orgeltiefen Baß: „Da seid ihr ja, meine Kinder!” – und zog einen nach dem anderen ans Herz; zuerst Marion, dann Marcel, dann Martin, David, die Schwalbe, und sogar Kikjou, den er gerade erst kennen lernte. Der „Meister” war stets gerne dazu bereit, junge Leute, männlichen oder weiblichen Geschlechtes, zu umarmen und ein wenig zu liebkosen. Er hatte, unter dem breitrandigen Schlapphut, ein großes, kluges, altes, blasses Gesicht; die Augen verschwanden hinter geheimnisvoll spiegelnden Brillengläsern; das Lächeln des feingeschnittenen Mundes war sowohl gütig als schelmisch und von einer gleichsam verklärten, väterlich-allumfassend gewordenen Sinnlichkeit. „Der Meister! Le maître lui-même!” riefen die jungen Leute durcheinander. Sie kannten ihn alle, und sie waren angenehm berührt, seine schöne Orgelstimme wieder zu hören. Er genoß großes Vertrauen bei den jungen Leuten, die oft ratlos waren. Man beichtete ihm, klagte bei ihm, erbat Rat, er hatte für alles Verständnis, es überraschte ihn nichts, er hatte viel gesehen, auch selber viel mitgemacht, er war alt und klug.
In der Gesellschaft des Meisters gab es einen munter und adrett wirkenden kleinen Herrn mit auffallend schönem, soigniertem weißem Haar über einer rosig appetitlichen Miene. Marion und Martin schienen mit ihm intim zu sein, auch Marcel und die Schwalbe kannten ihn, David hatte ihn nie gesehen. Er hieß Bobby Sedelmayer und war der Manager der Knickerbocker-Bar in Berlin gewesen, – eines Etablissements, in dem die arriviertesten von den Stammgästen der Schwalbe sich mit dem eigentlichen Kurfürstendamm-Publikum, den Snobs und den hochbezahlten Künstlern, begegneten. Der kleine Sedelmayer und die Schwalbe standen in einem neckisch-gespannten Verhältnis, jedoch überwog die schalkhafte Nuance; denn im Grunde waren sie nie Konkurrenten gewesen, da bei der Schwalbe die Erbsensuppe dreißig Pfennige, bei Bobby der Cocktail fünf Mark kostete. Nun hatten sie Beide ihre Pforten schließen müssen, und begegneten sich auf der Terrasse des „Dôme” – beide übrigens durchaus optimistisch, bei allem Ernst der Situation, und den Kopf voller Pläne. Bobby hatte in seinem Leben mindestens schon fünfundzwanzig verschiedene Professionen gehabt, hinter ihm lagen vielerlei Abenteuer, es war erstaunlich, daß er immer noch ein so rosig-adrettes Aussehen zeigte. Er war vermögend und er war bettelarm gewesen. Er hatte in einem großen Kunst-Salon in Frankfurt am Main Picassos verkauft, und zu Berlin heiße Würstchen, nachts, auf der Friedrichstraße. Er war Fremdenführer in New-York gewesen, und Schauspieler in München, Journalist in Budapest, und der Empfangschef eines Institut de Beauté an der Tauentzienstraße in Berlin. Er war einfallsreich, tapfer, immer guter Laune, intelligent und unverwüstlich. Marion küßte ihn auf beide Backen, er zog sie sofort beiseite, um ihr mitzuteilen: „Jetzt mache ich natürlich in Paris ein Lokal auf, der alte Bernheim wird mir das Geld geben, du kommst doch zur Eröffnung, ich will es diesmal ganz schick machen – Avenue de l’Opéra, große Negerband –, der alte Bernheim scheint ziemlich viel money im Ausland zu haben …”
Außer Bobby fand sich ein verschüchtert wirkender Jüngling an Samuels Tisch: ährenblondes, artig gescheiteltes Haar, das hübsche, glatte Gesicht etwas entstellt durch mehrere Pickel auf der Stirne und um den Mund; dunkel und nicht ohne Feierlichkeit gekleidet, mit breiter, schwarzer Krawatte, im Stil lyrisch gestimmter Heidelberger Studenten. – Martin zwickte Samuel in den Arm: „Wo hast du den aufgegabelt?” Der Meister schmunzelte: „Ach, er saß so einsam und bekümmert hier auf der Terrasse, mit seiner deutschen Zeitung auf den Knieen. Ich habe es für meine Christenpflicht gehalten, ihn anzusprechen. Er ist ein ungeheuer braver Junge, soviel habe ich schon heraus. Übrigens scheint er dort drüben, in Deutschland, arge Sachen erlebt zu haben.”
Dann wendete der Meister sich wieder an die ganze Gesellschaft, und erklärte, gegenüber, im „Select”, sitzte der reiche Bernheim mit noch ein paar Leuten. „Wollen wir nicht hinüber gehen? Er bezahlt uns die Drinks.” Alle waren dafür, aber die Schwalbe sagte: „Ich muß nur erst noch ins alte ‚Dôme’ und in die ‚Rotonde’ schauen, ob nicht die arme Proskauer irgendwo sitzt. Sie kommt direkt aus Berlin und wird sicher etwas Interessantes zu erzählen haben.”
Samuel, mit Marion, Martin, Kikjou und dem schüchternen Studenten ging schon ins „Select” hinüber, wo der reiche Bernheim die Drinks bezahlen würde; während die Schwalbe sich von Marcel und David ins alte ‚Dôme’ begleiten ließ. Dort fanden sie gleich das Mädchen, welches sie suchten; sie saß in einem kleineren Nebenraum in der Nähe der Theke. Die Proskauer, mit einer ungewöhnlich langen, stark gebogenen Nase, an der die dunkeln, sorgenvollen Augen behindert vorbeiblickten, präsentierte sich als eine sehr häßliche, aber Vertrauen einflößende, sympathische Person. Sie hielt sich schlecht; ihr schräg gehaltener Kopf mit tief sitzendem, unordentlich geflochtenem schwarzem Haarknoten, steckte zwischen den zu hohen Schultern. Ihre Worte kamen wie das leise, undeutlich-sonore verständige Plätschern einer kleinen Quelle unter der Felszacke ihrer Nase hervor. Man hätte sie recht gerne als milde Schwester um sich gehabt, wenn man fiebrig zu Bette lag. Marcel empfand angesichts dieses Typs von Mädchen ein Mitleid, das an Zärtlichkeit grenzte. „Pauvre enfant.” dachte er und schaute die Proskauer leuchtend aus den Sternenaugen an.
Bei ihr am Tisch saßen zwei Männer, beide hatten fast drohend ernste, unrasierte Mienen, und sie wirkten, als versteckten sie hohe, derbe, kotbespritzte Stiefel. Die Proskauer stellte sie als Theo Hummler und Dr. Mathes vor: „zwei sozialdemokratische Genossen,” murmelte sie verständig. Die Beiden hatten einen erschreckend festen Händedruck. Als sie mit Marcel bekannt wurden, sagten sie: „Enchanté”, wurden etwas rot und lachten geniert, als wäre es ein ungehöriger kleiner Scherz, daß sie das französische Wort benutzten. Beide Männer waren groß gewachsen und gut aussehend. Theo Hummler hatte sehr dichtes, schwarzes, etwas fettiges Haar und kluge, freundliche Augen. Dr. Mathes blickte etwas glasig um sich. Ein rotblonder Schnurrbart hing ihm in feuchten Fransen auf die Oberlippe. Er war Assistent an einem Berliner Krankenhaus gewesen – wie dem undeutlich-sonoren Bericht zu entnehmen war, den die Proskauer der Schwalbe ins Ohr summte. „Unerhört tüchtiger Mensch”, soviel ließ sich aus ihren Worten erraten, „ … habe ihn erst während der letzten Wochen so richtig schätzen gelernt … Hat sich nur unter dem Zwang der Umstände zur Emigration entschlossen … Sehr ernst … wirklich sehr zuverlässig …” – Was den Theo Hummler betraf, so war er in sozialdemokratischen Arbeiter-Bildungs-organisationen tätig gewesen. „Ein marxistisch geschulter Kopf”, raunte die Proskauer, wozu Frau Schwalbe nickte.
Auf dem Wege vom „Dôme” zum „Select” ließen die drei aus Berlin neu Eingetroffenen schon die ersten Schreckens-Nachrichten hören. „Sie haben Betty verhaftet”, murmelte die Proskauer, und der Mann vom Volksbildungs-Wesen ergänzte: „Vorgestern abend, ich hatte sie ein paar Stunden vorher noch gesehen – der reine Zufall, daß sie mich nicht auch wieder erwischt haben!” – „Sind Sie denn auch emprisonniert gewesen?” erkundigte sich Marcel. Theo Hummler nickte: „Gleich in den ersten Tagen. Aber sie haben mich bald wieder raus gelassen, ich hatte Glück.” – „Hat man sie …?” Marcel fragte es mit Angst in der Stimme. Da er das deutsche Wort nicht gleich finden konnte, deutete er pantomimisch das Prügeln an. „Ob man mich geprügelt hat?” Hummler lachte kurz und grimmig durch die Nase. „Das vergessen sie niemals. – Aber es ist mir weniger schlimm gegangen als vielen von den Genossen.”
Doktor Mathes sagte, wobei er sich mit einer gewissen Schärfe an Dora wandte: „Übrigens ist es notorisch, daß man uns Sozialdemokraten mit noch mehr Grausamkeit behandelt als die Kommunisten. Die Nazis wissen genau, wer ihre gefährlichsten Feinde sind.” – Die Proskauer schüttelte ernst den Kopf. „Ich habe in Straßburg junge Kommunisten gesehen – die waren zugerichtet: grauenvoll. Schlimmer kann kein Sozialdemokrat aussehen, der aus den Kellern der Gestapo kommt.”
Theo Hummler, dem der Gegenstand peinlich zu sein schien, wußte noch zu erzählen: „Und den Willi haben sie auch gekriegt – du weißt doch: den kleinen Dicken, der auf unserer letzten Versammlung das Hauptreferat hatte …”
Sie waren vor der Terrasse des „Select” angekommen. Der junge Arzt mit dem rötlichen, feuchten Schnurrbart zog Dora zur Seite. „Mit wem treffen wir uns da eigentlich?” fragte er mißtrauisch. „Wenn es feine Leute sind, gehe ich lieber nicht mit. Ich sehe unerlaubt schäbig aus …” Auch der Volksbildungs-Mann hatte Bedenken: „In diesen Montparnasse-Cafés sollen besonders viel Spitzel sein. Man sagt, sie geben einem zu trinken und versuchen dann rauszukriegen, was für