischten die Farben auf Paletten, genau wie heutige Künstler. Um die Farben auf die Höhlenwände aufzubringen, verwendeten sie verschiedene Methoden: ihre Finger, Stöckchen und Pinsel aus Tierhaaren oder Vogelfedern. Sie bliesen das Farbpulver auch direkt auf die angefeuchtete Unterlage, so wie die Freskenmaler der Renaissance.

      Das häufigste Motiv in Font de Gaume ist der Bison. Mehr als achtzig Tiere sind hier verewigt, jedes mit seinen besonderen Eigentümlichkeiten. Den Künstlern war ganz offensichtlich bewusst, ob sie ein weibliches oder ein männliches Tier malten, wie alt das Tier war, in welcher Jahreszeit und in welcher konkreten Situation es sich befand. Geschickt und wohlüberlegt nutzten sie die Form der Felswände, um dreidimensionale Effekte zu erzielen. In einer der Höhlen befinden sich einige Abbildungen fünf Meter über dem Boden. Um dort oben zu malen, muss der Künstler auf den Schultern der anderen gestanden haben.

      Mehrfarbige Malereien existieren nur in wenigen eiszeitlichen Höhlen, deren bekannteste die im spanischen Altamira, Lascaux in der Nähe von Les Eyzies und Chauvet in den Bergen westlich von Lyon sind. Diese Höhlen sind für die Allgemeinheit nicht mehr zugänglich, Besucher müssen sich daher mit Kopien der Gemälde begnügen.

      Gegenwärtig können Privatpersonen die mehrfarbigen Höhlenmalereien in Font de Gaume noch im Original sehen, wenn sie am selben Morgen für Eintrittskarten anstehen. Man erwägt, auch Font de Gaume zu schließen, um die Malereien vor der Beleuchtung und der Atemluft der Besucher zu schützen.

      Ich bin dankbar, dass ich noch dort drinnen in Dunkelheit, Kälte und Feuchtigkeit herumgehen und erleben durfte, wie sich im gedämpften Licht Bisons, Mammuts und Pferde abzeichneten – etwas lädiert nach so vielen Jahrtausenden, aber so gut gemacht, dass sie auch heute noch fast lebendig erscheinen.

      Einige Tausend Jahre später werden die Bilder schlichter, zwar immer noch gut ausgeführt, jedoch stärker stilisiert.

      Pferdedarstellungen dominieren in der Höhle Les Combarelles, einige Kilometer von Font de Gaume entfernt. Es gibt auch Zeichnungen von Höhlenlöwen, Höhlenbären und Mammuts, doch sind Pferde das häufigste Motiv. Manchmal sind nur die Konturen in die Felswand geritzt, manchmal sind sie mit schwarzer, aus Manganoxid hergestellter Farbe ausgefüllt.

      Der Guide, der mich und eine französische Familie durch die langen, schmalen Gänge begleitet, glaubt, dass Les Combarelles von einem Klan genutzt wurde, dessen Totem das Pferd war. Der Klan kehrte während mehrerer Tausend Jahre immer wieder zu dieser Höhle zurück und zeichnete Hunderte von Bildern. Er glaubt, dass die Schamanen des Klans auf diese Weise spirituelle Kräfte heraufbeschworen haben.

      Um zur Höhle Rouffignac zu kommen, miete ich mir ein Auto und fahre von Les Eyzies aus ungefähr eine halbe Stunde durch eine Landschaft, die von bewaldeten Hügeln und Weinbergen geprägt ist. Die hiesigen Bilder stammen ebenfalls dem Magdalénien und sind vermutlich 15.000 Jahre alt. Sie erinnern an die geritzten, einfarbigen Pferde in Les Combarelles.

      In Rouffignac dominieren jedoch die Mammuts, mehr als 150 sind es. Das erste begegnet mir gleich hinter dem Eingang: ein kleines rundliches, munteres, wolliges Mammut nur ungefähr einen Meter über dem Erdboden, das sehr gut extra für Kinder gemalt worden sein könnte. Weiter hinten in der Höhle findet man auch Bisons, Pferde, Bergziegen, Wollnashörner und einen Höhlenbären. An einem schwer zugänglichen Platz ganz unten in einer Vertiefung ist sogar das Bild eines Menschen zu sehen, ein grob gezeichneter Kopf im Halbprofil.

      Die Gänge verlaufen in vielen Windungen fast zehn Kilometer weit durch den Berg. Wir Besucher werden mit einem kleinen elektrisch betriebenen Zug herumgefahren. Die Beleuchtung schaltet sich nur dann automatisch ein, wenn der Zug an einer Stelle für wenige Minuten hält. Damit wird die Beanspruchung der Bilder durch unsere Anwesenheit minimiert.

      Die Höhle liegt auf einem großen bäuerlichen Betrieb und wird von dessen Besitzer verwaltet. Die Lokalbevölkerung kennt die Höhle seit mehreren Hundert Jahren und viele sind hier gewesen und haben ihre Namen an den Wänden hinterlassen. Systematische archäologische Untersuchungen kamen jedoch erst in den 1950er-Jahren in Gang.

      Frédéric Plassard, der Sohn des Hauses, ist mit der Höhle aufgewachsen. Heute arbeitet er hier ganztags. Er hat Archäologie studiert und seinen Doktor an der Universität in Bordeaux gemacht.

      Wir sitzen lange auf einer Bank am Eingang der Höhle im kühlenden Schatten der Eichen und unterhalten uns. Ich versuche zu verstehen, was Menschen vor 15.000 Jahren dazu bewegte, sich in das Dunkel des Berges zu begeben und dort solche Kunstwerke zu erschaffen.

      Dass sie die Höhlen aufsuchten, sei nicht verwunderlich, meint Frédéric Plassard. Das sei normale menschliche Neugier. Menschen sind schon immer in diese Höhle gekommen, wie das Gekritzel aus dem 18. und 19. Jahrhundert dort drinnen beweist. Genau wie wir hatten auch die Menschen im Magdalénien schon Lampen, wenn auch nur einfache Steinlampen mit Tierfett, und es dauert schließlich auch nur eine halbe Stunde, einen Kilometer weit in den Berg hineinzugehen.

      Das wirklich Bemerkenswerte sind die Kunstwerke. Sie sind von solcher Qualität, dass sie von hoch spezialisierten Künstlern geschaffen worden sein müssen. Frédéric Plassard glaubt, dass es sich dabei um nur drei oder vier Personen handelte. Womöglich schufen sie all diese Kunstwerke bei einer einzigen Gelegenheit, während einiger hektischer Stunden. Danach verbrachten sie ihr ganzes Leben draußen im Tageslicht und bewahrten sich nur die Erinnerung an die Bilder. Ihr Werk musste nicht unbedingt gesehen werden: Es zu erschaffen war wichtiger, als es zu betrachten.

      Die europäischen Höhlenmalereien hatten eine ganz besondere Bedeutung für die Menschen, ist Frédéric Plassard überzeugt.

      Er weist darauf hin, dass in ganz Europa nur ungefähr 20.000 Höhlenmalereien bekannt sind, obwohl die Menschen der Eiszeit hier 30.000 Jahre lang lebten. Das ist weniger als ein Bild pro Jahr bei einer Bevölkerung von mehreren Tausend