Karina Kaiser

Sophienlust - Die nächste Generation Staffel 1 – Familienroman


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hat er meine Jacke gestohlen, die an der Tür zur Sattelkammer hing, sie in seine Box getragen und dort unter dem Stroh vergraben. Nachdem er eine Nacht darauf geschlafen hatte, war die Jacke natürlich nicht mehr zu gebrauchen. Aber böse bin ich Romeo eigentlich nie gewesen.«

      »Das muss ein lustiges Pferd gewesen sein«, meinte Romina. »Romeo ist auch ein sehr schöner Name für ein Pferd. Lebt Romeo heute noch?«

      »Nein, dann wäre er fast vierzig Jahre alt. Als ich ihn bekommen habe, war er kein ganz junges Pferd mehr. Aber mein Romeo ist mit seinen sechsundzwanzig Jahren ziemlich alt geworden. Natürlich war ich traurig, als er starb. Aber er hat ein wundervolles und langes Leben gehabt. Dieser Gedanke hat mich immer getröstet.«

      »Es ist immer gut, wenn man einen Trost hat«, stellte Romina nachdenklich fest. »Meine Eltern sind neulich bei einem Feuer gestorben. Das ist sehr schlimm. Aber es tröstet mich, dass ich mit ihnen reden und ihnen jeden Tag alles erzählen kann. Wenn man so einen Trost hat, ist man nicht mehr ganz so schrecklich traurig. Jeden Tag, wenn es dunkel wird, schaue ich mir diesen schönen hellen Stern an, auf dem meine Eltern jetzt wohnen, und dann rede ich mit ihnen.« Sie sah zum Himmel hinauf. »Wenn Wolken da sind, kann ich den Stern natürlich nicht sehen und tagsüber auch nicht. Aber ich weiß genau, wo er ist, und kann meinen Eltern alles erzählen.«

      Linda spürte, wie ihr die Tränen in die Augen traten.

      Bei alldem Schmerz, den dieses kleine Mädchen erleben musste, hatte es einen Weg gefunden, sich selbst Trost zu spenden. Diese innere Kraft des Kindes beeindruckte sie sehr.

      »Sind Sie jetzt traurig?«, wollte Romina wissen, die den verdächtig feuchten Schimmer in Lindas Augen bemerkt hatte. »Habe ich vielleicht etwas Falsches gesagt? Das tut mir leid. Das wollte ich nicht.«

      Linda legte ihre Hände auf Rominas Schultern und lächelte sie an. Das Gefühl, das sie dabei durchströmte, hätte sie nicht in Worte fassen können. Sie berührte gerade das Kind, das vielleicht bald zu ihr und Daniel gehören würde …

      »Du hast überhaupt nichts Falsches gesagt, Romina. Manchmal werde ich nur heute noch ein kleines bisschen traurig, wenn ich von Romeo spreche. Aber das ist immer gleich wieder vorbei. Jetzt wollen wir gerne sehen, wie gut du schon reiten kannst. Willst du es uns zeigen?«

      Romina ließ sich nicht lange bitten, und an diesem Tag gab sie sich besonders große Mühe. Sogar Pünktchen war erstaunt über den gewaltigen Unterschied zur letzten Reitstunde. Sie vermutete allerdings, dass Romina den beiden Besuchern unbedingt imponieren wollte. Das gelang ihr auch. Linda und Daniel sparten nicht an Lob.

      Nachdem Sancho nach dem Reitunterricht versorgt war, wanderte Romina mit Denise, Linda und Daniel zurück zum Haus. Dabei hakte sie sich bei Linda und Daniel unter, als sei das die größte Selbstverständlichkeit der Welt.

      »Sie sind beide sehr nett«, gestand die Siebenjährige. »Ich kenne Sie erst seit heute, aber ich habe Sie richtig gern. Es ist schön, dass Sie nach Sophienlust gekommen sind.«

      »Das finden wir auch«, erwiderte Linda. »Wir finden dich nämlich auch ausgesprochen nett. Ich meine, alle Kinder, die wir hier getroffen haben, waren freundlich und nett. Aber dich haben wir besonders gern.«

      »Dann können wir ja ab heute gute Freunde sein«, schlug Romina vor. »Kommen Sie öfter nach Sophienlust? Das wäre schön. Es ist immer schön, wenn Freunde zu Besuch kommen.«

      »Ja, in der nächsten Zeit sind wir ganz bestimmt häufiger hier«, erklärte Daniel. »Und wir freuen uns, dass wir dich dann jedes Mal sehen.«

      Die Angst, dass sie vielleicht keinen Draht zu Romina finden würden, oder dass das kleine Mädchen ihnen ablehnend gegenüberstehen könnte, war vergessen. Wie von selbst hatte sich sofort eine gute Verbindung ergeben. Linda fragte sich insgeheim, ob es sie nicht doch gab, die geheimnisvolle Stimme des Blutes. Schließlich war Romina eng mit ihr verwandt. Aber sie war auch mit ihren Großeltern verwandt, und da hatte es mit der Stimme des Blutes absolut nicht geklappt.

      Daniel und Linda wussten noch nicht, was ihnen die Zukunft bringen und ob ihre Träume in Erfüllung gehen würden. Zumindest aber der erste wichtige Schritt war geschafft. Sie waren beide von Romina begeistert, und das kleine Mädchen hatte sie in sein Herz geschlossen. Mehr konnte im Augenblick niemand erwarten.

      *

      Mit einem Lächeln und den Gedanken an Daniel und Linda im Kopf war Romina an diesem Abend eingeschlafen. Doch der erholsame Schlummer hielt nicht bis zum nächsten Morgen an. Romina wurde von einem seltsamen Geräusch aus ihren Träumen gerissen.

      Sie blickte auf die Uhr und stellte fest, dass es erst kurz vor fünf Uhr früh war. Was war das nur für ein Geräusch gewesen, das sie geweckt hatte? Romina stellte sich diese Frage noch, als sie schon wieder einen seltsam klingenden Ton vernahm. Ihr Blick fiel auf Fabio, der nicht weit entfernt auf seinem Kissen lag. In regelmäßigen Abständen röchelte er und schien kaum Luft zu bekommen.

      Voller Angst um ihren Freund kletterte Romina aus dem Bett und ließ sich neben dem Hund auf dem Boden nieder.

      »Was ist denn los mit dir? Du hörst dich ja ganz furchtbar an. Was soll ich denn jetzt nur machen?«

      Heidi, die das Zimmer mit Romina teilte, war durch die Unruhe nun ebenfalls geweckt worden und wollte wissen, was sich ereignet hatte. Bevor Romina etwas erklären konnte, begann Fabio wieder laut zu röcheln.

      »Ui, das hört sich aber schlimm an«, stellte Heidi fest. »Ich glaube, Fabio ist sehr krank. Wir müssen ihm helfen. Ich wecke Schwester Regine, und dann bringen wir den armen Fabio zu Onkel Hans-Joachim in die Praxis.«

      »Das geht doch nicht«, bemerkte Romina trotz ihrer Sorge um den Hund. »Du kannst zwar Schwester Regine wecken, aber in die Praxis können wir nicht fahren. Es ist mitten in der Nacht, und da ist alles noch geschlossen.«

      »Ach was, guck mal auf den Wecker. Es ist genau fünf Uhr. Bis wir bei Onkel Hans-Joachim in Bachenau sind, ist es noch viel später. Bis dahin ist er sicher sowieso schon wach. Außerdem ist er daran gewöhnt, dass er oft auch mitten in der Nacht gestört wird. Um diese Zeit werden nämlich manchmal Fohlen oder Kälber geboren, und wenn das nicht von allein geht, muss Onkel Hans-Joachim sofort hinfahren.«

      Heidi machte sich auf den Weg zu Schwester Regines Zimmer. Romina blieb zurück und streichelte liebevoll Fabios Kopf. Auch jetzt röchelte der Hund anfallsweise in kurzen Abständen, und Romina machte sich große Sorgen. Sie konnte sich beim besten Willen nicht erklären, was Fabio fehlte.

      Schwester Regine, die wenig später einen Blick auf das Tier warf, hatte ebenfalls keine Erklärung für dessen Beschwerden, und beschloss, augenblicklich nach Bachenau zu fahren.

      »Darf ich auch mitkommen?«, erkundigte Heidi sich. »Ich weiß, dass ich eigentlich pünktlich in der Schule sein muss, und wenn es bei Onkel Hans-Joachim länger dauert, schaffe ich das nicht. Aber ich will doch wissen, ob der arme Fabio sehr krank ist. In der Schule müsste ich sowieso dauernd an ihn denken und könnte nicht richtig aufpassen.«

      »Dann komm ruhig mit«, entschied die Kinderschwester, während sie Fabio samt Kissen vorsichtig auf den Arm nahm, um ihn zum Auto zu bringen. »Die Schule ist heute ausnahmsweise einmal nicht so wichtig.«

      *

      Schwester Regine hinterließ eine kurze Nachricht für die anderen Bewohner von Sophienlust, die alle noch schliefen.

      Anschließend machte sie sich mit den beiden Mädchen und Fabio auf den kurzen Weg nach Bachenau.

      Hans-Joachim war gerade aufgestanden und wollte duschen gehen, als ein Wagen draußen auf das Gelände fuhr und dort anhielt. Auch Andrea, die ebenfalls erst vor wenigen Minuten das Bett verlassen hatte, war dieser Wagen aufgefallen.

      »Das ist Schwester Regines Auto«, stellte Andrea verschlafen und doch besorgt fest. »Wenn die zu dieser nächtlichen Stunde hier erscheint, muss etwas passiert sein.«

      Statt duschen zu gehen, schlüpfte Hans-Joachim rasch in einen Hausanzug. Die Dusche konnte ebenso warten wie das Frühstück. Der Tierarzt zweifelte nicht eine Sekunde