zu fliehen. Dazu kam sie jedoch nicht, denn in diesem Augenblick betrat Schwester Inge, eine sehr robuste Person von fast sechzig Jahren, das Zimmer. Mißbilligend sah sie den Patienten an.
»Können Sie nicht endlich aufhören mit Ihrem Geschrei, Herr Lüttringhaus?« fragte sie ungehalten. »Man hört Sie ja über den ganzen Flur, und Sie stören unsere anderen Patienten.« Schwester Inge hatte eine überraschend schöne, weiche Stimme, die einen merkwürdigen Gegensatz zu ihren harschen Worten bildete. Aber Paul Lüttringhaus hatte im Augenblick für solche Feinheiten keinen Sinn.
»Ach, wirklich?« fragte er wütend. »Und wen kümmert das? Glauben Sie etwa, mich? Mich hat heute morgen so ein acht- bis zehnjähriges Würstchen zum Krüppel gefahren, und Sie erwarten, daß ich hier sanft wie ein Lamm liege und mein Schicksal ergeben annehme?« Er streckte seine Hand aus und zeigte mit dem Zeigefinger so heftig auf sie, daß sie unwillkürlich zurückwich, als könne er sie aufspießen. »Da haben Sie sich aber schwer getäuscht, Schwester! Sehr schwer! Ich tobe hier so lange herum, bis sich ein Arzt findet, der mir versichert, daß er mich so wieder hinkriegt, wie ich vorher war. Aber bisher habe ich von allen Seiten nur Ausflüchte gehört.«
»Weil es noch viel zu früh ist, um etwas Endgültiges zu sagen«, stellte Schwester Inge fest. »Und wenn Sie Ihren Kopf mal zum Denken benutzen würden, anstatt damit immer nur neue Schimpfkanonaden zu produzieren, dann müßte Ihnen das eigentlich einleuchten.« O ja, sie konnte schon austeilen, die Schwester Inge, wenn sie fand, daß es nötig war.
Der Patient jedenfalls war für einen kurzen Moment sprachlos, aber dann hatte er sich wieder gefaßt. »Ich bin kein Arzt«, sagte er unwirsch, »und deshalb muß ich nicht wissen, wann man eine endgültige Aussage machen kann. Außerdem will ich die Eltern von diesem Früchtchen sprechen, das den Unfall verursacht hat. Und denen können Sie gleich sagen, daß sie sich auf etwas gefaßt machen sollen! Deren Versicherung wird zahlen, bis ich alt und grau bin, sagen Sie ihnen das!«
»Sagen Sie ihnen das selbst!« fauchte Schwester Inge kurz angebunden. Dann nahm sie die noch blasser und nervöser wirkende Lernschwester am Arm und zog sie aus dem Zimmer. »Kommen Sie«, sagte sie, »hier können wir im Augenblick doch nichts tun! Wenn Herr Lüttringhaus weitertoben will, kann er das alleine tun.«
Die Tür fiel hinter den beiden ins Schloß, und Paul Lüttringhaus starrte ihnen verblüfft hinterher. Er verstand die Welt nicht mehr. War denn nicht er das Opfer und verdiente Mitleid? Statt dessen wurde er behandelt, als habe er etwas verbrochen. »Verkehrte Welt«, murmelte er vor sich hin. Und dann schrie er erneut nach der Schwester. Sie sollten bloß nicht glauben, daß sie ihn hier so einfach mundtot machen konnten! Er war ganz bestimmt keiner, der sich alles gefallen ließ.
Er gestand sich nicht ein, daß ihm das Schreien gegen die Verzweiflung half, die ihn zu überwältigen drohte. Denn es war leider eine Tatsache. Ein Sportlehrer, der nicht mehr richtig laufen konnte, war keiner. Und bisher war noch völlig ungewiß, welche dauerhaften Schäden er von diesem Unfall davongetragen hatte.
*
»Herr Dr. Winter!«
Adrian sah sich um und entdeckte zu seinem Erstaunen Lisa Baumann, die im Eiltempe auf ihn zulief.
»Ach, wie gut, daß ich Sie noch erwische!« rief sie völlig außer Atem, als sie ihn erreicht hatte.
»Da haben Sie wirklich Glück«, sagte er, »ich bin endlich auf dem Weg nach Hause.« Er lächelte und setzte hinzu: »Dies ist nämlich eigentlich mein erster Urlaubstag.«
»Oh, das wußte ich nicht«, sagte sie verlegen. »Und jetzt komme ich auch noch und halte Sie schon wieder auf. Es ist nur so…« Sie unterbrach sich und fragte dann: »Wann könnte ich denn mit Ihnen noch einmal über den Unfall reden? Sie waren schließlich dabei, und vorhin ging alles so schnell. Ich habe auch nicht alles mitbekommen, was Sie mir erzählt haben, weil ich so froh war, Pablo zu sehen.«
»Kommen Sie«, sagte Adrian freundlich, »aus diesem Urlaubstag wird sowieso nichts Rechtes mehr. Wir beide trinken einen Kaffee zusammen, und Sie fragen mich aus. Was halten Sie davon?«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, nehme ich das Angebot gerne an«, erwiderte sie schüchtern.
Einige Minuten später saßen sie in dem kleinen Café der Klinik, und Lisa stellte die Frage, die ihr am meisten auf der Seele brannte: »Ist jemand anderes bei dem Unfall verletzt worden?«
»Ja, leider«, antwortete Adrian und berichtete ihr von Paul Lüttringhaus, seinem übel zugerichteten Bein und von dem Schock, den Stefanie Wagner erlitten hatte. »Sie müssen sich vorstellen, daß die beiden in letzter Sekunde verhindern konnten, den Jungen einfach zu überfahren. Frau Wagner konnte bremsen, aber Herr Lüttringhaus mußte ausweichen – und dabei ist er erheblich verletzt worden.«
»Wie schrecklich!« sagte Lisa. Sie war wieder ganz blaß geworden. »Und das ist alles meine Schuld. Ich hätte besser auf ihn aufpassen müssen.«
»Frau Baumann«, erwiderte Adrian, »Jungen in dem Alter kann man nicht rund um die Uhr beaufsichtigen. Mit Selbstvorwürfen machen Sie die Sache nicht ungeschehen, und Sie helfen auch niemandem damit. Aber wenn ein wenig Zeit vergangen ist, dann müssen Sie Pablo unbedingt fragen, wieso er einfach weitergefahren ist, als die Ampel Rot zeigte. Das darf er in Zukunft nie wieder machen.«
Sie nickte, aber in Gedanken war sie nicht bei der Sache, das sah er.
»Und Sie müssen natürlich mit Frau Wagner und Herrn Lüttringhaus reden. Da wird es sicherlich auch versicherungstechnische Fragen zu lösen geben.«
Sie sah ihn so erschrocken an, daß er sich wünschte, diesen Satz nicht gesagt zu haben. Diese Probleme würden noch früh genug auf sie zukommen – warum mußte er sie schon jetzt darauf aufmerksam machen?
»Könnte ich nicht gleich mit den beiden sprechen?« fragte sie nun zu seiner Überraschung. Immerhin hielt sie offenbar nichts davon, Unangenehmes auf die lange Bank zu schieben. Das imponierte ihm.
»Mit Frau Wagner können Sie sicher sprechen«, antwortete er. »Bei Herrn Lüttringhaus würde ich Ihnen raten, noch ein wenig zu warten.« Er sah ihr fragendes Gesicht und suchte nach den richtigen Worten. »Er hat, um es vorsichtig zu sagen, ein ziemlich explosives Temperament, und es ist sicher ratsam, ihm noch ein bißchen Zeit zu lassen, damit er sich beruhigen kann.«
Sie schüttelte den Kopf. »Trotzdem!« sagte sie unerwartet energisch. »Ich muß das hinter mich bringen. Wo finde ich Herrn Lüttringhaus?«
Er wollte ihr gerade antworten, als eine junge Lernschwester auf ihn zueilte. »Herr Dr. Winter, ob Sie wohl noch einmal zu Herrn Lüttringhaus kommen könnten? Er läßt sich einfach nicht beruhigen und will unbedingt mit dem Arzt reden, der ihn operiert hat.«
»In fünf Minuten bin ich da«, sagte Adrian, und die Lernschwester lief erleichtert davon. »Sehen Sie«, meinte er zu Lisa Baumann, »nun können Sie mich zu Herrn Lüttringhaus begleiten. Wenn Sie nicht doch auf mich hören wollen und lieber noch ein Weilchen warten.«
»Nein, ich komme mit Ihnen«, sagte Lisa entschlossen.
»Aber nicht, daß Sie später sagen, ich hätte Sie nicht gewarnt«, meinte er.
*
Paul Lüttringhaus war schon auf dem Flur zu hören. Die Ankunft Dr. Winters wurde allgemein erleichtert zur Kenntnis genommen, erhoffte man sich von seinem Auftauchen doch eine Beruhigung des Patienten, der mittlerweile die Nerven aller Beteiligten heftig strapazierte. Dabei war er noch nicht einmal einen Tag da!
Adrian warf seiner Begleiterin einen forschenden Blick zu, aber sie zögerte auch jetzt nicht. Nur ihre Lippen preßte sie fest zusammen, doch das war das einzige Zeichen von Nervosität, das er an ihr entdecken konnte.
Als sie das Zimmer des Patienten betraten, hielt dieser kurz inne, um zu sehen, wer diesmal zu ihm kam.
»Was ist los, Herr Lüttringhaus?« fragte Adrian.
»Wer sind Sie denn?« fragte der Patient mürrisch. Adrian trug keinen weißen Kittel mehr, da er bereits auf dem Weg nach Hause gewesen