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Nirgends scheint der Mond so hell wie über Berlin


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Sie, liebe Leser, ihren Stammbaum studieren, werden Sie vermutlich feststellen, dass Sie ebenfalls ›Deutsche plus‹ sind. Hat Jan Plamper nicht recht, wenn er schreibt: »Jeder ist Migrant, fast überall, fast immer – besonders die Deutschen«? Der Historiker Klaus J. Bade definiert den Menschen daher auch nicht als homo sapiens, sondern als homo migrans.

      Die meisten kamen aus dem Osten zu uns. Von 1944 bis 1948 nahm Westdeutschland 8 Millionen deutsche Vertriebene und Flüchtlinge auf und die SBZ/DDR weitere 4,5 Millionen. Zusammen waren es 12,5 Millionen. Das war eine andere Dimension als die übliche Binnenmigration. Außerdem fanden 4,5 Millionen Aus- und Spätaussiedler aus der Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten in Deutschland eine neue Heimat. Von beklemmender Aktualität sind Arno Surminskis Bücher Jokehnen oder Wie lange fährt man von Ostpreußen nach Deutschland? und Kudenow oder An fremden Wassern weinen.19 Die Deutsche Nationalbibliothek hat davon deshalb soeben gekürzte Hörfassungen hergestellt.

      10. Umso befremdlicher, wenn selbsternannte ›Volkslehrer‹ und Hobby-Eugeniker Deutschland den Deutschen vorbehalten wollen. Müssten wir dann nicht alle auswandern? Der frühere Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin sollte sich endlich fragen, ob er nicht als Stichwortgeber für solche Verschwörungstheoretiker dient, wenn er beklagt: »Das Deutsche an Deutschland verdünnt sich immer mehr«.20 Bezeichnenderweise stand das Buch vom 13. September 2010 an bis zum 6. Februar 2011 auf Platz 1 der Spiegel-Beststellerliste.

      11. Eine bunte Gesellschaft, wie wir sie heute bilden, braucht einen festen Kitt, der sie zusammenhält. Wir müssen darüber diskutieren, ob unser Verfassungspatriotismus als soziales Bindemittel ausreicht. Wie stark muss die Durchlässigkeit der einzelnen Bezugsgruppen sein, damit vermieden wird, dass wir in Parallelgesellschaften leben? Schließen die Kulturen der Herkunftsländer und unsere Lebensart und unser Geistesleben einander aus, oder können sie einander befruchten?

      Die stärkste Bindekraft entwickeln die gemeinsame Arbeit und das gemeinsame Feiern. Vom Kochen und Essen bis zum Singen und Musizieren, vom Mensch-ärgere-dich-nicht-Spielen bis zum Wandern und Tanzen, von Sportveranstaltungen und Karnevalszügen bis zu Schulfesten und Klassenfahrten fördert alles den Gemeinschaftssinn und das gegenseitige Vertrauen, was wir mit anderen planen und durchführen.21 Die Corona-Pandemie führt uns das schmerzlich vor Augen.

      12. In ihrem Eifer für reines Deutschtum gehen der inzwischen aus dem staatlichen Schuldienst entlassene Berliner Grundschullehrer Nikolai Nerling und seinesgleichen so weit, zu bestreiten, dass Werke jüdischer Dichter und Musiker zur deutschen Kultur gehören. Heinrich Heine, Rahel Varnhagen von Ense, Franz Kafka, Alfred Döblin, Ernst Toller, Erich Mühsam, Franz Werfel, Kurt Tucholsky, Paul Celan, Hilde Domin, Lion Feuchtwanger, Friedrich Torberg, Hannah Arendt keine deutschen Schriftsteller und Dichter? Felix Mendelssohn Bartholdy, Gustav Mahler, Kurt Weill, Friedrich Hollaender keine deutschen Komponisten? Moritz Daniel Oppenheim, Max Liebermann, Ludwig Meidner, Eva Hesse keine deutschen Maler?22 Dass die Bevölkerung darüber so wenig weiß, hält Ze’ev Avrahami für viel ärgerlicher als alle Gehässigkeiten.

      Es genügt nicht, Juden zuzubilligen, dass sie bei uns nach ihrer Façon selig werden: Macht doch, was ihr wollt, und damit Schluss! Wir müssen begreifen, was Juden seit dem Mittelalter und zumal im 19. Jahrhundert und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts für uns geleistet haben. Zwischen Moses Mendelssohn, Heinrich Heine, Sigmund Freud und Albert Einstein haben deutsch-jüdische Philosophen, Politologen, Ärzte, Bakteriologen, Physiker, Psychologen, Juristen und Schriftsteller Deutschland in aller Welt einen Namen gemacht. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs deutet es sich zum ersten Mal, wenn auch zart, an, dass Juden wieder zur Hefe in unserem Geistesleben werden könnten. Das dürfen wir uns nicht von Fanatikern und Irren kaputtmachen lassen.

      13. In einer Welt, in der sich so viel verändert, muss die Familie Ankerplatz und Umschlagshafen sein. Die Bücher, die hier vorgestellt worden sind, verraten, dass unsere Kraft viel stärker, als uns bewusst ist, aus der Familie fließt. Und sie beweisen, dass wir reif dafür sind, in der Familie mehr miteinander zu reden und zu diskutieren, auch über unsere Vorfahren. Wieviel wir daraus lernen können, haben uns Wibke Bruhns, Maxim Leo und Kirsten Grieshaber gezeigt.23 Auch in diesem Zusammenhang sind Maxim Leo: Haltet euer Herz bereit. Eine ostdeutsche Familiengeschichte und sein zweites Buch: Wo wir zu Hause sind hervorzuheben.24 Desgleichen Kirsten Grieshaber: Willkommen im Café Zahav. Meine israelische Mischpoke und ich.25 Es sind nicht Gedichte, die typisch sind für die jüdische Literatur seit der Schreckenszeit von 1933 bis 1945 und dem Ende des Zweiten Weltkriegs, sondern diese Familienromane, aber auch Tagebuchaufzeichnungen und Erinnerungsberichte aus den Konzentrationslagern sowie Romane darüber. Die Juden suchten den Frieden mit sich selbst und mit der Welt. Shalom!

      14. Wir dürfen Erziehung nicht vollends an die Schule delegieren. Die Lektüre der hier vorgestellten Bücher greift auch Jugendlichen ans Herz. Für Kinder ist nach wie vor Judith Kerrs Als Hitler das rote Kaninchen stahl am besten geeignet.26 Die im vergangenen Jahr in London verstorbene Autorin war die Tochter des legendären jüdischen Theaterkritikers Alfred Kerr. Annemarie Böll, die Ehefrau von Heinrich Böll, hat es aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. Empfohlen sei außerdem Tahar Ben Jellouns Papa, was ist ein Fremder?27 Der marokkanische Schriftsteller und Psychotherapeut beantwortet seiner Tochter Fragen wie: »Sind Ausländer anders als wir?« und »Ist Rassismus normal?«

      15. Alle diese Bücher sind erfüllt von Familienstolz. Die beschriebenen Väter und Großväter haben sich bei allen Schwächen bravourös geschlagen. Die Bestseller sind daher vorbildlich, aber nicht typisch für deutsche Familiengeschichten. In der Regel wird viel mehr beschönigt und beschwiegen. Wer das vermeiden will, lese das Buch der Islamwissenschaftlerin Alexandra Senfft Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte sowie den von Alexandra Senfft herausgegebenen Band Der lange Schatten der Täter. Nachkommen stellen sich ihrer NS-Familiengeschichte.28

      Wären wir nach den traumatischen Verletzungen durch den Zweiten Weltkrieg und die Nazi-Verbrechen wieder normal, hätten wir einen anständigen Geschichtsunterricht und einen Literaturkanon, und an der Spitze des Kanons stünde neben dem unvermeidlichen Goethe Lessings Toleranzdrama Nathan der Weise. Im fächerübergreifenden Unterricht würde erörtert, warum Lessings Freund Moses Mendelssohn ein so treffliches Vorbild für Nathan den Weisen abgegeben hat. An der Geschichte der Familie Mendelssohn würde illustriert, warum Juden konvertierten, um gesellschaftliche Anerkennung zu erfahren. Und dass Moses Mendelssohns Enkelsohn Felix Mendelssohn Bartholdy und seine kongeniale Schwester, die geliebte Fanny, uns nicht nur um unsterbliche Lieder, Sonaten und Sinfonien bereichert, sondern auch Johann Sebastian Bach für uns wiederentdeckt haben. Womöglich würde ohne diese Bach-Renaissance der Jubel des Weihnachtsoratoriums gar nicht unsere Kirchen erfüllen: Jauchzet, frohlocket …

      Doch weil wir nicht normal sind, provozieren wir Herausgeber unsere Leser mit Thesen, die eigentlich Selbstverständlichkeiten sind.

      1 Vgl. BERND MARTIN; ERNST SCHULIN (Hrsg.): Die Juden als Minderheiten in der Geschichte. München [Deutscher Taschenbuch Verlag] 1983; PETER SCHÄFER: Kurze Geschichte des Antisemitismus. München [Beck] 2020; WERNER BERGMANN: Geschichte des Antisemitismus. 6. überarb. Aufl. München [Beck] 2020.

      2 Vgl. https://germansandjews.wfilm.de [30. Juni 2020].

      3 DEBORAH FELDMAN: Unorthodox: The Scandalous Rejection of My Hasidic Roots. New York [Simon & Schuster] 2012. Deutsch: Unorthodox. Eine autobiographische Erzählung. München [Beck] 2019.

      4 KIRSTEN GRIESHABER: Willkommen im Café Zahav. Meine israelische Mischpoke und ich. Köln [Bastei Lübbe] 2019; Kritik und Entsetzen nach Angriff auf jüdisches Restaurant. In: Der Tagesspiegel vom 9. September 2018; Ermittlungen nach Angriff auf jüdisches Restaurant eingestellt. In: Jüdische Allgemeine vom 14. Dezember 2020.

      5 SOPHIA MOTT: Dem Paradies so fern. Martha Liebermann. Berlin [Ebersbach & Simon] 2019.

      6 Vgl. URSULA HOMANN: Juden in Goethes Werken. http://www.ursulahomann.de/GoetheUndDasJudentum/kap006.html