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Nirgends scheint der Mond so hell wie über Berlin


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damaligen deutschen Gesellschaft?

      3. Welche Rolle spielte der Antisemitismus beim Aufstieg des Nationalsozialismus?

      Es versteht sich von selbst, dass die Antworten auf diese Fragen beim gegenwärtigen Forschungsstand nur vorläufig sind und bruchstückhaft sein können.

       Was waren die auslösenden Momente der antisemitischen Agitation?

      Zunächst also die Frage nach den auslösenden Momenten der antisemitischen Agitation. Für das deutsche Kaiserreich lässt sich die These erhärten, dass die parteilich organisierten Judenfeinde Hochkonjunktur hatten, wenn die wirtschaftliche Konjunktur sich in einer Abschwungphase befand – und umgekehrt. Prüfen wir, ob diese Faustregel auch für die Weimarer Republik gilt. Die Jahre 1918 bis 1923, in denen wir ein starkes Anschwellen antisemitischer Aktivitäten beobachten, stellten keine Depressionsphase dar. Vielmehr erlebte Deutschland, anders als die übrigen Industrieländer, von 1920 bis zum Sommer 1922 sogar einen inflationsbedingten Boom, und nur im Jahr 1923 könnte man einen Zusammenhang von Rezession und Antisemitismus konstruieren. Aber diese Aussagen müssen sogleich wieder eingeschränkt werden. Eine typische Hochkonjunkturphase bildeten die Jahre 1920 bis 1922 gewiss nicht; dazu waren die wirtschaftlichen Ausgangsbedingungen von 1919, an denen der Produktionszuwachs gemessen wird, zu niedrig, und überdies fehlte dieser von politischen und sozialen Krisen erschütterten Zeit auch psychologisch alles, was ansonsten zu einem Boom gehört. Auf der anderen Seite hatte der Produktionsrückgang von 1923 nicht bloß ›normale‹ wirtschaftliche, sondern vorrangig politische Ursachen, obenan den ›passiven Widerstand‹, mit dem Deutschland auf die französisch-belgische Ruhrbesetzung antwortete. Der Frage, ob nach 1918 weltweit eine langfristige Abschwungphase (mit dem Tiefpunkt nach 1929 und dem Ende erst um 1950) einsetzte, können wir an dieser Stelle nicht nachgehen. Die gewohnten Begriffe und Periodisierungen der Konjunkturtheoretiker werden der deutschen Nachkriegszeit von 1918 bis 1923 jedenfalls kaum gerecht.

      In den Jahren relativer Stabilität von 1924 bis 1928 traten die engagierten Antisemiten sehr viel weniger hervor als im turbulenten ersten Jahrfünft der Republik. Es liegt also nahe, die rückläufige Erfolgskurve der Judenfeinde der wirtschaftlichen Beruhigung zuzuschreiben. Erst recht scheint auf den ersten Blick die These von der Konjunkturabhängigkeit des Antisemitismus wieder in Kraft gesetzt, wenn wir die Jahre 1929 bis 1932 betrachten. Der Vormarsch der radikal antisemitischen NSDAP folgte der schweren wirtschaftlichen Depression auf dem Fuße, und auf die ersten Anzeichen einer gewissen konjunkturellen Erholung reagierten über zwei Millionen Wähler im November 1932 damit, dass sie der Partei Hitlers wieder den Rücken kehrten.

      Lassen wir vorerst dahingestellt, inwieweit die Entwicklung des Antisemitismus seit 1924 wirklich nur aus dem Auf und Ab der Konjunktur abzuleiten ist. Für die Frühzeit der Republik müssen wir die Aussagekraft der rein konjunkturellen Erklärung gering veranschlagen. Die auslösenden Momente der antisemitischen Kampagne in jenen Jahren waren ganz überwiegend politischer Natur. Was ein völkisches Blatt aus Bromberg, die Ostdeutsche Rundschau, am 25. Juni 1919 schrieb, war durchaus typisch für das antisemitische Argumentationsmuster: »Die Juden haben unseren Siegeslauf gehemmt und uns um die Früchte unseres Sieges betrogen. Die Juden haben die Axt an die Throne gelegt und die monarchische Verfassung in Stücke geschlagen. Die Juden haben die innere Front und dadurch auch die äußere zermürbt. Die Juden haben unseren Mittelstand vernichtet, den Wucher wie eine Pest verbreitet, die Städte gegen das Land, den Arbeiter gegen den Staat und (das) Vaterland aufgehetzt. Die Juden haben uns die Revolution gebracht, und wenn wir jetzt nach dem verlorenen Kriege auch noch den Frieden verlieren, so hat auch Juda sein gerüttelt Maß von Schuld. Darum, deutsches Volk, vor allem das Eine – befreie Dich von der Judenherrschaft.«11

      In der ›Gründerkrise‹ nach 1873, der ersten Welle des ›modernen‹ gegen die emanzipierten Juden gerichteten Antisemitismus (in dem freilich, was man nicht übersehen sollte, der uralte Hass auf die jüdischen ›Gottesmörder‹ untergründig wirksam blieb), war den Juden die Schuld an einer schweren wirtschaftlichen Erschütterung aufgebürdet worden. Nach dem November 1918 waren die Juden die geborenen Sündenböcke für die militärische Niederlage Deutschlands und ihre Folgen. Im alldeutschen Lager war diese Funktion der Juden noch während des Krieges vorgeplant worden. Im Oktober 1918 forderte der Vorsitzende des Alldeutschen Verbandes, Heinrich Claß, getreu seinen schon 1914 verkündeten Maximen, die Aktivisten der Organisation auf, »die Lage zu Fanfaren gegen das Judentum und die Juden als Blitzableiter für alles Unrecht zu benutzen.«12

      Die manipulative Absicht, die die Alldeutschen mit ihren Parolen verfolgten, hätte gar nicht deutlicher gemacht werden können. Aber schienen nicht einige Tatsachen die Agitatoren der extremen Rechten zu bestätigen? Sie behaupteten, die Kriegs- und Inflationsgewinnler seien hauptsächlich Juden; Juden hätten die Revolution herbeigeführt und den größten Nutzen von ihr gehabt; die Ostjuden, die unaufhörlich nach Deutschland einströmten, seien Sendboten des jüdischen Bolschewismus und überdies dabei, das deutsche Volkstum zu überfremden. In der Tat war es nicht schwer, Juden zu nennen, die im Krieg oder in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu Geld und Einfluss gelangt waren; unter den Führern des Spartakusbundes und der Unabhängigen Sozialdemokraten gab es viele, unter denen der Mehrheitssozialisten einige Juden; in den ersten Revolutionsregierungen in Reich und Ländern waren Juden bemerkenswert stark vertreten; auf der äußersten Linken spielten auch Ostjuden eine wichtige Rolle – Rosa Luxemburg, Karl Radek und Eugen Leviné zum Beispiel, um nur die bekanntesten zu nennen.

      Was die Antisemiten politisch beweisen wollten, konnten sie doch nur jene glauben machen, die es glauben wollten. Jüdische Spekulanten und Schieber gab es ebenso wie nicht-jüdische. Wenn sich viele jüdische Intellektuelle der Arbeiterbewegung anschlossen, hatte das seinen tieferen Grund darin, dass das Proletariat sich der antisemitischen Propaganda gegenüber weitgehend immun gezeigt hatte und als einzige Klasse jenes System bekämpfte, das Arbeitern und Juden wesentliche Rechte vorenthielt. Als die Sozialdemokratie während des Ersten Weltkrieges ihre Oppositionsrolle und ihren (ohnehin verbal gewordenen) Internationalismus zunehmend aufgab, wandten sich viele Sozialisten jüdischer Herkunft den radikaleren Kräften der Linken zu, die die Kriegskredite und damit den ›Burgfrieden‹ ablehnten. Der Krieg wurde jedoch aus militärischen Gründen verloren, und die Revolution von 1918/19 brach nicht aufgrund irgendwelcher Aktivitäten von Juden aus, sondern weil breite Schichten der deutschen Bevölkerung – keineswegs nur die Arbeiter – Frieden und Demokratie wollten und beides bei Fortbestehen der Monarchie nicht erreichbar schien. Das Gros der Juden unterstützte im Übrigen nicht eine der sozialistischen Parteien, sondern die linksliberale Deutsche Demokratische Partei, die ab 1918/19 ihre Hauptaufgabe darin sah, die Sozialdemokratie von sozialistischen Experimenten abzuhalten.

      Die Ostjuden waren das propagandistische Lieblingsthema der Antisemiten. Sie verschwiegen jedoch beharrlich, dass das deutsche ›Ostjudenproblem‹ zu einem guten Teil erst durch die Politik der Obersten Heeresleitung geschaffen worden war. Sie hatte 1914 in den besetzten Gebieten Russisch-Polens den dort lebenden Juden die materielle Existenzmöglichkeit weitgehend genommen und aus derselben Bevölkerungsgruppe dann Arbeitskräfte für die deutsche Rüstungsindustrie rekrutiert. Etwa 35.000 Ostjuden kamen auf diese Weise – unter mehr oder minder großem Zwang – in das Reich. Ungefähr ebenso viele Ostjuden befanden sich unter den Kriegsgefangenen und Ausländern, die vom Kriegsausbruch in Deutschland überrascht und hier interniert worden waren. Die Zahl der in Deutschland lebenden Ostjuden erhöhte sich somit zwischen 1914 und 1918 um etwa 70.000; nimmt man jene 80.000 Ostjuden hinzu, die schon vor 1914 in Deutschland gewohnt hatten, belief sich die Gesamtzahl bei Kriegsende auf etwa 150.000.

      Nach dem Krieg verloren die meisten ostjüdischen Rüstungsarbeiter ihren Erwerb; eine rasche Rückkehr in ihre Herkunftsgebiete war aber schon deswegen nicht möglich, weil die neu entstandenen Staaten Ostmitteleuropas zunächst keine Neigung zeigten, die ostjüdischen Arbeitslosen bei sich aufzunehmen. Eine beträchtliche Zahl – etwa 30.000 – gelangte 1920/21 dorthin, wo es viele Ostjuden seit langem hinzog: nach Amerika. Auch in den folgenden Jahren wanderten Ostjuden über Deutschland in die Vereinigten Staaten aus. 1925, im Jahr der stärksten ostjüdischen Einwanderung, gab es in Deutschland knapp 108.000 Ostjuden – rund 30.000 mehr als 1910 auf dem gleichen Territorium gelebt hatten. Bis Mitte 1933 sank die Zahl der Ostjuden auf