David Urquhart

Reisen unter Osmanen und Griechen


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Gewohnheiten und dem Nationalcharakter von Jahrhunderten, zwischen häuslichen Gebräuchen und ge schichtlichen Ereignissen! Erst seit zehn Minuten ist das Zelt aufgeschlagen, vom Herd steigt der Rauch auf, und wir fühlen, wir begreifen den Unterschied zwischen gotischer und orientalischer Kolonisierung und Vaterlandsliebe. Wir lagern vielleicht zwischen den Trümmern eines Tempels der althellenischen Götterwelt; ein Diener bringt zum Abendessen Kräuter, die er auf einem Schlachtfeld suchte, bei dessen Namen das Schulknabenherz hoch aufschlug; er nennt sie mit denselben Namen, die Hippokrates oder Galen gebraucht hätten, und während der Zeit pfählt der Reitknecht das Pferd an, wie es Brauch im Altai-Gebirge.

      Aber der Durst des europäischen Reisenden nach Neuem wird nicht gestillt werden, wendet er nicht seinen Geist auf das, was ich das Neue vom Altertum nennen möchte. Die feineren und kleineren Teile des Wesens der früheren Zeiten, die man nicht mit Worten fassen konnte, sind für unsere Zeiten und in unserem Erdteil verloren. Im Morgenland aber leben und atmen noch die Sitten des Altertums. Dort kann man essen, wie die Leute in Athen aßen; dort kann man im größten, im verlorenen Genuss der Vorzeit schwelgen und baden wie einst in Rom, und während man dort noch frisch und lebendig, mit Fleisch und Blut angetan die homerischen Gebilde von dreitausend Jahren erblicken kann, mag man sich das leibhaftige Gegenstück in unseren angelsächsischen Urahnen denken, wie Beda11 sie beschreibt, und den von Alfred12 angeordneten Gauthingen beiwohnen.

      Sollte ich die köstlichste Stunde auswählen aus diesem einfachen und nomadischen Leben, so wäre es die der Abend-Biwacht. Man wählt sein Lager und schlägt sein Zelt auf, wo Phantasie oder Laune es eingeben, am Bergesabhang, im abgeschlossenen Tal, am murmelnden Bach oder in einem düsteren Wald. Vertraut geworden mit der Mutter Erde streckt man sich nieder und legt sein Haupt an ihre nackte Brust. Schnell knüpft man Gemeinschaft an mit ihren anderen Kindern, mit dem Forstmann, dem Pflüger im Blachfeld oder dem Schäfer auf den Bergen. Man ruft zur Teilnahme am Abendbrot einen müden Wanderer, dessen Namen uns ebenso unbekannt ist wie sein Stamm und sein Geburtsland. So angenehm diese Ungewissheit ist, so sicher ist doch die Belohnung aus einem solchen Zusammentreffen, mag nun der Gast die Abendstunden mit Märchen aus der Wüste ausfüllen oder mit Geschichten aus der Hauptstadt, und mag er in diesem Pilgerland die Ströme Kaschmirs oder die brennende Sahara besucht haben.

      Obgleich man aber die Gesellschaft eines Menschen nirgends besser genießen kann, so kann man sie doch auch nirgends leichter entbehren als in seinem Zelt nach den Beschwerden eines langen Tages. Es ist ein mit Worten nicht auszusprechendes Vergnügen, diese überall sich gleiche, bewegliche Heimat zu hüten, die ihren Zauberkreis aufschlägt und ihre vergoldete Kugel in die Lüfte erhebt. So wie ein Strick nach dem anderen eingepfählt wird, nimmt sie ihre gewohnten Formen an, und dann breitet sie weithin ihr zierlich ausgezacktes Dach, drinnen mit ihren bunten Teppichen und Polstern und Kissen prunkend. Nach den Beschwerden des Tages und den Mühen der Reise verrichtet der Reisende zuvörderst seine Abwaschungen am fließenden Bach, sagt sein Namaz13 her, und dann ruht er in seinem Zelt, den letzten Strahl der Abenddämmerung belauschend, in der abgeschlossenen Ruhe, die nicht Nachdenken ist, nicht Gedankenleere, sondern die Stille in der ganzen Natur, die stumme Betrachtung der Menschen und Dinge. So fördert man die nachdenkliche Weise, so erlangt man die Nüchternheit des Sinnes, die, wenn auch nicht tief, doch niemals oberflächlich wird. So sollte man den Moslem sehen, daheim in der Wildnis, malerisch in seinem Aufzug, Würde auf der Stirn, Willkommen auf seinen Lippen und Poesie rund um ihn her. Ein solches Gemälde vor Augen habend, mag der immer geschäftige Abendländer das innere Wesen, die Gemütsbildung derer belauschen, die an ein solches Leben gewöhnt sind und die eben deshalb zu ihrem Lebensbetrieb die Ruhe mitbringen, die wir nur in der Einsamkeit finden können, wenn wir unserer selbst geschaffenen Welt von Umständen entronnen, einen Augenblick lang das Weltall besuchen und bewohnen dürfen, und mit ihm uns unterhalten in einer Sprache ohne Worte.

      Diese Vergnügungen aber, von denen ich nur die Schatten zu skizzieren versucht habe, sind keineswegs die einzigen auf einer Reise im Morgenland. Die große Quelle der Lust für einen Fremden ist der Mensch, der Charakter des Volkes und seine politischen Verhältnisse; die neue und verschiedenartige Handlung; die dramatische, einfache und eigentümliche Darstellung. Bei uns sind die Nationalverhältnisse, die des Forschers Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, so analytisch und wissenschaftlich, dass nur diejenigen sich ihnen nahen dürfen, die jedem einzelnen Zweig eine Lebensdauer voll Arbeit gewidmet haben. Wer aber das vermocht hat, ist vertieft in ein ausschliessliches Studium; wer es nicht gekonnt, hat kein Stimmrecht und scheut zurück vor der Prüfung. Im Osten aber, wo das System der politischen Verhältnisse einfach ist, wo man das sittliche Recht und Unrecht im persönlichen Charakter klar auffasst, sind alle unserer Aufmerksamkeit würdigen Gegenstände im Bereiche unwissenschaftlicher Beobachtung und selbst der gewöhnlichen Auffassung zugänglich. Freilich muss der Fremde damit beginnen, dass er vorgefasste Meinungen bei Seite lege; das ist der erste Schritt, um sich bekannt zu machen mit Begriffen, die ganz verschieden sind von denen, die die Erziehung in volkstümlichen Gewohnheiten und die Erfahrungen des Geburtslandes ihm einpflanzten.

      1Der albanische Schurz, weiß, länger als der schottische und sehr reich an Falten.

      2Das vornehmste Kaffeehaus in Napoli di Romania war, in Folge der günstigsten Wirkung eines früheren Protokolls „les trois puissances“ genannt worden. So wie das Protokoll vom 3. Februar 1830 eintraf, erhielt es augenblicklich den Spottnamen: Café des trois potences.

      3Die Sulioten aus dem unzugänglichen epirotischen, heute nordgriechischen Bergland waren eine der Keimzellen der sog. Epanastasis gegen die Osmanen. Einer ihrer herausragenden Anführer war Markos Botzaris (Red.).

      4Oder Skutari/Skoder in Albanien (Red.).

      5Im Jahr 1808 war der Großwesir Mustafa Bayraktar nach Konstantinopel marschiert, um dort einen Janitscharenaufstand niederzuschlagen, bei dem der amtierende Sultan abgesetzt worden war.

      6Der britische General Robert Ross, der 1814 Washington eroberte und die dort von Seiten der Amerikaner bereits errichteten öffentlichen Gebäude zerstörte (Red.).

      7Diese Frage wird zur größeren Deutlichkeit oft dreifach wiederholt, mit Ausdrücken, die aus dem Italienischen, Türkischen und Griechischen abgeleitet sind, nämlich: Ti m(p)ándata - ti chabéri - ti néa?

      8Provinzstadt in Nordwestgriechenland (Red.).

      9Wenn im Texte von Meilen die Rede ist, so sind damit immer englische gemeint, 69 auf einen Grad. (Anm. d. Übers.)

      10Edmund Burke (1729-1797), englischer Philosoph und Staatsmann (Red.).

      11Beda Venerabilis, englischer Geschichtsschreiber und Literat (Red.).

      12Alfred der Große (ca. 846-899), der im Jahr 886 die beiden angelsächsischen Königreiche zusammenführte (Red.)

      13Türkische und persische Bezeichnung der moslemischen Tagesgebete (Red.).

      ZWEITES KAPITEL

      ZUSTAND DES GRIECHISCHEN LANDVOLKES IM JAHRE 1830 - MILITÄRISCHE UND POLITISCHE WICHTIGKEIT DER BUCHT VON KORINTH - VORFALL IM BEFREIUNGSKRIEGE - SEEGEFECHT IN DER BAY VON SALONA

      Nachdem wir, wie schon erwähnt, die erste Nacht unserer Reise in den Trümmern von Mykenai zugebracht hatten, gingen wir am folgenden Morgen nach Korinth. Wir kamen durch das Dervenákia1, welches durch die Niederlage berühmt geworden war, die der Pascha von Drama hier erlitt. Nicht ohne Interesse bemerkten wir die damals aufgeworfenen Cambouris (Brustwehren, Feldschanzen) und vernahmen verschiedene Erzählungen von der Vereinigung und dem Sieg der Griechen. Einige Meilen weiter ergötzte es mich, die durch ihre malerischen Trümmer geweihte kleine Ebene von Nemaia wieder zu erblicken; allein ich musste bedauern, dass ein ganzes Jahr weder den Anbau vermehrt, noch die Lage der wandernden Vlachen2 verbessert hatte. Derselbe Monat fand sie wieder, ihre Butter unter demselben Baum bereitend und ihre einfachen Geräte an dieselbe Säule hängend; keine Last war erleichtert - ich möchte, dass ich hinzufügen könnte: keine Aussicht war zerstört.

      Der gegenwärtige