Er verabschiedete sich mit einem Handkuß, und Michelle geriet ins Grübeln, als er verschwunden war.
Ihr Vater und Paul Valerian waren gute Freunde gewesen. Sie hatten auch eine enge geschäftliche Verbindung gehabt, und so hatte Michelle auch Michael kennengelernt. Michelle und Mick, sie wurden oft zusammen gesehen. Aber sie hatte immer das Gefühl gehabt, daß Mick mehr ein väterlicher Freund und Beschützer war. Er war längst mit dem Studium fertig, hatte seinen Doktor und reiste schon damals in der Welt herum. Man munkelte einmal, daß er mit einer Japanerin liiert sei, aber Michelle hatte nie etwas auf Klatsch gegeben. Mick war ein Freund, und sie respektierte ihn.
Warum nicht Mick, warum Carlos, ging es ihr durch den Sinn. Aber damals war sie achtzehn gewesen und voller Träume. Heute würde sie wohl anders denken über eine solche Beziehung. Aber ein Freund war Mick immer noch.
Sie ging zu ihrer Wohnung zurück. Jenna war nicht im Büro. Es ging Michelle durch den Sinn, daß sie von Ärger gesprochen hatte, und sie machte sich jetzt Gedanken.
Sie war noch dabei, ihre Einkäufe auszupacken, als das Telefon läutete. Es war Jenna. Sie fragte, ob sie kurz kommen dürfe.
Keine Frage, natürlich durfte sie. Michelle sah gleich, daß sie geweint hatte.
»Ich bitte um Ihr Verständnis, aber es ist besser, wenn ich heute abend nicht mitkomme«, sagte sie. »Wenn mein Chef das erfährt, ist erst recht die Hölle los.«
»Und warum ist sie eigentlich los?« fragte Michelle.
»Er belästigt mich dauernd, und da ich ihn zurückweise, schikaniert er mich. Aber ich kann nicht kündigen, ich brauche das Geld. Es ist so schwer, etwas zu finden, was halbwegs gut bezahlt wird.«
»Ich wüßte schon was, Jenna. Auf jeden Fall kommen Sie heute abend mit, und wenn er sich aufregt, kündigen Sie gleich. Ich
werde Ihnen das gleiche Gehalt zahlen, wenn Sie zu mir kommen.«
»Das geht doch nicht. Sie brauchen doch keine Sekretärin.«
»Wir haben eine große Firma, das regelt sich alles von selbst. Auf jeden Fall sollten Sie auch mal was von der Welt sehen.«
Jenna wußte nicht, wie ihr geschah. Ungläubig sah sie Michelle an. »Sie meinen das ernst?« fragte sie bebend.
»Natürlich meine ich es ernst. Ich wecke keine falschen Hoffnungen. Wir gehen heute abend aus. Alles andere wird sich finden.«
*
Dr. Norden rief bei Mona an. Er wollte wissen, ob sie Nachricht von Michelle hätte. Sie mußte es verneinen.
»Ich mache mir schreckliche Sorgen«, sagte sie. »Vorhin kam ein Anruf aus Spanien. Dorant ist mit einem Kollaps ins Hospital gebracht worden. Näheres wurde uns nicht gesagt. Nur, daß seine Frau benachrichtigt werden solle, da sein Zustand kritisch sei.«
»Nun, vielleicht ist es in dem Fall sogar gut, daß sie nicht benachrichtigt werden kann«, meinte Daniel Norden.
Mona mußte ihm recht geben. Sie sagte ihm auch, daß Dorant angerufen, aber nur mit Marie gesprochen hatte.
Wenn Daniel nicht gewußt hätte, wie ernst auch Michelles Zustand werden konnte, wäre es ihm nur recht gewesen, daß sie nicht an Dorants Krankenbett sitzen brauchte.
Mona brachte indessen in Erfahrung, was Carlos eigentlich fehlte. Der behandelnde Arzt erklärte ihr, daß er in der Sonne eingeschlafen sei und einen Sonnenstich bekommen hätte. Erschwerend wäre, daß er einen beträchtlichen Leberschaden hätte und nun wohl als Folge der Sonnenbestrahlung eine Meningitis. Das klang allerdings sehr bedenklich, und Mona wußte, daß man sich da auf alles gefaßt machen mußte.
Sollte so das Ende dieser Ehe kommen? Aber war nicht auch Michelles Gesundheit auf das Äußerste gefährdet?
Mona fröstelte es.
Sie konnte nicht mal gleich mit Philipp sprechen, da er erst abends aus Düsseldorf zurückkommen würde.
Michelle, wo bist du? Etwas anderes konnte sie nicht denken.
*
Michelle hatte sich für ein schlichtes grünes Kleid aus leichtem Wollgeorgette entschlossen, da es lange Ärmel hatte, und sie abends so leicht fröstelte. Vielleicht hatte dabei auch der Gedanke mitgespielt, daß Carlos grün nicht leiden konnte. Das Kleid bekam seinen besonderen Pfiff durch eine wunderschöne Gürtelschnalle, auf die auch die goldene Kette mit einem attraktiven Anhänger abgestimmt war. Als sie sich im Spiegel betrachtete, fiel es ihr erstmals so richtig auf, daß sie sehr abgenommen hatte, denn der Gürtel rutschte ihr fast über die Hüften. Aber das fand sie dann ganz apart.
Eigentlich müßte ich doch zunehmen, dachte sie und wunderte sich nun doch ein bißchen. Ich hätte den Befund abholen sollen, ging es ihr dann durch den Sinn. Was sollte Dr. Norden von ihr denken? Sie mochte ihn, sie wollte es mit ihm nicht verderben. Ich werde ihn morgen oder übermorgen anrufen, nahm sie sich vor und beschwichtigte damit ihr Gewissen.
Sie hatte mit Jenna verabredet, sie unten im Foyer zu treffen. Es war nicht weit zum Casino. Sie konnten zu Fuß gehen. Jenna sah sehr apart aus in dem Seidenkleid, das ihre gute Figur besonders zur Geltung brachte.
Kleider machen Leute. Michelle sah dieses Wort mal wieder bewahrheitet, und es freute sie. Jenna trug das Haar offen, und ihr Gesicht wirkte dadurch weicher. Es war wunderschönes blau-schwarzes Haar. Sie war ein exotisches Pendant zu Michelles blonder Schönheit, die neben Jenna aber ein wenig verblaßte. Michelle hätte es nichts ausgemacht, wenn jemand das festgestellt hätte. Sie hatte bezüglich Jenna schon andere Pläne.
Ihr Auftritt im Casino wurde durch bewundernde Blicke gewürdigt. Jenna war scheu, und sie wirkte gehemmt, aber Michelle gelang es, ihr Rückgrat zu stärken, indem sie Bemerkungen über andere Damen machte, die teilweise unmöglich gekleidet waren und sich sehr auffällig benahmen. Man merkte deutlich, daß sie bespöttelt wurden.
Sie konnten an einem Roulettetisch Platz nehmen, da der Besuch noch ziemlich dürftig war, aber bald schon strömten neue Gäste herbei.
Michelles Augen schweiften umher und ließen nichts aus. Sie hatte Carlos nie beim Roulette gesehen, aber sie konnte ihn sich vorstellen, wie verkniffen er die Kugel beobachtete. Sie sah all diese Gesichter, die in ihrem Ausdruck zu einem zusammenzuschmelzen schienen. Die Gier, die Verbissenheit und Ekstase, dann die Resignation oder gar Wut. Jenna blickte starr auf die Kugel, die so munter herumsprang und riß staunend die Augen auf, als ein Haufen Jetons zu Michelle geschoben wurde, die sich mehr auf die Menschen, als auf die Zahlen konzentriert hatte.
Glück im Spiel, Unglück in der Liebe, ging es Michelle durch den Sinn. Auf sie traf es tatsächlich zu, denn sie gewann immer wieder.
»Nimm es, Jenna, du kannst es behalten«, sagte sie gedankenlos, und nun einfach zum Du übergehend.
Darüber war Jenna so verblüfft, daß sie gar nicht begriff, was Michelle meinte.
»Du kannst die Jetons einlösen«, sagte Michelle drängend, »ich möchte jetzt zu den einarmigen Banditen gehen.« Sie wußte, daß die Automaten so genannt wurden.
»Es ist aber wahnsinnig viel Geld«, sagte Jenna leise.
»Darf ich den Damen tragen helfen?« ertönte da Micks Stimme.
»Du kommst gerade recht. Darf ich vorstellen: Mick Valerian, Jenna Roux, meine Freundin.«
Das verwirrte Jenna noch mehr. Mick ließ seinen Blick zwischen beiden hin und her wandern. »Du scheinst ja ganz schön abgesahnt zu haben, Michelle, oder war das Gemeinschaftsarbeit?«
»Jenna war mein Glücksbringer, sie soll es auch haben. Willst du spielen, oder kommst du mit zu den Automaten, Mick?«
»Willst du es nun dort versuchen?« lachte er.
»Ich will alles probieren. Es muß doch sehr amüsant sein.«
»Dir traue ich zu, daß du den Jackpot knackst. Er soll nahe der Million Francs stehen, das wären immerhin