eher unwahrscheinlich. Das Buch findet sich zumindest nicht in der noch weitgehend erhaltenen Bibliothek Königs in Schottland. Toman hat in seiner überarbeiteten deutschen Fassung Königs Arbeit jedenfalls nicht zur Kenntnis genommen, es erscheint zumindest nicht in der Bibliographie. Erstaunlich für einen Professor, der mit seinen Forschungen über den Einfluss von Familienkonstellationen als internationale Kapazität galt. Oder eben auch nicht, weil es immerhin sein könnte, etwas bewusst nicht zur Kenntnis zu nehmen, zumal von einem Außenseiter, noch dazu einem mit dem «Stigma» des Anthroposophen.
Der ebenfalls in Wien gebürtige Toman (1920 – 2003) studierte dort Psychologie und veröffentlichte, wie König auch, nicht nur Fachliches, sondern sogar Lyrik und später manch anderes Geschriebene. Obgleich die beiden durchaus Ähnliches im Sinn hatten, sind ihre Werke über Geschwister kaum miteinander zu vergleichen. Hier der universitäre, stringent wissenschaftlich forschende Blick, dort die essayistische Abhandlung in einer Mischung aus Wissenschaft, bescheidener Empirie, breit gestreuter Literatur, einfühlsam aufbereitet, aber fern von streng geformter wissenschaftlicher Begrifflichkeit.
Toman orientierte sich, wie König auch, zunächst an den von dem Freud-Schüler und dessen späterem Kontrahenten Alfred Adler beobachteten Einflüssen, denen Geschwister ausgesetzt sind. Adler mit seiner Individualpsychologie war es, der in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts mögliche Verbindungen zwischen Geburtsrangplatz und Eigenschaften des Individuums vermutete. Die Bedeutung der Geschwisterpositionen, ihrer Eltern und die Beziehungen der Eltern untereinander für die menschliche Entwicklung und das spätere Leben, wurden zu Tomans Metier. Mittels breit abgestützter, systematischer Datenerhebung und einem theoretischen Modell wollte er vor allem für beratende und therapeutische Berufe ein diagnostisches Hilfsmittel, eine Art Tabellenkompendium zur Einschätzung der sozialen Beziehungen anbieten, das auch zur Messung des therapeutischen Fortschritts dienen sollte. Das Grundkonzept besagte, dass neue außerfamiliäre soziale Beziehungen nach den Vorbildern früherer und frühester innerfamiliärer sozialer Beziehungen gemacht werden. Ausgangspunkt ist,
… dass die ersten Lebensjahre notwendigerweise die psychologisch einflussreichsten sind. Dies auch deswegen, weil die regelmäßigen und intimen Personenkontakte der Kinder sich in diesen Jahren vorwiegend auf Familienmitglieder beschränken. Die frühen Erfahrungen mit Familienmitgliedern liefern gewissermaßen die Formen, in denen spätere Erfahrungen mit denselben Familienmitgliedern gemacht werden (Toman 1965, S. 13).
Tomans Modell umfasst folgende Typen: älteste Brüder von Brüdern, jüngste Brüder von Brüdern, älteste Brüder von Schwestern, jüngste Brüder von Schwestern, männliche Einzelkinder, älteste Schwestern von Schwestern, jüngste Schwestern von Schwestern, älteste Schwestern von Brüdern, jüngste Schwestern von Brüdern, weibliche Einzelkinder, gemischte und mittlere Geschwisterpositionen. In dieser Richtung wollte ja auch König weiterarbeiten.
Ein Ergebnis am Rande war, dass, je geringer der Altersunterschied zwischen den Geschwistern ist, desto größer und ernster sind ihre Konflikte miteinander, aber zugleich ist dabei die Neigung umso größer, einander auch im späteren Leben nicht zu verlassen (ebd., S. 14). Erwähnenswert sind auch seine Befunde zum Einzelkind, die Königs Darstellung ergänzen und erweitern.
Das Einzelkind lebt sozusagen nur von seinen Eltern […] Es lernt nicht, was die Kinder größerer Familien von ihren Eltern lernen können: die Behandlung anderer Kinder. Daher suchen Einzelkinder auch in möglichen Liebes- und Ehepartnern eher einen Vater oder eine Mutter als ein ‹Geschwister›, und öfter als andere bleiben sie kinderlos. Sie selbst wollen die Kinder sein. Unter gewissen Bedingungen neigen sie allerdings auch dazu, aus dieser Tendenz herauszubrechen und doch eigene Kinder zu haben, mitunter sogar ehrgeizig viele (ebd., S. 8).
Das triviale Hauptmerkmal des Einzelkindes sei seine Einmaligkeit in der Familie. Die Folge, insbesondere für das männliche Einzelkind, sei die Gewöhnung daran, der Liebling von zwei Erwachsenen, der Eltern, zu sein, ihr Stolz und ihre Freude, der mit ihrer sofortigen Hilfe rechnen kann. Später, so Toman sinngemäß, gehe ein solcher Mensch auch im Beruf davon aus, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen und die Arbeitssituation in erster Linie zu seiner Talententfaltung zu deuten. Dennoch scheue er sich nicht, seine Fehler und Nachteile zu enthüllen. Schließlich: Wenn seine Talente ihn zum Star machen, diktiere er, mitunter hochmütig, seine Bedingungen. Auf Beziehungen zu Frauen sowie Männerfreundschaften sei er schlecht vorbereitet (ebd., S. 112).
In den neueren Veröffentlichungen zur Geschwisterforschung sucht man meist vergeblich nach den beiden Wienern, obgleich sich ihre Untersuchungen immer noch, länger als viele andere einschlägige Schriften, auf dem Buchmarkt und in der Lesergunst behaupten.
V.
Seit Königs Arbeiten zu Brüder und Schwestern sind über fünfzig Jahre vergangen. Versucht man heute das Stichwort Geschwisterbeziehung zu «googeln», so ergibt das an die zigtausend Treffer. Ob das Interesse an dieser Thematik mit der sinkenden Geburtenquote in Deutschland und in den reicheren Industrienationen mit dem Trend zum einzigen Kind zu tun hat, bleibt dahingestellt. Die Fragestellungen sind jedenfalls eng verbunden mit der psychologischen und soziologischen Familien- und Lebensweltforschung. In der Praxis spielen sie in der Pädagogik, der Erwachsenenbildung, der Psychotherapie und in der Biographiearbeit eine nicht ganz unbedeutende Rolle.
Jeder weiß, dass sich in den letzten Jahrzehnten die Verhältnisse für Kinder und Familien grundlegend geändert haben. Die Kinder werden immer weniger, werden dafür aber mit immer mehr verschiedenen Erwachsenen und professionellen Organisationen – Tagespflegestellen, Kinderkrippen, Kindergärten, Horten, Schulen – konfrontiert. Die Verhältnisse sind komplexer und komplizierter geworden: Kindheit wird nicht nur unter dem Aspekt der Geschwisterposition betrachtet, sondern im Zusammenhang mit lebensweltlichen Gesichtspunkten, sozialen, ökologischen, materiellen und individuellen Ressourcen. Königs Forschungsinteresse lag, wie weiter oben schon angedeutet, im sozialen Verhalten innerhalb der Geschwisterreihe und vor allem in der damit verbundenen «Kontaktfähigkeit». Die moderne Entwicklungspsychologie hat sich mittlerweile fast zwangsläufig auf ganz verschiedene Fragestellungen und Themen ausgeweitet. Ein Blick in Hartmut Kastens Geschwister – Vorbilder, Rivalen, Vertraute gibt den Stand der neueren Diskussion wieder. Erwähnenswert ist, dass es Abschied zu nehmen gilt von dem, was uns frühere Forschungen an Befunden über Einzelkinder hinterlassen haben:
Einzelkinder unterscheiden sich gar nicht oder nur noch sehr unwesentlich von Nichteinzelkindern, wenn sie nicht in gestörten familiären Verhältnissen mit Eltern, die beide berufstätig sind, sondern in materiell und ökonomisch gesicherten, harmonischen Verhältnissen aufwachsen (Kasten 2003, S. 45).
Alle Autoren – einschließlich König und Toman – weisen auf die relative Gültigkeit ihrer Ergebnisse hin. Nicht jedes Detail oder konkrete Beispiel gilt für den Einzelfall. Das haben wissenschaftliche Untersuchungen an sich: Es sind Abstraktionen, Verallgemeinerungen der Wirklichkeit, die zwar eine empirische Basis haben, aber zunächst nichts Verbindliches und Definitives über den Einzelfall, den einzelnen Menschen aussagen. Theorien können allerdings helfen, individuelle menschliche Situationen und menschliches Verhalten besser zu verstehen. Denn wer würde behaupten, dass es keinen Unterschied mache, ob man als erstes, zweites oder drittes Kind zur Welt kommt? Keine Schrift, kein Okular eignet sich dazu aus meiner Sicht immer noch besser als Brüder und Schwestern.
VI.
Jenseits der Fachliteratur gibt es wunderbare Beschreibungen von ganz unterschiedlichen Geschwisterbeziehungen. Das Schöne daran ist, dass sie das, was die Wissenschaft relativ trocken beschreibt, viel lebendiger und eindringlicher vor Augen führen, es bestätigen, aber auch widerlegen. Ach, was gibt es da, neben eigenen und fremden ungeschriebenen Geschichten nicht alles zu entdecken über Brüder und Schwestern! Beispielsweise Adalbert Stifters Bergkristall und Der Hochwald, Erzählungen, die König ohnehin in seine umfassenden Vorbereitungen einbezog. Stifters Zwei Schwestern ist relativ unbekannt geblieben, jene geheimnisvolle Geschichte, die sich in den Höhen über dem Gardasee abspielt. Oder Unsre Lieb aber ist außerkohren. Die Geschichte der Geschwister Clemens und Bettine Brentano von Hartwig Schultz, eindringlich auch