heute besonders langsam und wählte auch noch einen Umweg.
»Einmal aber kommen wir doch zu Hause an, Waschkewitz«, erklärte plötzlich der nüchterne Stoffel. »Es ist lieb von dir, daß du uns noch spazierenfährst. Aber die Zeugnisse gehen nicht fort davon. Und wenn Frau Franzen sieht, daß wir alle beide kleben geblieben sind, dann sagt sie es sicher auch Papa.«
»Muß sie wohl!« Waschkewitz nickte. »Aber euer Papa hat euch eigentlich doch noch niemals richtig ausgeschimpft, geschweige denn, daß auf einem strammgezogenen Hosenboden…«
»Ich wollte, Frau Franzen zöge mir lieber die Hosen stramm!« Stoffel hatte sich jetzt mit aufgestützten Armen auf die Lehne des Vordersitzes gelegt. »Die Franzen, weißt du, Waschkewitz, die hat so’n ganzes System von Strafen. Die sind viel schlimmer als Schläge.«
»Na, wollen erst mal abwarten, was kommt. Und ich bin den ganzen Tag heute in der Garage, muß Papas Reisewagen in Ordnung bringen und diesen hier waschen.«
Der Mann schaute den beiden Kindern nach, die langsam Schritt für Schritt die Freitreppe zu der großen Villa hinaufstiegen.
Jedes einen Ranzen auf dem Rücken.
Und in jedem Ranzen lauerte ein schrecklicher, nicht gutzumachender Urteilsspruch.
Ja, diese Jasmine, durchfuhr es den Mann.
Und… Kinder und Narren sprechen oft die Wahrheit.
Schön ist sie auch! verteidigte der Fahrer plötzlich vor sich selbst seine Wünsche, die er mit den Kindern teilte.
Ja, die sollte er mal nehmen, unser Chef.
Weshalb nur kommt er nicht darauf?
*
Frau Franzen erregte sich nie, zum mindesten nicht äußerlich.
Sie sprach auch sehr selten ein lautes Wort. Sie war und blieb stets Dame, die einem anspruchsvollen großen Haushalt vorzustehen hatte und mit der der Hausherr stets zufrieden war.
Sie sagte auch jetzt nicht viel, als sie die Zeugnisse der Kinder in den Händen hielt.
»Also, nicht versetzt! Ich weiß nicht, ob ihr manchmal nicht daran denkt, daß ihr einem uralten Namen Ehre zu machen habt. Kinder aus dem Fürstenhaus Bassarow haben nicht sitzenzubleiben. Und ihr seid auch keinesfalls dumm. Nur« – jetzt hob die Frau ein wenig die Stimme – »nur habt ihr immer andere Dinge im Kopf als Schule und Schularbeiten.
Ich habe auch gedacht, daß ihr so verständig geworden seid, daß ihr keine Erzieherin mehr braucht. Aber nun werde ich erneut eine entsprechende Dame suchen. Und, daß ihr es wißt, ihr habt jetzt feste Arbeitsstunden einzuhalten.«
Stoffel und Vronli schluckten. Natürlich, Strafe mußte sein.
Dann aber fuhr Frau Franzen fort: »Der Hauptgrund eurer Unbeständigkeit und Nachlässigkeit bei den Schularbeiten ist sicher dieses Tier, dieser Kater Julius. Und deshalb wird er verschwinden; er stört euch nur. Zudem machen Katzen Schmutz im Haus.«
»Aber doch nicht Julius?« Vronlis Augen waren weit aufgerissen.
Die hellen Locken fielen in ihr blasses Gesichtchen.
»Gleichviel, ob er Schmutz verursacht oder nicht. Fraglos ist er ein Herumtreiber, was er schon öfter bewiesen hat. Und er lenkt euch ab. Es bleibt dabei: Julius wird fortgegeben.«
»Nein!« Nun brauste Stoffel auf. »Nein, er bleibt!« Seine stämmige kleine Gestalt baute sich breitbeinig vor Frau Franzen auf.
»Ohne Julius können wir nicht leben. Wenn Sie Julius weggeben, gehe ich auch. Und« – Stoffe glaubte sich berechtigt, auch für die kleine Schwester zu sprechen – »Vronli kommt mit.«
»Ja!« Vronli schob die zierliche Gestalt neben die kräftige des Bruders.
Frau Franzen erwiderte nicht viel.
Sie sagte nur: »Ihr wißt genau, daß das geschieht, was ich bestimme. Und ihr werdet euch damit abfinden. Zu dummen Redensarten seid ihr doch wohl schon ein bißchen alt. Das tun Kindergartenkinder, wenn sie trotzig sind.«
Das war alles.
Frau Franzen wandte sich zur Tür im Kinderzimmer, öffnete sie, schloß sie angemessen leise.
Die Kinder blieben allein zurück.
Durch den leichten Zug von der Tür her waren die Zeugnisse mit dem vernichtenden Vermerk von der Tischplatte zu Boden geflattert.
Und ehe die Kinder es verhindern konnten, hatte sich Julius, der graufellige Kater, darauf gestürzt. Einen Augenblick betrachtete er mit seinen schrägen grünen Augen die bösen Schreiben.
Dann schlug er mit den Pfoten nach ihnen und… zerfetzte eines nach dem anderen. Dann blickte er auf, als wollte er sagen: Na, gibt es einen Weg, dies Ungemach aus der Welt zu räumen? Man muß es nur richtig anfassen.
»Julius!« Stoffel kniete neben dem geliebten Tier nieder. »Du bringst uns ja noch weiter ins Unglück. Wenn das Frau Franzen sieht… na!«
Julius aber schnurrte zufrieden, putzte sich die Barthaare und blinzelte mit den grünen Augen, als wolle er sagen: Was man nicht sieht, meine Lieben, ist einfach nicht da. Ich halte auch nur etwas von Hackfleisch, das ich in einer Schüssel vor mir sehe. Und ist das Hackfleisch verschlungen und die Schüssel leer, so spricht kein Mensch und auch kein Kater mehr davon.
Also, lernt mal von mir!
Stoffel und Vroni verstanden natürlich nicht, was Julius vor sich hinschnurrte. Aber sie wußten eins: Er liebte sie genauso wie sie ihn.
Und deshalb mußte er bleiben. Sie gehörten alle drei unlöslich zusammen.
Was aber sollte man tun?
Wohin nur sollte man?
Den Kater zwischen sich, hockten die beiden Kinder am Boden, die Augen ein wenig starr auf die unseligen Schulzeugnisse gerichtet, die nun fast zerfetzt waren.
Was würde mit der morgigen Unterschrift werden?
Ach, es schien keinen Ausweg zu geben.
Da plötzlich bückte sich Julius hoch auf, kratzte einmal ganz leicht über Stoffels, dann über Vronlis Gesicht.
»Jetzt fällt der Groschen!« Stoffel sprang jäh auf, als er sich die winzige Blutspur abwischte, die sich an seiner Backe durch Julius’ Liebkosung gebildet hatte.
»Wir werden krank!«
»Wieso?« Fragend schaute Vronli auf.
»Ganz klar: Wir gehen wieder in Onkel Professors Klinik. Da kann uns keiner etwas!«
»Für immer?« Vronli war zaghaft und ungläubig.
»Erst mal vorübergehend!« verteidigte Stoffel sein Rückzugsgefecht. »Weißt du, dort ist ja Jasmine. Die hilft uns bestimmt. Und klug ist sie auch. Sie wird doch jetzt bald ein Fräulein Doktor!«
*
In der großen Villa an der Elbchaussee war es mittags still.
Das Personal arbeitete in den unteren Räumen oder legte auch eine Ruhepause ein.
Frau Franzen zog sich immer bis zur Teestunde zurück.
Vorsichtig gingen die Kinder die breiten teppichbelegten Stufen zum Treppenhaus hinunter. Noch leiser aber schlich der Kater Julius, der bei jedem Vorsetzen seiner Pfoten beinahe würdevoll mit dem Kopf nickte.
Mußte man erst den Stoffel ein bißchen kratzen, bevor er darauf verfiel, daß man manchmal vielleicht sogar mit Kranksein weiterkam, obgleich Kranksein sonst alles andere als beliebt bei den Kindern war?
Aber die Zeit in der Ringling-Klinik war wirklich ganz herrlich gewesen.
Unten in der großen Empfangshalle nahm Stoffel das Taschentuch und suchte nach der Nummer.
»Deine Finger kleben ja fest!« behauptete Vronli, die andächtig, wenn auch nicht ganz