Karina Kaiser

Sophienlust - Die nächste Generation Staffel 1 – Familienroman


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sie sofort als neue Eltern anerkannt, und die Eröffnung, dass es sich bei der neuen Familie um echte Verwandte handelte, hätte Rominas Glück vollkommen gemacht.

      Aber diese Entscheidung hätte für Linda bedeutet, dass sie ihre Eltern, zumindest ihren Vater, verlieren würde.

      Nicht eine Sekunde würde er zögern, auch seine zweite Tochter zu verstoßen. Und Barbara würde keine andere Chance haben, als zu ihrem Mann zu halten, selbst wenn ihre Gefühle ihr sagten, dass das nicht richtig war. Das geplante Familienglück würde zwangsläufig ein familiäres Unglück nach sich ziehen.

      Die Situation schien ausweglos zu sein. Eine ideale Lösung gab es nicht. Daniel und Linda wechselten einen ratlosen Blick. Sie wussten beide nicht, welchen Weg sie nun gehen sollten.

      *

      Selbstverständlich ließen Linda und Daniel sich nicht davon abhalten, Romina weiterhin regelmäßig zu besuchen. Die Verbindung zwischen ihnen und dem kleinen Mädchen wurde immer enger und herzlicher. Romina kannte nun auch das Haus, in dem Linda und Daniel wohnten. Die beiden hatten ein Fotoalbum mitgebracht und es zusammen mit der Siebenjährigen angeschaut. Auch Kim hatte einige der Bilder gesehen.

      »Ihr habt großes schönes Haus«, stellte der kleine Junge fest. »Da ist viel Platz. Auch Garten ist groß. Ganzes Haus und Garten ist viel zu groß für nur zwei Leute. Warum ihr nicht holt Romina zu euch? Ihr doch könnt sein neue Mutter und neuer Vater. Romina gerne will haben neue Eltern. Sie hat gesagt mir das. Und ihr habt noch nicht Kinder. Wenn Romina ist bei euch, ihr habt Kind.«

      »Kim, sowas fragt man nicht«, wies Romina den kleinen Jungen zurecht. »Was du da sagst, stimmt schon. Ich habe schon davon geträumt, dass Tante Linda und Onkel Daniel mich fragen, ob ich ihr Kind sein will. Aber das ist nur ein schöner Traum gewesen. Vielleicht wird er einmal wahr.« Sie seufzte.

      »Ich habe mit Pünktchen und Angelika darüber gesprochen. Sie meinten, dass Tante Linda und Onkel Daniel gut darüber nachdenken müssen. Wenn sie mich wirklich für immer haben wollen, würden sie mir das schon sagen. Aber einfach fragen darf man danach nicht.«

      »Warum nicht?« Kim war sich keiner Schuld bewusst. »Tante Isi immer sagt uns, man kann reden über alles.«

      »Da hat Kim recht«, bestätigte Daniel. »Man kann jede Frage stellen, und wenn man noch so klein ist wie Kim, darf man sogar ganz offen fragen. Romina, wir haben dich sehr lieb. Deshalb haben wir auch schon darüber nachgedacht, ob aus uns eine richtige kleine Familie werden kann. Ich glaube, für Tante Linda und mich wäre das ein ganz großes Glück. Aber es gibt da noch ein großes Problem, das sich nicht so leicht beseitigen lässt. Wir können dir das im Augenblick noch nicht erklären.«

      Romina horchte auf. »Wenn ich das Problem bin, dann müsst ihr euch keine Sorgen machen. Ich werde immer ganz lieb sein und euch keinen Ärger machen. Das verspreche ich euch. Ich habe euch doch lieb.«

      Die Siebenjährige war aufgesprungen und wollte sich in die Arme der von ihr so sehr geliebten Menschen stürzen. Dabei stieß sie an das Fotoalbum, das noch vor ihr lag und über die Tischkante ragte. Das dicke Album fiel auf den Boden, und ein Bild, das sich lose auf der letzten Seite befunden hatte, glitt heraus. Sofort hob Romina das Foto auf, entschuldigte sich für das Missgeschick und warf einen kurzen Blick auf das Bild.

      »Mama? Das ist doch meine Mama!«, rief sie überrascht. »Sie ist da noch ziemlich jung, aber ich erkenne sie genau. Wir hatten zu Hause auch ein paar alte Bilder von ihr. Die haben wir uns manchmal zusammen angesehen. Ja, das ist meine Mama, und die andere Frau auf dem Bild kenne ich auch.« Romina schaute abwechselnd von dem Foto zu Linda. »Die andere Frau bist doch du. Das verstehe ich nicht. Du hast meine Mama gekannt. Warum hast du mir das nie gesagt?«

      Linda zog das kleine Mädchen an sich. »Wir haben dir nichts erzählt, weil es eine sehr lange und sehr traurige Geschichte ist. Weißt du, wir wollten nicht, dass du auch noch darüber traurig sein musst. Aber einen Teil dieser Geschichte musst du jetzt wohl erfahren. Ja, ich habe deine Mama gekannt. Ich habe sie nicht nur gekannt. Zwischen uns beiden war noch viel mehr. Romina, deine Mama ist meine Schwester gewesen. Wir beide haben dieselben Eltern.«

      »Ihr seid Geschwister? Aber dann bist du … ja, dann bist du meine richtige Tante und nicht nur irgendeine Frau, die ich Tante Linda nennen darf. Ich habe eine richtige, echte und lebendige Tante und einen richtigen Onkel! Das ist doch überhaupt nicht traurig. Das ist … das ist … ich kann gar nicht beschreiben, wie das ist. Wieso sollte ich traurig sein müssen?«

      »Dass ich deine Tante bin, ist der schöne Teil der Geschichte«, erklärte Linda. »Darüber freue ich mich auch, und ich bin glücklich, eine so liebe Nichte zu haben. Den traurigen Teil sollten wir heute noch nicht klären. Darüber können wir demnächst reden.«

      Romina nickte mit noch immer strahlenden Augen. »Ja, schöne Sachen sind wichtig. Traurige erfährt man immer noch früh genug. Ich kann noch gar nicht richtig glauben, dass ich eine Tante habe. Jetzt weiß ich aber auch, warum du solche Ähnlichkeit mit meiner Mama hast. Du bist ihre Schwester, und Geschwister sehen sich nun einmal ähnlich.«

      Niemand hatte auf Kim geachtet, der die Zusammenhänge inzwischen auch begriffen hatte, aufgesprungen war und aus dem Raum lief, bevor ihn jemand daran hindern konnte. Draußen auf dem Flur war seine laute, aufgeregte Stimme zu hören: »Hallo, alle mal hören! Romina hat Tante! Tante Linda ist echte Tante von Romina! Ist Schwester von ihre Mutter!«

      Daniel verdrehte gequält die Augen. »Dieser kleine Nachrichtensender funktioniert fabelhaft. Ich wette, dass es in diesem Haus in spätestens drei Minuten niemanden mehr geben wird, der unsere familiären Verhältnisse noch nicht kennt.«

      Daniels Vermutungen bestätigten sich. Binnen kürzester Zeit hatten sich alle Kinder und Mitarbeiter von Sophienlust eingefunden und wollten wissen, ob Kim die Wahrheit gesagt oder womöglich etwas falsch verstanden hatte. Das zufällig aus dem Album gefallene Foto machte die Runde. Jeder wollte einen Blick darauf werfen. Auch Denise nahm es zur Hand.

      »Es tut mir leid«, meinte Linda entschuldigend. »So war das nicht beabsichtigt.«

      »Der Zufall entscheidet manchmal nach eigenem Gutdünken«, erwiderte Denise lächelnd. »Vielleicht ist es auch kein Fehler, dass Romina die Wahrheit jetzt kennt. Möglicherweise wird dadurch alles etwas einfacher.«

      Daniel wiegte nachdenklich den Kopf. Er hatte nichts dagegen, dass Romina nun eingeweiht war. Einfacher würde es dadurch jedoch nicht werden. Von den weiterhin strikt ablehnenden Äußerungen seines Schwiegervaters hatte Denise noch keine Ahnung. Vielleicht dachte sie im Augenblick auch gar nicht an dieses Problem. Gemeinsam mit Linda würde er Denise in Kürze darüber informieren. Denise von Schoenecker war ein Frau, der kritische Familiensituationen jeder Art nicht fremd waren. Auf diesem Gebiet verfügte sie über eine Menge Erfahrung. Unter Umständen hatte sie schon einmal einen ähnlich gelagerten Fall erlebt und konnte deshalb einen guten Rat erteilen. Mit viel Glück würde es womöglich doch eine Lösung für das bestehende Problem geben …

      *

      An diesem Tag hatten Linda und Daniel die gemeinsamen Stunden mit Romina genossen und auch die nun allgemein bekannte Tatsache, dass sie miteinander verwandt waren. Doch schon am nächsten Tag fanden sie sich bei Denise ein und berichteten ihr von dem Gespräch mit Thorsten und Barbara Ellinger.

      »Es könnte sein, dass wir bei meiner Mutter eine gewisse Chance hätten«, erklärte Linda. »Sie erschien mir ein wenig nachdenklich und nicht ganz so ablehnend. Im Gegensatz zu meinem Vater hatte sie sich sogar den richtigen Namen ihrer Enkelin gemerkt. Mein Vater spricht immer von einer Ramona. Ihn interessiert es nicht einmal, wie das Kind seiner jüngsten Tochter heißt. Wenn wir Romina zu uns holten, würde mein Vater sofort mit mir brechen. Er würde mich ebenso verstoßen wie er Jenny verstoßen hat. Ich will ihn aber nicht verlieren. Auf der anderen Seite will ich Romina nicht verlieren. Wir befinden uns in einer Zwickmühle.«

      Nick, der bei dieser Unterredung anwesend war, suchte verzweifelt nach einem Ausweg, kam aber zu dem Schluss, dass es in diesem Fall wohl keinen gab. Egal wie die Entscheidung auch ausfiel, es würde auf jeden Fall Verlierer geben. Das ließ sich nicht abwenden.