Klaus Mann

Der Vulkan


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viel ändern auf der Welt, damit sie nicht mehr ganz so bemitleidenswert sind. – Tun sie dir auch so leid? – Listen, Kikjou, I am asking you something! – Ich habe dich gefragt, ob die Menschen dir auch so leid tun wie mir.”

      Zweites Kapitel

       Inhaltsverzeichnis

      Am nächsten Morgen besuchte Marion ihre alte Freundin Anna Nikolajewna Rubinstein, die draußen im Montrouge eine Zwei-Zimmerwohnung mit ihrem Gatten und ihrer halberwachsenen Tochter hatte. Die Tochter arbeitete in einem Modesalon; der Mann war in einem großen Verlagshaus angestellt, wo seine Beschäftigung fast ausschließlich darin bestand, Adressen zu schreiben und zu sortieren. Er hatte es, während der zehn Jahre, die er in Paris lebte, noch nicht gelernt, fließend und akzentlos Französisch zu sprechen. In Moskau war er der Herausgeber einer gemäßigt-liberalen Revue gewesen. Die Kerenski-Revolution hatte er freudig begrüßt, und einige Wochen nach der Oktober-Revolution war er in die Emigration gegangen, ganz ohne Geld, mit ein paar Krawattennadeln und Ringen als einzigem Besitz. In Berlin hatte er Anna Nikolajewna kennen gelernt. Sie war Malerin und dekorierte nun Teetassen, Blumenvasen und Fächer mit bescheidenen Blumenstilleben, bunt gefiederten Vögeln und kleinen Barockengeln. Zuweilen fand sie Käufer für ihre liebliche Ware.

      Marion war bei ihrem ersten Pariser Besuch, im Jahre 1928, durch gemeinsame Berliner Freunde mit Madame Rubinstein bekannt geworden. Anna Nikolajewna hatte der jungen Deutschen Paris gezeigt. Marion liebte die russische Dame, und sie hatte immer die Tapferkeit bewundert, mit der die Verwöhnte – denn Anna stammte aus reichem Hause – Not und Erniedrigung des Exils ertrug. Niemals hatte Marion ein Wort der Klage von Anna Nikolajewna gehört. „Man muß zufrieden sein”, pflegte sie mit ihrer weichen, singenden Stimme zu sagen. „Man muß sogar dankbar sein. Wir haben alle zu tun: la petite Germaine, mon pauvre Léon et moi-même …” Marion wußte genau, wie miserabel sie für ihre verschiedenartigen Arbeiten bezahlt wurden. Übrigens hatten alle Drei immer Heimweh. Er gelang ihnen nicht, sich einzuleben im fremden Paris. Sie verkehrten beinah nur mit Russen, lasen fast nur russische Zeitungen und Bücher. Sonderbarer Weise litt an dieser Heimwehkrankheit sogar die junge Germaine, die doch ein ganz kleines Kind gewesen war, als ihre Mutter Rußland verließ. Sie stammte aus einer ersten Ehe Anna Nikolajewnas; der Vater war im Bürgerkrieg gefallen, auf der Seite der Weißen …

      Madame Rubinstein konnte nicht älter als fünfundvierzig Jahre sein; sie sah aus wie eine Sechzigjährige. Ihr Haar war schlohweiß, ihr gescheites sanftes Gesicht von vielen Falten durchzogen. Sie trug sich immer in Schwarz. „Ich muß Trauer um Rußland tragen,” hatte sie einmal mit geheimnisvollem Lächeln zu Marion gesagt, die etwas schaurig davon berührt gewesen war. Manche der Kleidungsstücke, die Anna Nikolajewna besaß, stammten noch aus der Zeit vor dem Kriege – wunderliche Pelzmantillen, Spitzen-Jabots, kleine runde Muffs, allerlei überraschende Kopfbedeckungen aus Pelz: St. Petersburger Mode aus dem Jahre 1913 …

      Marion freute sich darauf, ihre alte Freundin wieder zu sehen; aber sie wurde ein sonderbar bedrücktes Gefühl nicht los, als sie – es war zur späten Nachmittagsstunde – die dämmrige Treppe des Mietshauses im Montrouge hinaufstieg. Früher war sie meist mit irgend einem kleinen Geschenk gekommen, oder sie hatte ein wenig Geld zurückgelassen, wenn sie ging. Madame Rubinstein hatte es sich oft verbeten, aber es doch schließlich dankbar geschehen lassen. Nun war Marion ihrerseits eine Verbannte. Marion und Anna Nikolajewna trafen sich, zum ersten Mal, als Schicksalsgenossinnen.

      Die Russin tat zu Anfang des Gespräches, als wüßte sie nichts davon. Sie umarmte und küßte Marion, wie immer, und bemerkte nur: „Auch wieder einmal in Paris, mon enfant!” Sie sah würdevoll und appetitlich aus, in einem altmodischen schwarzen Kleid mit Schleppe und elfenbeinfarbigen Spitzen am Halsausschnitt wie an den Manschetten.

      „Es ist immer so schön, in eurer Stube zu sein”, stellte Marion befriedigt fest, als sie sich am kleinen Tee-Tisch gegenüber saßen. „Und all eure komischen kleinen Sachen: ich freue mich immer, wenn ich sie wiedersehe …” – Das Wohnzimmer der Familie Rubinstein, in dem Mademoiselle Germaine nachts auf der Ottomane schlief, war überfüllt mit allerlei seltsamen Gegenständen, die der Hausherr sammelte. „Mon pauvre Léon”, pflegte Anna Nikolajewna etwas mitleidig zu sagen, „es macht ihm plaisir …” Die Kollektion bestand teils aus den Modellen alter Segelschiffe, die auf der Kommode und auf mehreren Regalen placiert waren; teils aus ausgestopften Vögeln und Fischen, deren bizarre Formen alle vier Wände zierten. Zwischen den Schwertfischen, Flundern, Adlern und Papageien gab es, mit roter und grüner Farbe an die Wände gemalt, ein sonderbares System von Linien, Pfeilen und Kreisen; ein mystisch und bedeutungsvoll wirkendes Netz, das „le pauvre Léon” kindisch-emsig angefertigt hatte und von dem niemand, auch Anna Nikolajewna nicht, wußte, ob es einen geheimen, nur seinem Schöpfer bekannten Sinn enthielt, oder nichts als das Resultat von Schrulle und unbeschäftigter Künstlerlaune war. Das enge Zimmer, vollgestopft mit Möbeln, allerlei Nippes-Sachen, kleinen russischen Andenken und mancherlei Reiseerinnerungen, überfüllt mit Photographien und den Spiegeln, Tassen und Blumenvasen, die Madame mit Barockengeln oder Blumen bemalte, bot einen zugleich traulichen und beängstigenden Anblick. Meistens war es auch noch von dickem blauen Rauch erfüllt, da keines der Familienmitglieder auf die Zigaretten mit den langen Papp-Mundstücken verzichten konnte, und sie alle eine Aversion dagegen hatten, das Fenster zu öffnen.

      „Ja, es ist ein gemütlicher Raum”, sagte Anna Nikolajewna, während sie ihrem Gast Kirschenkonfitüre und kleines Gebäck auf den Teller legte. „Aber mein pauvre Léon wird immer trauriger. Er spricht nicht viel, aber ich sehe doch, wie er sich grämt … Und neuerdings macht mir die kleine Germaine Vorwürfe …”

      „Worüber macht sie Ihnen denn Vorwürfe?” wollte Marion wissen.

      Madame Rubinstein sagte leise: „Daß sie nicht in Rußland sein darf.”

      „Aber was für ein Unsinn!” rief Marion aus. „Wie kann sie Ihnen darüber Vorwürfe machen?”

      Anna Nikolajewna zuckte die Achsel und lächelte betrübt. Erst nach einer kleinen Pause sagte sie: „Germaine hat mir neulich versichert, daß sie in der Sowjet-Union glücklicher sein würde als hier. Sie ist sehr aufgeregt gewesen und hat geweint. Es war ein Irrtum von euch – hat sie mich angeschrien –, es war ein Irrtum und auch eine Sünde von euch, die Heimat aufzugeben. Man soll die Heimat nicht aufgeben – hat die kleine Germaine unter Tränen gerufen –, man soll sie unter keinen Umständen aufgeben; denn sie ist unersetzlich. Wenn die Heimat leidet, muß man mit ihr leiden – ich wiederhole immer nur Germaines sehr heftig vorgebrachte Worte –; man soll weder klüger noch glücklicher sein wollen als die Nation, zu der man gehört. Übrigens – ich zitiere immer noch das weinende neunzehnjährige Kind –, übrigens sind die Katastrophen ja kein Dauerzustand. Man gewöhnt sich an alles. Ihr Alten glaubt immer, der Bolschewismus sei die Katastrophe in Permanenz – hielt Germaine mir vor –, das ist einer eurer dümmsten Irrtümer. Sicherlich hatte der Bolschewismus einmal katastrophalen Charakter. Inzwischen ist er für Millionen einfach der Alltag, das Selbstverständliche geworden. Und er wäre es auch für mich geworden – während sie dies behauptete, schluchzte meine kleine Tochter noch heftiger –, wenn du mich nicht herausgerissen hättest; wenn du mich nicht entwurzelt, nicht heimatlos gemacht hättest. Denn man gewöhnt sich an jeden Zustand und an jede Lebensform – in der Heimat. Aber an die Fremde gewöhnt man sich nie. Ich bin keine Französin, und ich will keine Französin werden! – Sie können sich vorstellen, Marion, wie erschrocken ich gerade über diese Mitteilung und Eröffnung der kleinen Germaine gewesen bin. Sie spricht doch ein so charmantes Pariserisch, und ich dachte wirklich, sie fühlte sich ganz als eine kleine Citoyenne Française. Und nun drohte sie mir plötzlich damit, sie wolle nach Moskau zurück; sie müsse das Leben im bolschewistischen Rußland kennen lernen –: ‚Wahrscheinlich ist es ein sehr interessantes, reiches, aufregendes Leben’, meinte sie. Nur mit Mühe konnte ich sie davon abhalten, ihre Stellung im Modesalon gleich aufzugeben und zur Sowjet-Legation zu laufen. Stellen Sie sich vor, Marion, was mon pauvre Léon gesagt haben würde, wenn unser Kind zu den Leuten gegangen wäre, die er seine Todfeinde nennt!”

      Marion