Sybille und Manfred Specht

Flieg Gedanke


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etwas zum Handeln auf dem Schwarzmarkt.

      Eines Tages geschah das Unfassbare. Ein Bautrupp rückte an,um das Haus zu vollenden, und richtete eine Baustelle ein. Als der Polier auf dem Plumpshäuschen saß, schlichen wir uns von hinten an und kippten das Häuschen nach vorn um auf die Tür. „Laut ertönt sein Wehgeschrei, denn er fühlt sich schuldenfrei“ (Wilhelm Busch).

      Ein Anwohner gegenüber der Baustelle stand im Verdacht, uns zu beobachten und auch zu verpfeifen. Nach Feierabend kaperten wir den einachsigen Plattenwagen mit langer Deichsel, richteten ihn zum Gegner aus und beluden die Deichselspitze mit einem Ziegelstein. Drei Freunde, die auf dem Wagen standen, schritten dann zugleich nach vorn zur Kante und ließen sie unten aufschlagen. Der Schwung katapultierte den Stein etwa dreißig Meter durch die Luft zielgenau in Nachbars Garten. Ich weiß nicht mehr, wie viele Steine wir ihm beschert haben. Gottlob, unsere Strafaktion verlief glimpflich ohne Personenschaden. So ging es noch einige Zeit weiter, bis eines Tages die Polizei auch bei uns vor der Tür stand. Entweder die gemeinen Umtriebe würden sofort aufhören oder man überlege die Einweisung in eine Erziehungsanstalt. Die Konsequenz war erklärtermaßen ein gehöriges elterliches Donnerwetter mit der tatsächlichen Folge einer anhaltenden Besserung.

      Unsere Räuberburg war also verloren und neue politische Meldungen ließen bei den Erwachsenen wieder sorgenvolle Existenzängste aufkommen, die ohne Frage auch uns Kinder erreichten. Die Schreckensmeldung lautete, dass der Ami unsere Stadt (und weite Teile Mitteldeutschlands) gegen einen Teil Berlins eingetauscht hätte und wir in Kürze von sowjetischen Truppen besetzt würden. Eine ganze Nacht saßen Freunde und Bekannte unserer Eltern zusammen und sinnierten über die kurzfristigen Folgen, unser aller Zukunft und darüber, ob es einen möglichen Ausweg gäbe. Ein Teilnehmer verkündete, dass die vereinbarte Neuordnung den Amerikanern zwar jede Art von Bevölkerungsaustausch untersagt hätte, sie aber heute Nacht in jede Straße einen leeren Lkw abstellen würden. In den Morgenstunden käme dann ein Fahrer, der sich, ohne den Laderaum zu überprüfen, ans Steuer setzen und losfahren würde. Ja, aber wohin? Dem Ami war doch auch nicht zu trauen. Meine Eltern entschieden sich zu bleiben. Andere dagegen setzten sich mit allem, was sie tragen konnten, auf den Lkw und ließen sich in eine ungewisse Zukunft fahren.

      Den Wechsel der Besatzungsmacht nahmen wir anfangs nur am Rande wahr, wenn auf breiteren Durchgangsstraßen hin und wieder Militärfahrzeuge zu sehen waren. Meinen Vater bekamen wir Kinder immer seltener zu sehen. Offenbar zog er sich sukzessive zurück. Die Hauptlast, die Familie zu versorgen, lag schon in dieser schweren Zeit bei unserer tapferen Mutter. Sie muss es vortrefflich gemeistert haben, denn wir Kinder spürten wenig von der seinerzeitigen Not.

      Nach einigen Wochen begann dann auch wieder der Schulbetrieb. Das Schulgebäude war beinahe unversehrt geblieben, ein prächtiger Bau aus der Gründerzeit, etwa zwanzig Minuten Fußweg entfernt. Der Haupteingang zur Straße blieb geschlossen, so mussten alle Schüler, die aus meiner Richtung kamen, um das gesamte Gebäude herumgehen und den Eingang vom Pausenhof benutzen. Eine Herausforderung für kreative Geister. Ein etwa zwei Meter hoher Metallzaun mit aufrechten Spitzen auf einem halbhohen Mauersockel begrenzte den Schulhof. Mit Umsicht und etwas Übung war er kein wirkliches Hindernis und die Abkürzung wurde zum Normalfall. Allerdings nur kurzzeitig, denn der Herr Rektor verkündete ein strenges Verbot.

      Ein renitenter Rest nahm, schon aus sportlichen Gründen, dennoch den kürzeren Nachhauseweg, zumindest gelegentlich. Jedoch einmal zu viel. Am Ende einer Unterrichtsstunde verlas unsere Lehrerin, übrigens sehr jung und schön, sieben Namen mit der Aufforderung, sie doch bitte zum Herrn Schulleiter zu begleiten. Aufgereiht standen wir nun zwei Meter vor dem Schreibtisch des Herrn Rektors und erwarteten die übliche Standpauke. Nichts geschah. Der Herr Rektor schaute kaum auf und erledigte, provozierend konzentriert, seine schriftlichen Arbeiten. Nach gefühlten fünf Minuten stand er plötzlich auf, schaute uns strafend an, wiederholte sein Verbot und beklagte unsere Missachtung. Angefangen von links bekam jeder der Reihe nach eine kräftige Backpfeife. Der Letzte fand das komisch, konnte sich das Grinsen nicht verkneifen und bekam auf die andere Seite gleich noch eine. Das wars, ab zurück in unsere Klasse.

      Der Sportunterricht war sehr eingeschränkt. Keine Leichtathletik, kein Fuß- oder Handball, kein Geräteturnen, kein Schwimmunterricht. Alles war angeblich verboten. Nur Völkerball als einzige Ausnahme war gestattet. Der Lehrer durfte nicht „Antreten“ sagen oder ähnliche militärische Kommandos gebrauchen. Wir nahmen diesen Übereifer einfach hin und amüsierten uns anderweitig auf unsere Art.

      Während einer großen Pause erwartete uns eines Tages eine große Gaudi. Zwei sowjetische Soldaten, von denen jeder irgendwo ein Fahrrad konfisziert und als volkseigen bewertet hatte, versuchten nun, vor unser aller Augen das Gleichgewicht zu halten. Wir haben uns köstlich amüsiert. Diese Szene kam mir immer wieder in einem späteren Gegenwartskunde-Unterricht in den Sinn, wenn wieder von der überragenden technischen Leistung des sowjetischen Systems die Rede war und behauptet wurde, dass die bedeutendsten Erfindungen russischen Ursprungs wären, sicherlich auch die des Fahrrads.

      Eines Tages brach eine unerwartete Heimsuchung über uns herein. Deutsche Kommunisten und solche, die sich dafür ausgaben, sahen in der Roten Armee eine Schutzmacht, die sie zu den neuen Herren des Landes machten bis hin zu gesetzloser Machtvollkommenheit und der angemaßten Befugnis zur eigenen Bereicherung. Dazu beanspruchten sie das moralische Recht, ehemalige Erfüllungsgehilfen nach Gutdünken als solche zu bewerten und zum eigenen Vorteil zu enteignen. Unser Vater galt offensichtlich als belastet. Eines Tages hielt ein kleiner Lastwagen vor unserem Haus und zwei Männer inspizierten unsere Wohnung. Verschiedene tragbare Gegenstände nahmen sie einfach mit und drohten meiner verzweifelten Mutter mit ihrem nochmaligen Erscheinen und der Mitnahme einiger Möbel. In ihrer hilflosen Situation fand sie jedoch Beistand bei einsichtigen Menschen mit verbliebenem oder neuem Einfluss. Sie rieten, den Übeltätern nicht die Tür zu öffnen, denn diese hätten keinerlei rechtliche Befugnis für ihre Diebestouren. Polizeiliche Hilfe gäbe es allerdings auch nicht.

      Auf dem Heimweg nach der Schule lief ich einige Zeit neben einem von zwei Pferden gezogenen Möbelwagen her. Plötzlich hatte ich die Eingebung, die könnten womöglich zu uns kommen, um Möbel zu holen. An der nächsten Straßenecke bogen sie tatsächlich in Richtung unseres Hauses ab. Wenige Minuten später hielten sie vor unserer Tür. Mir war sofort klar, dass ich nicht zu uns ins Haus gehen durfte. Ich ging einfach weiter bis zum Nachbarhaus und klingelte dort, wurde eingelassen und beschrieb meine Befürchtungen. Sofort erhielt ich Unterstützung und Gastrecht. Die Hausbesitzerin war übrigens die Dame, die über unsere Spanndrähte gestolpert war. Später erzählte mir meine Mutter, dass sie hinter der Gardine gestanden und bangen Herzens mich zusammen mit dem Möbelwagen hatte kommen sehen. Sie hätte Blut und Wasser geschwitzt. Natürlich war ich stolz auf meine Weitsicht.

      Eines Tages wurde der Vater eines meiner Freunde von den Russen abgeholt. Er war Maschinenbau-Ingenieur, schon des Längeren bei Krupp beschäftigt und spezialisiert auf Mühlenbau. Der Grund blieb unbekannt. Als glaubensstarke Katholiken betete die Familie täglich mehrmals für ihren Mann und Vater. Nach zwei Tagen kam er tatsächlich wieder heim, und einen Tag später war das Haus verlassen. Die Familie war nach Westberlin geflohen.

      Mit der Zeit normalisierten sich die Verhältnisse auf ein bescheidenes Nachkriegsniveau. Mein Vater avancierte zu einer Leitfigur für den Wiederaufbau der Industrie und wechselte zum Stahl- und Walzwerk Riesa, ehemals Thyssen.

      Wieder ein Umzug, wieder ein Schulwechsel. In Riesa-Gröba bezogen wir im Jahr 1949 anfangs eine Werkswohnung, etwas später eine kleinere Etagenwohnung in einem Zweifamilienhaus ganz in der Nähe. Nach sechs Jahren wurden dann meine Eltern nach jahrelangem Getrenntsein geschieden. Mein Vater wechselte in der Zwischenzeit nochmals zum Stahlwerk Freital bei Dresden, um dann nach der Scheidung die DDR zu verlassen und in Hürth bei Köln unterzutauchen.

      Der Schulbetrieb in Gröba unterschied sich essenziell von dem in Magdeburg. Hier gab es normalen Sportunterricht, sogar Sportfeste mit Siegerehrungen. Jede Klasse verfügte über eine Fußballmannschaft, die gegeneinander antraten. Es gab eine Turnhalle.