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Nirgends scheint der Mond so hell wie über Berlin


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der Judenfrage darzulegen. Die meisten Zeitgenossen haben das Problem, dass die Ostjuden für die deutsche Gesellschaft darstellten, maßlos überschätzt oder bewusst aufgebauscht. Es gab eine soziale Ostjudenfrage – aber nur für die unmittelbar Betroffenen. Ein Teil der alteingesessenen deutschen Juden reagierte auf die Minderheit in der Minderheit erschreckt und feindselig. Die orthodoxen Ostjuden erinnerten viele assimilierte deutsche Juden an ihre eigene Vergangenheit – eine unglückliche Vergangenheit, die sie für überwunden hielten, ja vielfach verdrängt hatten. Überdies schlugen die Ressentiments der nicht-jüdischen Umwelt, die sich gegen die als kulturell fremdartig empfundenen, sozial meist niedrigstehenden Neuankömmlinge aus dem Osten richteten, vielfach bereits in pauschalen Antisemitismus um. Eine öffentliche Distanzierung von den Ostjuden wurde jedoch nur von einer Minderheit der deutschen Juden gefordert und vollzogen. Dem jüdischen Unbehagen an der ostjüdischen Einwanderung zum Trotz übten sich die großen Organisationen des deutschen Judentums in Solidarität mit den diskriminierten Glaubensgenossen: Sie bemühten sich, durchaus nicht erfolglos, um die Beschäftigung arbeitsloser Ostjuden und um die Linderung der sozialen Not derer, die ohne Erwerb blieben.

      Wenn die Ostjuden also kein wirkliches soziales Problem für die deutsche Gesellschaft bildeten, wie verhält es sich dann mit jenen Juden, die deutsche Staatsbürger waren? Im Jahr 1925 gab es in Deutschland 564.000 Glaubensjuden. Das entsprach einem Anteil von 0,9 Prozent der Gesamtbevölkerung. Bis zum Juni 1933 sank die Zahl auf 500.000 oder 0,8 Prozent. In ihrer sozialen Struktur unterschieden sich die deutschen Juden deutlich von ihrer Umwelt. 1925 lebten Juden dreimal so häufig in Großstädten wie Nichtjuden (48 zu 16 %); fast jeder dritte Jude hatte seinen Wohnsitz in Berlin. Juden waren massiv unterrepräsentiert in der Land- und Forstwirtschaft sowie in der Industrie und im Handwerk, dagegen stark überrepräsentiert in Handel und Verkehr. Es gab kaum jüdische Bauern und nur wenige jüdische Arbeiter. Dagegen waren Juden weit über dem Durchschnitt vertreten bei den Selbstständigen und Angestellten. Allerdings hatten sich gegenüber dem Kaiserreich die Relationen zwischen den selbstständig und den unselbstständig beschäftigten Juden zulasten der Selbstständigen, in der Mehrzahl übrigens kleine Ladenbesitzer, verschoben. Besonders groß war der Anteil der Juden bei Maklern, Rechtsanwälten, Ärzten, Redakteuren und Regisseuren. Für zwei der oben genannten Berufe möchte ich das mit Zahlen belegen: Von 100 Ärzten waren 1933 elf Juden, von 100 Rechtsanwählten und Notaren sogar sechzehn. Juden hatten ferner starke Stellungen in der Textilindustrie und im Eisen- und Schrotthandel, wo um 1930 jeweils etwa 40 Prozent aller Unternehmen im jüdischen Besitz waren; Juden kontrollierten vier Fünftel des Umsatzes der deutschen Warenhäuser und knapp ein Fünftel der Privatbanken.

      Die deutschen Juden waren also in den privilegierten Schichten der Gesellschaft überdurchschnittlich, in den minderprivilegierten Schichten unterdurchschnittlich vertreten. Nicht mehr der ›Viehjude‹ und der Hausierer, sondern der Arzt und der Rechtsanwalt waren die gesellschaftlichen Symbolfiguren des deutschen Judentums. Dieser soziale Aufstieg, der im Vormärz begonnen und sich im Kaiserreich beschleunigt hatte, war, so paradox es klingt, nicht zuletzt eine Folge lang andauernder und vielfach verinnerlichter Diskriminierung. Den ausgeprägten Hang zur Selbstständigkeit kann man, zum Teil jedenfalls, aus dem Wunsch erklären, Reibungen mit antisemitischen Arbeitgebern und Arbeitskollegen tunlichst zu vermeiden. Viele Juden bevorzugten wirtschaftliche Betätigungen, in denen es keine überlieferten Zugangsbeschränkungen gab oder die ihnen seit alters her offengestanden hatten. Das starke Engagement in der Textilindustrie lässt sich aus der Tradition des Altkleiderhandels ableiten – einem den Juden seit Jahrhunderten vertrauten Gewerbezweig. Ähnliches gilt für das Gesundheitswesen. Andere freie akademische Berufe wurden oft von Juden gewählt, weil ihnen der öffentliche Dienst im Kaiserreich nahezu völlig versperrt geblieben war. Was vielen als jüdische Machtkonzentration erschien, war, so gesehen, nur die Kehrseite fortwirkender Benachteiligung.

      Von einem beherrschenden Einfluss der Juden auf die deutsche Wirtschaft konnte keine Rede sein. Juden waren in den Schlüsselindustrien faktisch gar nicht vertreten, und sie waren weit davon entfernt, das Bankwesen in der Hand zu haben. Verglichen mit der Zeit vor 1914 war die wirtschaftliche Bedeutung der jüdischen Privatbanken sogar stark zurückgegangen. In der Politik spielten Juden nach der revolutionären Gründungsphase der Republik keine herausragende Rolle mehr. Groß war dagegen ihr Gewicht in der Presse – man denke nur an die Frankfurter Zeitung, das Berliner Tageblatt und die Vossische Zeitung – sowie in allen Zweigen des Kulturbetriebs, darunter dem Kabarett und dem neuen Medium Film. Juden traten also häufig als ›Multiplikatoren‹ und nicht selten als ›Modernisierer‹ auf, und beides trug dazu bei, dass ihre tatsächliche Macht überschätzt wurde. In Wirklichkeit war die soziale Position der deutschen Juden in der Weimarer Republik das Produkt von Emanzipation und Diskriminierung – eine Entsprechung des beschränkten Freiraums, der ihnen real zugestanden worden war.

      In der Frühphase der Weimarer Republik spielten, so möchte ich den ersten Abschnitt zusammenfassen, konjunkturelle Bewegungen keine ausschlaggebende Rolle für das Erstarken des Antisemitismus. Vielmehr rief die traumatische Erfahrung von militärischer Niederlage und Revolution, bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen und Inflation, kurz, ein allgemeines Gefühl von Unsicherheit und Umbruch, die Suche nach Sündenböcken hervor. Die Juden waren für diese Rolle besonders geeignet, weil sie als privilegierte Minderheit galten. Ostjuden wiederum dienten dem Antisemitismus als ideale Zielscheibe, weil sie in ihrer Fremdartigkeit dem negativen Klischeebild vom Juden viel mehr entsprachen als die assimilierten deutschen Juden. Das Konkurrenzmotiv blieb in den ersten Jahren der Republik meist verdeckt, aber wir werden noch Sachverhalte zu erörtern haben, die dafürsprechen, dass es vor wie nach 1918 eine wichtige Antriebskraft der Judenfeindschaft bildete.

       Wie verbreitet war der Antisemitismus in der damaligen deutschen Gesellschaft?

      Von der antijüdischen Agitation unbeeindruckt blieb im Großen und Ganzen auch nach 1918 die sozialistische Arbeiterschaft. Dass für die Proletarier nicht der jüdische Kapitalist, sondern der Kapitalist schlechthin der Gegner war, das war nicht nur ein immer wiederholter marxistischer Lehrsatz, es entsprach auch ganz der alltäglichen Erfahrung der meisten Arbeiter. Die Linksparteien griffen den Antisemitismus als eine Ideologie an, die die Massen vom Kampf für den Sozialismus ablenken sollte. Die Sozialdemokraten suchten beharrlich die Glaubwürdigkeit der Nationalsozialisten zu erschüttern, indem sie ihren antijüdischen Behauptungen Punkt für Punkt entgegentraten. In der Endphase der Weimarer Republik arbeitete die SPD eng mit jüdischen Organisationen – darunter auch der größten und repräsentativsten, dem Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens – zusammen, die auf die antisemitische Hetze mit einem Aufklärungsfeldzug antworteten.

      Die KPD knüpfte mitunter – etwa 1923 – bewusst an die antisemitischen Vorurteile der von ihr umworbenen Anhänger Hitlers an und forderte sie auf, zwar auch, aber nicht nur gegen das jüdische Kapital zu kämpfen. Am Antisemitismus interessierte die Arbeiterparteien ebenso wie die Intellektuellen der deutschen Linken primär die Funktion, die er für den Kapitalismus hatte. Von der Funktion, die der Antisemitismus für die Antisemiten hatten, war seltener die Rede. Da der Nationalsozialismus als eine Spielart des Faschismus begriffen wurde (was er sicherlich auch war), maß man ihn am italienischen Vorbild. Von daher lag es nahe, den Stellenwert des Antisemitismus zu unterschätzen. Das Schicksal, das die deutschen und europäischen Juden nach 1933 treffen sollte, lag jenseits der Vorstellungskraft der deutschen Linken.

      Wenden wir uns nun kurz einer Gruppe zu, die vor 1933 ebenfalls nicht oder nur in engen Grenzen von den Nationalsozialisten erobert werden konnte: den Katholiken. Ihre Parteien, das Zentrum und die Bayerische Volkspartei, nahmen den Juden und den Judenfeinden gegenüber eine zwiespältige Haltung ein. Einerseits machten sie Front gegen antisemitische Ausschreitungen und Rassenhetze, andererseits pflegten sie eine Art kulturellen Antisemitismus. Diese doppelte Gegnerschaft entsprach ganz der damaligen kirchlichen Sicht. Statt vieler Belege aus dem katholischen Lager zitiere ich nur einen. Im Großen Herder heißt es 1926 – also in einer vergleichsweise ruhigen Phase der Weimarer Republik – unter dem einschlägigen Stichwort, der Antisemitismus sei »in seinem Wesen eine Abneigung der Mehrheit gegen die als artfremd empfundene, z. T. sich selbst abschließende, aber ungewöhnlich einflussreiche Minderheit, welche hohe, namentlich geistige Werte, aber auch übersteigertes