32. Wer hat die Axt gestohlen?
Benutzte chinesische Literatur
EINLEITUNG
Das vorliegende Werk, das in der chinesischen Literaturgeschichte unter dem Namen Liä Dsï, das heißt »Meister Liä« geht, ist kein einheitliches Gebilde, nicht einmal in dem Sinne wie die Gespräche Kungfutses oder der Taoteking Laotses, die beide eine in sich geschlossene Weltanschauung bieten. Es kann etwa bezeichnet werden als das vermittelnde Zwischenglied zwischen der grundlegenden Konzeption des Taoteking auf der einen Seite und der Zusammenfassung der taoistischen Lehren in dem Werk, das unter Dschuang Dschous (gewöhnlich Dschuang Dsï genannt) Namen geht, auf der anderen Seite.
Außer den Heroen des Altertums sowie Laotse und Kungtse, die beide eine hervorragende Rolle spielen – Kungtse wird sogar noch häufiger erwähnt als Laotse – sind es besonders zwei Persönlichkeiten der taoistischen Schule, um die sich die Lehren des Buchs gruppieren: Liä Yü Kou und Yang Dschu. Die beiden sind innerhalb des Taoismus die äußersten Gegensätze, und man würde sich das Verständnis unseres Werks verschließen, wenn man ihre Ansichten einheitlich zusammenfassen wollte. Liä Yü Kou, für dessen Lebensgeschichte wir im wesentlichen auf das hier vorliegende Material angewiesen sind, scheint mindestens ein halbes Jahrhundert später als Konfuzius geboren zu sein. An seiner Existenz zu zweifeln, liegt kein genügender Grund vor. Im übrigen ist die Frage, ob er wirklich existiert hat oder nicht, keineswegs brennend, da sein äußeres Leben in solcher zurückgezogenen Ruhe sich bewegte, daß es keine dauernden Furchen im Menschheitsmeer zurückgelassen hat. Was uns an ihm wertvoll ist, sind seine Gedanken, und diese Gedanken sind da, ganz einerlei, ob er es war, der sie der Nachwelt überliefert, oder »ein anderer Mann gleichen Namens, der zu jener Zeit gelebt hat«. Daneben ist es weit weniger interessant, danach zu forschen, womit er seine Schweine gefüttert (s. II, 13) und was er seiner Frau für Kummer bereitet hat durch Ablehnung eines Geschenkes des Ministerpräsidenten (s. VIII, 6). In China hat nur der ein Anrecht, verzeichnet zu werden in den Büchern der Geschichte, der zum mindesten einmal in seinem Leben irgendein Amt bekleidet hat. Und das hat Liä Dsï nicht getan, weder in seiner Heimat Dscheng, wo er, wie Nietzsches Zarathustra, vierzig Jahre zugebracht, ehe er daran ging, seine Lehren der Nachwelt zu überliefern (s. I, 1), noch im Staate Tsi (der im späteren Schantung lag), wo ihm diese Gefahr beinahe gedroht hätte, der er sich aber rechtzeitig durch die Flucht entzog (s. II, 14). In seinem Wesen tritt er uns keineswegs als ein von Anfang an in sich geschlossener Charakter entgegen, vielmehr zeigt er die Wahrheit des Satzes: »Es irrt der Mensch, solang er strebt.« Während er noch beschäftigt war, an der Hand seines Lehrers in die Wahrheiten der Taolehre einzudringen, ließ er sich von einem geschickten Zauberer so hinnehmen, daß er, für einen Moment wenigstens, an seinem Lehrer irre wurde, bezw. ihn auch der neuen Lehre teilhaftig machen wollte (s. II, 13). Erst die überlegene Art, mit der sein Lehrer jenen Schwindler entlarvt, bringt ihn zur Beschämung und auf die Bahn des Forschens zurück. Daß er zum Abschluß seiner Lehre soweit in der Geistigkeit vorgeschritten war, daß er auf dem Winde reiten konnte (s. II, 3), dürfen wir ihm nicht so schwer anrechnen, daß wir deshalb seine Existenz bezweifeln müßten, zumal er sich, seiner eignen Aussage nach, zu jener Zeit im Stadium höchster Ekstase befand. Er liebte das Wandern (IV, 7) und das Bogenschießen (II, 5), ohne daß er schon von Anfang an die höchste Stufe dieser Betätigungen erreicht hätte. Er zeigt sich überhaupt als eine umgängliche Natur und scheint etwas Einnehmendes in seinem Wesen gehabt zu haben, das ihm die Leute geneigt machte. So ist es ihm denn auch nicht gelungen, gleich seinem schrofferen und energischeren Freunde Be Hun Wu Jen sich ganz von aller Verbindung mit den Menschen zu lösen. Nicht nur, daß er schlicht und recht verheiratet war (II, 13; VIII, 6), sondern er zog auch viele Schüler an sich (II, 14; IV, 5 Anm.), die ihn zum Teil, als er sein Heimatland infolge Hungersnot verließ, in die Fremde begleiteten (s. I, 4). Wann und wo er gestorben ist, wissen wir nicht. Bei seiner Anschauung vom Tod, die er dem Totengebein am Wege gegenüber zum Ausdruck bringt (s. I, 4), dürfte dieses Ereignis auch für ihn nicht von besonderem Interesse gewesen sein. Was wir viel lieber wüßten, das ist, wer seine Lehrer Hu Kiu Dsï Lin und Be Hun Wu Jen gewesen sind. Leider hören hier alle Spuren auf. Man ist an manchen Stellen geneigt anzunehmen, daß einzelne Fäden nach Indien führen, aber wir sind hier gänzlich auf Vermutungen angewiesen. Vom Buddhismus sind die Lehren sicher nicht beeinflußt; dazu haben sie zu charakteristische Verschiedenheiten der Gesamtauffassung. Wohl aber finden sich manche Berührungspunkte mit vorbuddhistischen Gedanken, deren Ursprung man gern verfolgen würde. Wir müssen uns bescheiden. Daß Laotse wenigstens indirekt Einfluß auf ihn ausgeübt hat (persönlich scheint er ihm nie nahegetreten zu sein), läßt sich ganz unzweifelhaft feststellen. Aber auch Konfuzius wird unbefangen und gerne zitiert.
Wesentlich anders liegen die Verhältnisse mit dem anderen Philosophen, dessen Anschauungen unserem Werke einverleibt sind: Yang Dschu. An seiner Existenz hat noch niemand gezweifelt. Dazu hat er zu tiefe Spuren im chinesischen Geistesleben hinterlassen. Das »Hic niger est, hunc tu, Romane, caveto«, das ihm der eifrige Konfuzianerprediger Menzius in China für alle Zeiten angeheftet, hat seinen Namen als den eines Erzketzers unvergeßlich gemacht. Aber damit sind wir auch so ziemlich am Ende unserer Kenntnisse über ihn angelangt. Zum Glück haben sich seine Lehren unter dem Namen und Buch des Liä Dsï einen Deckmantel geschaffen, der sie vor der Vernichtung bewahrt hat, die sonst wohl ihr sicheres Teil geworden wäre. Wann Yang Dschu gelebt hat, ist ungewiß. Wir werden wohl am sichersten gehen, wenn wir ihn für einen Zeitgenossen des Liä Dsï erklären. Nach II, 15, wo übrigens der Text nicht ganz in Ordnung zu sein scheint, könnte man schließen, daß er aus dem Staate Pe im Südwesten des damaligen China stammte. Dort wird eine sehr hübsche Geschichte von ihm erzählt, wie er mit Laotse zusammentraf und durch die Selbstzufriedenheit in seinem Blick des Alten Mißfallen erregte, eine Verfehlung, die er nachträglich durch sein Benehmen so sehr wieder gutgemacht hat, daß die Leute in der Herberge, die zuerst dem vornehmen Herrn scheu ausgewichen waren, ihn hinterher als ihresgleichen betrachteten und ihm den Platz an der Ofenecke streitig machten. So gut erfunden die Geschichte ist, möchten wir sie doch nicht gern als historisches Dokument zur Festlegung der Zeit, in der er gelebt hat, verwerten.
Sonst erfahren wir noch von ihm, daß er einen jüngeren Bruder Yang Bu gehabt hat, mit dem er offenbar auf gutem Fuße stand (