Hügeln Tempel des genannten Nephritherrschers stehen, so haben wir in ihnen nichts anderes zu sehen als Überbleibsel von Höhenkultplätzen ursprünglicher Himmelsverehrung, und erst nachdem der Dienst des höchsten Gottes Monopol des Kaisers geworden war, der alljährlich am Himmelsaltar bei der Hauptstadt opfert, hat man dem Bedürfnis des Volkes nach Verehrung des Himmels auf diese Weise ein Surrogat gegeben.
Um die verschiedenen Aussprüche des Buches, die in ihren Konsequenzen zum Teil sehr stark auseinander gehen, einigermaßen übersichtlich anordnen zu können, muß man die Lehren, die auf Liä Dsï zurückgehen, von denen Yang Dschu’s trennen. Es steht zwar nicht so, daß sie keinerlei Verbindungspunkte hätten, vielmehr ist in der Taolehre ein breiter Boden gegeben, der die gemeinsame Grundlage für ihre beiden Gedankenentwicklungen abgibt. Die Tiefe des Taoteking ist den realen Vorgängen des Lebens gegenüber so neutral, daß sehr viel auf den Standpunkt ankommt bzw. auf das Temperament, mit dem man an jene Intuitionen herangeht. Noch mehr ist das beim Yin Fu Ging der Fall, der alles Ethische ganz beiseite läßt und gewisse Formen uralter Magie mit seiner Weisheit vermischt.
Im ganzen Buche ist die dynamisch-monistische Welterklärung jener alten Weisen vorausgesetzt. Der Standpunkt des freien Denkens ist erreicht, vor dem sich die festen Gegebenheiten, die dem naiven Beobachter in der Welt entgegentreten, aufzulösen beginnen in ein Spiel unsicheren Scheins (III, 2). Dieser Welt des Scheins nun gehören nicht nur die äußeren Dinge an, sondern auch das Bewußtsein des Menschen ist in diesen Kreislauf geschlossen. Erkenntnistheoretische Probleme sind daher in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt, denn die Welt der Erscheinungen hat doch zu feste Umrisse, so daß sie als bloße Ausströmung des eignen Ichs erfaßt werden könnte. So wird ganz deutlich hingewiesen auf den Gegensatz zwischen der – festen Kausalgesetzen unterliegenden und darum notwendig dem Wechsel und der Vergänglichkeit verfallenen – Welt der Erscheinungen, und dem sie bedingenden, in Freiheit wirkenden Ding an sich, dessen Unerkennbarkeit behauptet wird (I, 1). Diese Welt der Erscheinungen geht durch eine Art von Emanationsprozeß aus dem ewig jenseitigen Ursein hervor (vgl. I, 2) und faltet sich, in der Endlichkeit angelangt, in die Welt der sich bedingenden und bekämpfenden Gegensätze auseinander. Zu dieser Welt gehören sowohl die unsichtbaren, geistigen Gebiete, die man Himmel nennt, als die grobstofflich sichtbaren Gebiete, die mit dem Namen Erde bezeichnet werden, als auch der Vermittlungspunkt zwischen beiden: Der Mensch. Man muß daran festhalten, daß die Ausdrücke Himmel und Erde gerade bei Liä Dsï, wie übrigens auch sonst im chinesischen Denken, keine individuellen Begriffe sind, sondern Modi des Seins, die man ebensowohl als Geist und Materie, wie auch als Denken und Ausdehnung bezeichnen könnte, wodurch klar wird, inwiefern die geistleibliche Daseinsform, die Mensch genannt wird, ebenfalls zu den kosmischen Potenzen gerechnet werden kann.
Die erkenntnistheoretische Arbeit, die in unserem Buch geleistet wird, ist nicht gering anzuschlagen. So sind die Antinomien der reinen Vernunft in einer Fassung, die der Kantischen recht nahekommt, aufgestellt (V. 1, 2). Auch ihre Unlösbarkeit ist im Prinzip ausgesprochen, wenngleich die Neigung besteht, in allen Fällen die Kantische Antithese zu betonen. Dies zeigt einen einheitlichen Zug der Gedankenentwicklung, der aus dem dynamischen Relativismus, der die Grundanschauung bildet, sich ungezwungen erklären läßt. In doppelter Weise ist der Mensch in den Weltzusammenhang notwendig verstrickt. Einmal, sofern er Erscheinung ist, ist er das Produkt einer besonderen Konstellation der Elemente, die den Metamorphosen des Lebensverlaufs in der Welt zugrunde liegen. Er taucht auf aus diesem Triebwerk und kehrt zurück in dieses Triebwerk. Geburt und Tod bedingen sich gegenseitig und schließen den Kreis (vgl. I, 4 und folgende). Das Leben des Individuums ist bloß eine zufällige Erscheinung ohne Dauer, nur abhängig davon, wie gerade jene Elemente zusammentreten. Es kann Wesen geben, die zwar dem Leibe nach Menschen gleichen, im Innern aber Tiere sind, ebenso wie der umgekehrte Fall eintreten kann. Auf diese Weise überbrückt sich für unser Werk die schroffe Kluft zwischen Mensch und Tier (II, 18). Zum Verständnis dieser Auffassung lohnt es sich, das Gespräch, das Goethe mit Falk an Wielands Begräbnistag über die Monaden geführt hat, zu vergleichen. Die andere Art der Abhängigkeit des Menschen besteht darin, daß die ganze Erfahrungswelt, die er besitzt, ihm von außen aufgezwungen wird. Gewiß liegen im Menschenwesen notwendige Formen (Kategorien), in die sich alle Erlebnisse einordnen (III, 4); aber diese Kategorien sind bloße Möglichkeiten. Ihre Erfüllung hängt von der Außenwelt ab. Diesen äußeren Einflüssen ist ebensowohl der Körper als der Geist des Menschen zugänglich. Die Erfahrungen, die durch körperliche Einwirkungen gemacht werden, konstituieren das wache Leben. Die Erfahrungen, die sich nur auf die Psyche erstrecken, nennt man Traum. Ein objektives Kriterium für die Wertung von Wachen und Traum existiert nicht (III, 5 ff), ebensowenig wie für die Bestimmung dessen, was geistig normal und abnorm ist (III, 9). Die übliche Wertung ist nur eine Sache der Konvention.
Es verdient bemerkt zu werden, daß neben dem durchgängigen Kausalzusammenhang, der mit gesetzmäßiger Notwendigkeit alles Geschehen bestimmt, ein Platz für die freie Betätigung des Menschen nicht mehr übrig ist (VI, 1). Konsequenterweise wird der Determinismus auf das Innenleben ganz ebenso angewandt wie auf das äußere Geschehen (VI, 10). Der Schein der Freiheit entsteht nur aus der Stetigkeit der Übergänge. Ebenso wie der Wandel in der Zeit so allmählich ist, daß er sich immer erst in größeren Abschnitten erkennen läßt (I, 10), sind auch die Unterschiede der Schicksale in ihren Anfangspunkten so gering, daß sie verwechselt werden (VI, 2. 11). Obwohl dann jedes seinen ganz bestimmten Verlauf nimmt, entsteht auf diese Weise doch der Schein, als könnten aus denselben Bedingungen sich ganz verschiedene Ergebnisse entwickeln, zumal da jeder Mensch unmittelbar nur seine eigne psychische Struktur kennt und sie zum Maßstab nimmt für die Beurteilung der anderen (vgl. VI, 10).
Außer diesem durchgehenden Kausalzusammenhang, dessen Erkenntnis für den »Berufenen«, der sein Urgesetz, den SINN, durchschaut, wenigstens prinzipiell möglich ist, werden aber auch noch besondere Komplexe angenommen, die auf sich selbst beruhen und ihren eigenen Gesetzen folgen (V, 5. 6; VI, 5. 7. 9). Diese Zusammenhänge, die gewissermaßen für sich bestehende Inseln des Zufalls oder der Freiheit innerhalb des großen Weltgeschehens bilden, erinnern in manchem an das, was Goethe das »Dämonische« genannt hat. Vgl. Dichtung und Wahrheit, Band XX: »Er glaubte in der Natur, der belebten und unbelebten, der beseelten und unbeseelten, etwas zu entdecken, das sich nur in Widersprüchen manifestierte und deshalb unter keinen Begriff, noch viel weniger unter ein Wort gefaßt werden könnte. Es war nicht göttlich, denn es schien unvernünftig, nicht menschlich, denn es hatte keinen Verstand, nicht teuflisch, denn es war wohltätig, nicht englisch, denn es ließ oft Schadenfreude merken. Es glich dem Zufall, denn es bewies keine Folge; es ähnelte der Vorsehung, denn es deutete auf Zusammenhang. Alles, was uns begrenzt, schien für dasselbe durchdringbar; es schien mit den notwendigen Elementen unseres Daseins willkürlich zu schalten; es zog die Zeit zusammen und dehnte den Raum aus. Nur im Unmöglichen schien es sich zu gefallen und das Mögliche mit Verachtung von sich zu stoßen.«
Soweit ungefähr dürfte die Grundlage gehen, die Yang Dschu und Liä Yü Kou gemeinsam ist. In allem Weiteren divergieren sie. Yang Dschu scheitert an der Zusammenfassung der Gegensätze, die darin liegen, daß einerseits die strikteste Notwendigkeit herrscht, die sowohl die Handlungen der Einzelnen als auch ihre Schicksale zwingend gestaltet, anderseits diese Notwendigkeit als blindes Fatum waltet, in dem kein vernünftiger Sinn zu entdecken ist. In der Klage über die Eitelkeit der Welt findet er Töne, die ihn dem »Prediger Salomo« verwandt erscheinen lassen. Da sein Blick ausschließlich auf das diesseitige Leben gerichtet ist, das mit dem Tode notwendig in Moder und Fäulnis übergeht, so kann er natürlich auch keine idealen Güter anerkennen. Alle die Ziele, die die Menschen sich stecken, von der Erlangung des Nachruhms ab bis zum Streben nach einer moralischen Gestaltung des Lebens unter der Herrschaft fester Maximen, sind für ihn eitel Lug und Trug: Tyrannen, die den Menschen ketten, und ihn um das einzige was er hat, sein Leben, betrügen, während sie keinerlei Ersatz für das Verlorene zu bieten vermögen (vgl. Buch VI und VII): Es sind alles nur leere Ansichten, die den Menschen in seinem Streben nach Leben in die Irre führen wie ein verlorenes Schaf (VIII, 23). Damit bricht naturgemäß auch der ganze Bau der Kultur in nichts zusammen, und alle gesellschaftlichen Beziehungen verlieren ihre wesentliche Bedeutung. Höchstens als zweckmäßige Konventionen, sich gegenseitig das Leben erträglich zu gestalten, kommen sie in Betracht (VII, 6). Die Ethik des Yang Dschu entspricht diesen Prinzipien. Menzius hat ihm den Vorwurf des Egoismus gemacht