Adrian Winter fast nichts verstand. Es mußte sich um eine Art Geheimsprache handeln, in der deutsche und spanische Wörter, Zeichen- und Körpersprache sowie Grimassen eine Rolle spielten.
Der junge Arzt gab es schnell auf, etwas verstehen zu wollen. Aber nun beugte sich auch Alexanders Mutter über Pablo, und die Art, wie sie ihm sanft über das Gesicht strich und seinen Namen sagte, während ihr die Tränen in den Augen standen, sagte mehr als tausend Worte über die Gefühle, die sie ihrem kleinen Gast aus Argentinien entgegenbrachte.
Dann richtete sie sich auf und überließ die beiden Jungen ihrem aufgeregten Gespräch. Sie hatte zwar unendlich viele Fragen zu dem, was eigentlich geschehen war, aber sie konnte warten.
»Frau Baumann?« fragte Adrian.
Sie zuckte zusammen. Es war offensichtlich, daß sie, genau wie ihr Sohn, den Arzt bisher gar nicht wahrgenommen hatte.
»Ich bin Dr. Winter, ich habe den Unfall zufällig mit angesehen und veranlaßt, daß Pablo und die anderen Beteiligten in die Kurfürsten-Klinik eingeliefert wurden.«
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte sie leise. »Sie müssen mich für sehr unhöflich halten, daß ich Sie noch nicht einmal begrüßt habe. Aber Sie können sich nicht vorstellen, was für ein grauenhafter Tag hinter uns liegt. Wir haben uns die schrecklichsten Dinge ausgemalt, die Pablo hätten passiert sein können.«
»Ich denke doch, daß ich mir das vorstellen kann«, meinte Adrian nachdenklich. »Es tut mir auch sehr leid, daß es so lange gedauert hat, bis Sie benachrichtigt wurden. Aber der kleine Kerl wollte zuerst überhaupt nicht mit der Sprache herausrücken – seinen Namen nicht sagen und auch nicht Ihren.«
»Er spricht ja auch kaum Deutsch«, sagte sie leise.
»Oh, wir haben alle möglichen Sprachen durchprobiert«, gestand Adrian lächelnd. »Es war kein Sprachproblem, sondern er hatte Angst, daß Sie ihn früher nach Hause schicken, weil er Ihnen nicht gehorcht hat und heimlich Alexanders Fahrrad genommen hat.«
Ihre Augen wurden groß. »Das hat er gesagt?« flüsterte sie. »Daß er Angst hat, ich schicke ihn gleich nach Hause?«
Adrian nickte. Und dann erzählte er ihr alles, was er von Pablos überstürzter Rede verstanden hatte.
Wieder füllten sich Lisa Baumanns Augen mit Tränen. »Das arme Kerlchen«, sagte sie. »Wie kommt er nur auf eine so dumme Idee? Ich wollte schon mit ihm schimpfen, daß er heimlich ausgerissen ist, ohne uns Bescheid zu sagen – aber deshalb schicke ich ihn doch nicht vorzeitig zurück. Wir sind so froh, ihn hier zu haben, Herr Doktor! Es tut Alexander gut, einen Bruder zu haben. Die beiden haben sich vom ersten Augenblick an großartig verstanden.«
»Das sieht man«, erwiderte Adrian lächelnd.
Sie folgte seinem Blick und lächelte ebenfalls. Tatsächlich, die beiden Jungen tuschelten noch immer aufgeregt miteinander. Als sie merkten, daß die Erwachsenen sie ansahen, unterbrachen sie ihr Gespräch, und Alexander sagte: »Pablo hat Angst, daß wir ihn jetzt zurückschicken, Mami, aber ich hab’ ihm gesagt, daß das Quatsch ist. Das stimmt doch, oder? Daß es Quatsch ist, meine ich.«
Lisa nickte. Reden konnte sie nicht, sie traute ihrer Stimme nicht.
Triumphierend wandte sich Alexander an Pablo. »Siehst du!« rief er. »Alles Quatsch! Natürlich bleibst du hier!«
Es dauerte noch eine Weile, bis Pablo davon überzeugt war, daß sein Aufenthalt in Deutschland nicht vorzeitig beendet sein würde. Und dann sagte er: »Quatsch!« Aus seinem Mund klang das Wort so komisch, daß die anderen in amüsiertes Gelächter ausbrachen.
Adrian verabschiedete sich an dieser Stelle. Nein, um diese drei, so glaubte er, mußte man sich keine Sorgen mehr machen. Eilig machte er sich auf den Weg zurück in die Notaufnahme, um sich von seinen Kolleginnen und Kollegen dort zu verabschieden. Es gab für ihn nur wirklich keinen Grund mehr, noch länger in der Klinik zu bleiben.
Der Tag war ohnehin bald vorbei, wenn er jetzt nach Hause fuhr, dann konnte er sich einbilden, einen ganz normalen Arbeitstag hinter sich gebracht zu haben – wenn man mal von dem kurzen Ausflug ins King’s Palace absah.
Diese Erinnerung brachte ihn auf eine Idee. Er konnte natürlich noch einmal kurz nach Stefanie Wagner sehen und sich davon überzeugen, daß sie sich von ihrem Schreck wirklich gut erholte. Sie lag jetzt auf der Inneren, wie er erfahren hatte. Dort kam er auf seinem Weg zurück in die Notaufnahme ohnehin vorbei – jedenfalls beinahe.
Leise und falsch vor sich hin pfeifend machte er sich auf den Weg. Gedanken über seine Motive für den geplanten Besuch verdrängte er. Was lag näher, als daß ein Arzt nach einer Patientin sah, für deren Einlieferung er am Morgen selbst gesorgt hatte?
Die Tür zu Stefanie Wagners Zimmer stand offen, und er wollte soeben schwungvoll eintreten, als er bemerkte, daß sie nicht allein war. Ein braunhaariger, überaus elegant gekleideter Mann stand an ihrem Bett und beugte sich gerade über sie, um sie zu küssen. Er hörte ihn zärtlich flüstern: »Bis bald, Steffi. Ich denke Tag und Nacht an dich.«
Was die Patientin antwortete, hörte Adrian nicht mehr. Er hatte auf dem Absatz kehrtgemacht und lief nun überaus eilig zur Notaufnahme. Da hätte er sich ja um ein Haar lächerlich gemacht! Natürlich hatte sie einen Freund oder Mann – auch wenn sie nicht gewollt hatte, daß man ihn benachrichtigte. Es war ja offenbar auch nicht nötig gewesen, denn er hatte trotzdem von dem Unfall erfahren.
Was hatte er sich denn nur eingebildet? Daß eine so schöne Frau mit diesen wunderbaren Veilchenaugen allein durch die Welt ging und nur auf ihn gewartet hatte?
Adrian Winter, sagte er sich, du bist ein Idiot. Ein hirnverbrannter Idiot, und es geschieht dir ganz recht, daß du jetzt kopflos durch die Gegend läufst.
Dieser Gedanke beruhigte ihn seltsamerweise ein wenig – und als er die Notaufnahme betrat, hatte er sich wieder einigermaßen unter Kontrolle.
*
»Ganz bestimmt?« fragte Pablo. »Ich darf ganz bestimmt hierbleiben?«
»Ganz bestimmt!« versicherte Lisa. »Wie bist du denn überhaupt auf die Idee gekommen, daß ich dich zurückschicken könnte?«
Pablo holte tief Luft, und dann versuchte er, es ihr zu erklären. Er erzählte ungefähr noch einmal das, was er zuvor schon den beiden Ärzten erzählt hatte, und Lisa erging es nicht anders als Julia Martensen zuvor: Tränen traten ihr in die Augen, als sie endlich begriff, was es für diesen Jungen bedeutete, ein paar Wochen bei Alexander und ihr zu verbringen, und welche Angst er ausgestanden hatte bei dem Gedanken, durch seine eigene Schuld alles verspielt zu haben.
»Natürlich war es nicht richtig, was du getan hast«, sagte sie ernst, und Pablo nickte schuldbewußt. »Aber das weißt du ja selbst am besten, nicht?«
Wieder nickte der Junge.
»Willst du mir denn versprechen, so etwas nicht noch einmal zu tun?« fragte Lisa, und Pablo nickte zum dritten Mal.
»Ich will dir doch den Spaß am Fahrradfahren nicht verderben, Pablo«, erklärte sie. »Aber ich weiß, wie gefährlich das ist, und deshalb habe ich das Verbot ausgesprochen.«
»Ich weiß«, sagte Pablo kläglich. »Das habe ich jetzt verstanden, wirklich. Es war ganz schrecklich auf der Straße mit den vielen Autos. Die waren viel schneller, als ich gedacht habe, und sie sind immer ganz nahe an mir vorbeigekommen.«
Sie wollte ihn nicht von neuem aufregen und lächelte ihn beruhigend an. »Gut, dann wäre das ja geklärt. Und jetzt lasse ich euch allein, ich möchte noch einmal mit Dr. Winter sprechen.«
Sie hatte das Zimmer noch nicht verlassen, als Pablo und Alexander bereits wieder in eines ihrer unverständlichen Gespräche vertieft waren.
*
»Ich habe Schmerzen, verdammt noch mal!« brüllte Paul Lüttringhaus, und die junge Lernschwester erstarrte vor Angst, als er sie jetzt auch noch wütend mit seinen dunklen Augen anfunkelte. »Was stehen Sie so dumm in der Gegend herum?« rief er gereizt.