Karl König

Brüder und Schwestern


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– dennoch wirksam sind. Langsam beginnt sich der Schleier, der diese geheimnisvollen Zusammenhänge verdeckt, zu heben.

      Vor Kurzem erschien eine Untersuchung, die von der «Workers Educational Association» in London an 7000 Schulkindern durchgeführt wurde. Dabei konnten sehr interessante Tatsachen aufgedeckt werden. Die Verfasserin, die diese Beobachtungen anstellte, schreibt zum Beispiel: «Wir fanden, dass das Ältere von zwei Kindern sowohl als das Ältere von drei und mehr Geschwistern erfolgreicher im Erwerb von Mittelschulplätzen waren, als das Jüngere von zwei und das Jüngste von drei und mehr Kindern.» Und weiter:

      «Erstgeborene verbleiben im Großen und Ganzen viel länger in der Schule nach dem Schulentlassungs-Alter als das bei Letztgeborenen der Fall ist. In Mittelschulen stieg das Verhältnis von älteren und ältesten Geschwistern von 34 Prozent für die unter fünfzehn Jahre alten Schüler auf 43 Prozent für die, die sechzehn Jahre und darüber waren, an. Dagegen sank das Verhältnis der Jüngeren und Jüngsten in den gleichen Altersgruppen von 29 auf 20 Prozent.»

      An diesen Beispielen zeigt sich zwischen älteren und jüngeren Geschwistern ein deutlicher Unterschied, den man leicht damit erklären könnte, dass die zuerst Geborenen eben klüger sind als die späteren Kinder. Das ist aber nicht der Fall, denn Mary Stewart weist ganz eindeutig darauf hin, «dass sehr eingehende Untersuchungen bei Kindern und Erwachsenen ergeben haben, wie wenig Unterschiede im Intelligenzquotienten zwischen erst- und später geborenen Kindern nachzuweisen sind».1 Und sie fügt dann zwei Beobachtungen hinzu, die von größter Wichtigkeit sind; sie sagt: «In den Staatsschulen scheint es so zu sein, dass spät geborene Kinder weniger Vorteile aus ihren Möglichkeiten und Gegebenheiten ziehen als Erstgeborene.» Und fügt hinzu: «Letztgeborene Kinder sind nicht kraft ihrer Stellung innerhalb der Geburtenfolge weniger intelligent als Erstgeborene. Sie haben aber weniger Selbstvertrauen und Antrieb, um das Beste aus ihren Fähigkeiten herauszuholen.»

      In dieser Beschreibung zeigt sich deutlich, dass nicht die Intelligenz, sondern das Verhalten eine ausschlaggebende Rolle zwischen Erst- und Spätgeborenen spielt. Wenn man dazu noch erfährt, dass «Mitgliedschaft in uniformierten Organisationen (Pfadfinder, Kadetten usw.) viel größer bei älteren und ältesten Geschwistern als den später geborenen ist» und dass «die ältesten von zwei Geschwistern weniger oft ins Kino gehen als die jüngsten von drei und mehr Geschwistern», dann beginnen sich Unterschiede zu enthüllen, die bisher noch nicht beachtet worden waren. Die Erstgeborenen sind zielstrebiger, eindeutiger und ausgerichteter in ihrem Verhalten als die späteren Geschwister; die Letzteren nehmen das Leben leichter, während die Ersteren den Erfolg und die Bewährung suchen.

      Eine amerikanische Psychologin, Margret Lautis, hat die Geburtenfolge in Familien untersucht, deren Väter oder Mütter erfolgreich das Harvard-College absolviert hatten. Sie fand unter den Kindern dieser amerikanischen Oberschicht einen sehr deutlichen Unterschied zwischen Erst- und Zweitgeborenen, den sie in der folgenden Art beschreibt:

      Das älteste Kind ist auf die Erwachsenen hinorientiert. Es ist ernster, empfindlicher (d.h. es ist leichter verletzlich und muss kaum bestraft werden). Es ist gewissenhaft und brav. Es liest gerne und liebt es, Dinge zusammen mit Erwachsenen zu tun. Es ist entweder ein Mutterkind und scheu, ja oft auch furchtsam; oder es ist voll Selbstvertrauen, unabhängig und in sich ruhend […] Im ersten Fall braucht das Kind die Nähe des Erwachsenen und wird von ihm geleitet und geführt. Im anderen Fall imitiert das Kind die Großen und wird zu ihrem Abbild.

      Das zweite Kind hingegen ist nicht so bemüht um die Anerkennung der Erwachsenen. In dieser Hinsicht ist es kräftiger als die Erstgeborenen. Entweder ist es gelassen, bequem, freundlich, fröhlich und leicht lenkbar – trotzdem es keine besonderen Anstrengungen macht, den anderen zu gefallen. Andererseits kann es aber auch trotzig, rebellisch und unabhängig sein, fähig, eine große Zahl von Strafen zu ertragen und zu akzeptieren. Was diese beiden Typen Zweitgeborener gemeinsam haben, ist ihre relative Unberührtheit von aller Art von Strafen und ihre relative Unabhängigkeit von der Welt der Erwachsenen.2

      Diese Beschreibung des Unterschiedes zwischen Erst- und Zweitgeborenen wirft ein deutliches Licht auf die Art ihres Verhaltens. Nicht die Intelligenz, nicht die geistigen Fähigkeiten oder der Umfang und die Vielfalt der Gefühle sind verschieden, sondern die Beziehung zur Umwelt der Großen wird hier primär hervorgehoben und charakterisiert. Im sozialen Kontakt zeigen sich die Differenzen, die dann sekundär auf den Charakter in seiner Ausbildung und Entfaltung einwirken.

      Allerdings sind die Verhaltensweisen nicht immer so eindeutig und einfach, wie sie hier beschrieben werden; denn die Geschwisterreihe als Ganzes muss immer mit in Betracht gezogen werden, und erst wenn das geschieht, enthüllen sich die markanten, aber vielfältigen Züge der Erst-, Zweit- und Drittgeborenen. Brüder und Schwestern ergänzen einander und bilden zusammen eine höhere Einheit. Erst das Gesamt einer Familie ergibt eine Ganzheit, in welcher der Einzelne die ihm zustehende Aufgabe zu erfüllen hat. Grundlegend aber ist der Unterschied zwischen denen, die an erster, zweiter oder dritter Stelle der Geburtenreihe stehen. Dort entfalten sich die Hauptthemen, die das soziale Verhalten bestimmen. Der Viert-, Fünft- und Sechstgeborene wiederholt die drei ersten Geschwister, und die folgenden Kinder sind thematische Variationen der drei Grundmelodien.

      Fällt ein Kind durch Tod oder schwere und chronische Erkrankung aus, dann rückt die gesamte Geschwisterreihe nach und die Änderung der Plätze führt meistens zu erhöhten seelischen Spannungen in den einzelnen Persönlichkeiten. Stirbt zum Beispiel der älteste Bruder, dann tritt der Zweitgeborene an seine Stelle und kommt nun in schwere innere Konflikte, weil er seelisch etwas in seinem sozialen Verhalten umstellen muss, was bisher seiner innersten Anlage entsprochen hat.

      Der ermordete amerikanische Präsident Kennedy war ein zweites Kind. Sein hochbegabter älterer Bruder, der sich darauf vorbereitete, Präsident zu werden, kam im Krieg bei einem Fliegereinsatz um. Der zweite Bruder musste nachrücken; er war eigentlich ein Künstler; ein mutiger, frischer, unabhängiger Mensch, der nun die Schuhe der Erstgeburt anziehen musste. Er tat dies mit völliger Hingabe und erreichte das Ziel, das seinem älteren Bruder versagt war. Eine ähnliche Schicksalsfigur waltete beim vierten und fünften Kind der gleichen Familie. Denn die Schwester Kathleen kam – als verwitwete Herzogin von Devonshire – bei einem Flugzeugunglück um. Nun musste die fünfte, Eunice, an ihre Stelle treten. Sie ist die Frau von Sargent Shriver, dem gegenwärtigen Leiter des amerikanischen Friedens-Korps. Sie aber organisiert die ausgedehnte Hilfe, die heute in USA zurückgebliebenen Kindern und Erwachsenen gegeben wird.

      Überhaupt sind die Schicksale der neun Kennedy-Geschwister ein erstaunliches und sprechendes Beispiel für die in den folgenden Aufsätzen beschriebenen Regeln der Geschwisterreihe.

      Beginnt man dafür einen Blick zu entwickeln, dann eröffnen sich ganz neue Seiten für das Verständnis menschlichen Verhaltens. Was hier dargestellt wird, ist ein Anfang und kann deshalb keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit machen. Allerdings wird eine Tür geöffnet, deren Vorhandensein bisher noch kaum bemerkt wurde. Nimmt man sie wahr und versucht man ihren Schlüssel zu erwerben, um sie aufzuschließen, dann führt sie in die drei Säle des ersten, zweiten und dritten Kindes. In diesen drei Räumen findet man die vielgestaltigen Zeichen und Embleme, die den Kindern mit in ihre Wiegen gelegt werden.

      Ein Erstgeborener verhält sich anders als ein Zweiter oder gar ein Dritter. Denn der Erste ist durch seine Erstgeburt ein traditionsgebundener Mensch; ob er es will oder nicht – ob es seinem Temperament und seiner Lebensart entspricht oder nicht –, er ist vom Schicksal dazu gezwungen und geführt, ein Wahrer und Bewahrer, ein Mehrer und Behüter zu sein.

      Der Zweite aber ist ein In-sich-Ruhender; ein Freier, Ungebundener und Streifender. Die ganze Erde ist sein Eigen; nicht zum Besitz, sondern zur Freude. Nicht zum Ziel, sondern zur seligen Lust.

      Der Dritte ist der Seltsame und Fremde. Der Zweite kehrt gerne nach Hause zurück; nicht so der Dritte. Er bleibt ein Eigener, In-sich-Abgeschlossener, nach kaum erreichbaren Zielen Strebender. Die Großen unter ihnen werden Feldherren und Päpste. Johannes XXIII. zum Beispiel war ein neuntes und daher drittes Kind; Feldmarschall Montgomery, der politisierende und eigenwillige Sieger von El Alamein, ist ein Drittgeborener.

      Solche Zusammenhänge zu erkennen, wird in den kommenden Jahrzehnten