Karin Bojs

Meine europäische Familie


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Linie davon aus, dass Hunde, die viele Generationen lang in der Obhut des Menschen gelebt hatten, kleiner und zierlicher geworden sein und anders aussehen müssten als Wölfe.

      Auf Grundlage dieser Definition lassen sich viele Hunde-Kandidaten ausmachen, deren älteste ungefähr 30.000 Jahre alt sind. Fossile Funde gibt es aus Russland, der Ukraine, Tschechien, der Schweiz und Belgien. Einige der angeblichen frühen Hunde stammen von dem Grabungsplatz Dolní Veˇstonice in Tschechien, wie ich im Kapitel „Die Mammuts in Brünn“ erwähnt habe.

      Während der letzten zwanzig Jahre haben sich Genforscher in die Debatte eingeschaltet und sich dabei auf mehr oder weniger umfassende DNA-Analysen und mehr oder weniger ausgereifte Berechnungsmethoden gestützt. Ihre Resultate wiesen in verschiedene Richtungen. Sie sind sich bis heute nicht einig, um es vorsichtig auszudrücken. Den gegenwärtigen Kenntnisstand könnte man folgendermaßen zusammenfassen:

      Die Vorgänger der heutigen Hunde scheinen vor mindestens 15.000 Jahren gezähmt worden zu sein, vielleicht sogar schon viel früher. Wahrscheinlich wurde der erste Hund irgendwo in Europa oder Sibirien geboren, doch auch China kann als Geburtsort nicht ausgeschlossen werden.

      Natürlich ist es möglich, dass Menschen bereits früher versucht haben, Wölfe zu zähmen. Im Altaigebirge in Sibirien und der Goyet-Höhle in Belgien wurden 30.000 Jahre alte Fossilien gefunden, die hundeähnlich aussehen und durchaus Belege für derartige Zähmungsversuche sein könnten. Dennoch scheint es sich hier nicht um den Ursprung der heutigen Hunde zu handeln, sondern eher um genetische Sackgassen.

      Alle heute lebenden Hunde, auch Basenjis in Afrika, verwilderte Dingos in Australien, blauäugige sibirische Huskies, wohlfrisierte Zwergpudel und verspielte Labradore, scheinen auf eine kleine Gruppe von Wölfen in Europa oder Asien zurückzugehen. Diese Wölfe sind wahrscheinlich schon vor langer Zeit ausgestorben, was die Ermittlung des Verwandtschaftsgrades erschwert. In Vergleichen von Zehntausende Jahre alter DNA fossiler Wölfe mit fossilen und heute lebenden Hunden tritt das Muster deutlicher hervor.

      Dass zahme Hunde sich gelegentlich mit Wölfen gepaart haben, stellt für die Forscher ein Problem dar. Das wird zum Beispiel in der DNA von Jagdhunden in Skandinavien und halbwilden Hunden in China sichtbar. Solche Kreuzungen machen das Bild unscharf.

      Doch das Grundmuster bleibt: Als wir aus Afrika auswanderten, wurden wir nicht von Hunden begleitet. Wölfen begegneten wir erst in Europa und Asien. Irgendwann während der Eiszeit zähmten wir sie, als wir noch als Jäger und Sammler lebten und noch bevor einige von uns über Beringia nach Amerika zogen.

      Die Frage ist nur, warum. Welchen Nutzen hatte der Hund für uns?

      Im Laufe der Jahre habe ich annähernd ein Dutzend der führenden Hundeforscher der Welt interviewt – und dabei fast genauso viele verschiedene Erklärungen dafür erhalten, warum Hund und Mensch begannen, zusammenzuleben.

      Viele Wissenschaftler sind der Ansicht, dass es gar nicht der Mensch war, der den Hund zähmte, jedenfalls nicht zu Anfang. Der Hund zähmte stattdessen uns.

      Wölfe wurden von den Eiszeitmenschen wegen ihres Pelzes gejagt und müssen sie als Bedrohung wahrgenommen haben. Sie profitierten aber auch von den Menschen, da die große Mengen an Futter zurückließen: Reste von Jagdbeute, die sie nicht selbst verwerten konnten. Diese Reste deponierten sie am Rande ihrer Lager, weil sie schlecht rochen und Raubtiere anzogen.

      Nachts, wenn die Menschen sich um die Feuer versammelten oder schliefen, schlichen die Wölfe zu den Essensresten. Ab und zu, vor allem in der Dämmerung, konnte es geschehen, dass Mensch und Wolf einander begegneten. Das endete häufig mit dem Tod des Wolfs. Doch manchmal war der Wolf ganz einfach zu niedlich. Vielleicht war es ein kleiner Welpe, ein übermütiges und zutrauliches Jungtier, das kein Mensch, der ein Herz hatte, töten konnte. Dann durfte das Wolfsjunge mit am Feuer sitzen. Und mit den Kindern spielen. Jeder, der schon einmal ein kleines Kind und einen Welpen miteinander hat spielen sehen, versteht, was ich meine.

      Die Jahrtausende vergingen und diejenigen Wölfe, denen es gelang, ihre Aggressivität zu beherrschen und die Zuneigung der Menschen zu gewinnen, hatten eine Nische gefunden, die ihnen das Überlebten ermöglichte. In der Biologie heißt das Selektion: Eigenschaften, die der Mensch schätzte, hatten größere Chancen, an die nächste Generation weitergegeben zu werden.

      Mehrere Forscher haben untersucht, in welchen Genen sich Hunde und Wölfe voneinander unterscheiden. Die meisten dieser Unterschiede betreffen das Gehirn. Der amerikanische Hundeforscher Robert Wayle hat zum Beispiel eine besondere Genveränderung entdeckt, die bei allen Hunden aufzutreten scheint, jedoch nicht bei Wölfen. Eine ähnliche Veränderung kommt bei Menschen vor, die an dem angeborenen William-Beuren-Syndrom leiden und darum leicht geistig behindert sind. Am charakteristischsten für Menschen mit William-Beuren-Syndrom ist jedoch ihr freundliches, extrovertiertes und zutrauliches Wesen.

      Hunde und Wölfe unterscheiden sich vor allem darin, dass Hunde im Allgemeinen kindlicher wirken, sowohl äußerlich als auch in ihrem Wesen. Sie ähneln Wolfsjungen mehr als erwachsenen Wölfen: Sie sind eher verspielt und ausgelassen als ernst und wild. Oft besitzen Hunde außerdem eine stumpfere Nase und kürzere Beine als erwachsene Wölfe, genau wie Wolfsjunge.

      Sie haben darüber hinaus die außergewöhnliche Fähigkeit, die Gedanken der Menschen zu lesen. Viele Experimente haben gezeigt, dass Hunde verstehen können, was wir von ihnen möchten. Sie können unseren Blicken folgen und dahin schauen, wohin wir zeigen. Andere Tiere, wie Schimpansen, Wölfe und Katzen, sind in vieler Hinsicht genauso intelligent, doch in der Interpretation menschlichen Verhaltens sind sie Hunden hoffnungslos unterlegen.

      In den bitterkalten Nächten der Eiszeit könnten Menschen ihre ersten Hunde als Wärmedecken benutzt haben. Der Archäologe Lars Larsson erzählt mir, dass die australischen Aborigines noch heute von „Einhundnächten“, „Zweihundenächten“ und „Dreihundenächten“ sprechen, deren kälteste die „Dreihundenacht“ ist.

      Andere Wissenschaftler vermuten, dass der Mensch zuerst die Funktion der Wölfe als Wachhunde entdeckte. Sie lagen am Rande des Lagers und schlugen sich die Bäuche mit Fleischresten voll. Allmählich gingen sie dazu über, auch dort zu übernachten. Wölfe und Hunde haben einen viel leichteren Schlaf als Menschen. Wenn ein anderes, gefährlicheres Raubtier, zum Beispiel ein Löwe, sich näherte, heulten sie lauthals, worauf die Menschen erwachten und sich verteidigen konnten.

      Den Menschen bei der Jagd zu helfen, gehörte sicherlich auch schon früh zu den Aufgaben der Hunde. Im Rudel zu jagen ist ein Teil des ererbten wölfischen Verhaltensrepertoires. Viel ist schon darüber geschrieben worden, dass Hunde die Jagd der Menschen effektiver gemacht haben, nicht zuletzt bei eiszeitlichen Jagden auf die ganz großen Tiere wie Mammuts und Wollnashörner. Einigen Theorien zufolge war das Großwild in Europa, Asien und Amerika in dem Moment dem Untergang geweiht, als Mensch und Hund begannen, bei der Jagd zusammenzuarbeiten. Doch herrscht diesbezüglich Uneinigkeit. Neue Erkenntnisse deuten darauf hin, dass Hunde und Menschen unschuldig sind und dass sowohl die Mammuts als auch die Nashörner ausstarben, weil das Klima sich erwärmte und die Pflanzenwelt sich veränderte.

      Der Archäologe, der sich in letzter Zeit am intensivsten mit den fossilen Hunden in Bonn-Oberkassel beschäftigt hat, heißt Martin Street. Er spricht sich dafür aus, dass die in Schweden sogenannte „Jagd mit stellendem Hund“ eine der ersten wichtigen Aufgaben der Hunde war. Diese Form der Jagd wird auch heute noch vielerorts ausgeübt, nicht zuletzt in den schwedischen Wäldern. Der Hund läuft dabei auf der Suche nach dem Wild selbstständig durch den Wald, während der Jäger nach Möglichkeit in der Nähe bleibt. Hat der Hund das Wild aufgespürt, verbellt er es, sodass das Tier stehen bleibt und sich ganz auf den lästigen Hund konzentriert. Der Hund hat das Wild „gestellt“. Währenddessen kann der Jäger sich anschleichen und das Tier mit seiner Waffe töten.

      Diese Jagdtechnik erlangte Bedeutung, als Wälder in der Tundra heranwuchsen und die Sicht behinderten. Vorher war es einfacher gewesen, sich auf einen erhöhten Punkt zu stellen und nach Beutetieren Ausschau zu halten.

      In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass der erste