sie in ihm ertrinken, als hätte er sie erst jetzt gerettet.
Am nächsten Morgen stand sie mit dem ersten Sonnenstrahl auf und eilte überglücklich zum Hafen, um ihm eine gute Fahrt zu wünschen, doch Boninos Boot war nicht mehr in Sicht. Er war also noch im Dunkeln nach Erstchen aufgebrochen, um den Verlobungsring für sie zu besorgen.
Weder am nächsten noch am übernächsten Tag kam er zurück. Er kam nie mehr zurück. Zwei Tage nach seinem Verschwinden fanden Verwandte von Tonkica auf Drittchen Boninos Boot, ordentlich im Hafen von Erstchen vertäut, doch niemand von den Ortsansässigen, weder der Goldschmied noch die Gendarmen, konnte sich an den gutaussehenden jungen Mann erinnern, und zwar weder anhand der Beschreibung noch anhand des Namens. War er auf dem Meer verschwunden oder war er weiter ins Landesinnere gefahren, hatte ihn jemand erschlagen und ausgeplündert, würde er zurückkehren? All diese Fragen und alle denkbaren Antworten darauf strampelten schneller und schmerzhafter in Tonkicas Kopf als das Kind in ihrem Leib. Tante Marta, ihre beste Freundin, der sie ihr trauriges Geheimnis anvertraute, nannte ihr auf der Stelle zwei zuverlässige Arten, um die Schwangerschaft in einem frühen Stadium abzubrechen. Doch Tonkica hatte sich entschlossen, das Kind zu behalten.
»Io weiß, dat nessuno wissen wird, ma io non posso mio Blag gebn«, stellte sie fest und verbat sich jedes weitere Gespräch zu diesem Thema.
ERINNERUNGEN FÜR SPÄTER:
Sie gebar ein wunderschönes Mädchen und nannte es Bonina. Sie wartete auch weiterhin voller Hoffnung.
Als die Kleine anderthalb Jahre alt war, kam Tonkicas Bruder Zorzi zum ersten Mal nach Hause. Er prahlte schon im Hafen damit, wie gut es ihm in Australien ergangen sei, und gab allen Versammelten das folgende Rätsel auf: »Ratet mal, wer mein Chef ist! Kein anderer als – Bonino Langfuß! Er ist vor zwei Jahren angekommen und hat es schon zum Vorarbeiter im Bergwerk gebracht. Und nicht nur das, er hat auch die einzige Adoptivtochter des Besitzers geheiratet!« Alle schwiegen, und Zorzi zog einen zusammengefalteten Zeitungsausschnitt aus seinem Geldbeutel aus Krokodilleder und faltete ihn direkt vor Tonkica auseinander: Auf dem Foto sah man Bonino in Arbeitskluft, mit einem Hut, den er sich auf den Hinterkopf geschoben hatte. Er stand vor einem Riesenauto, und neben ihm eine elegante, aber nicht besonders schöne Blondine mit einem Baby von ein oder zwei Monaten auf dem Arm.
In dieser Nacht verklebte Tonkica der kleinen schlafenden Bonina zärtlich Arme und Beine, Augen und Mund und warf sie ins Meer. »Geh dann anche tu!« Zorzi ergraute und verlor in derselben Nacht den Verstand.
Seitdem emigriert keiner mehr von Zweitchen nach Australien, sondern nur noch nach Amerika, alle verfluchen sowohl Australien als auch Drittchen. Seit Jahrzehnten hat keiner von den Bewohnern Zweitchens den Boden von Drittchen betreten, und wenn jemand von Drittchen auf ihre Insel gelangt, versuchen sie ihn voll und ganz zu ignorieren.
WICHTIG: BEI TONINO ODER IRGENDWO ANDERS DIESEN SELTSAMEN DIALEKT PRÜFEN.
Tonkica wurde wegen Kindsmords zu elf Jahren Haft verurteilt und trat dann in ein Klarissinnenkloster ein. In hohem Alter kam sie nach Zweitchen zurück. Alle ihre Verwandten waren da schon lange tot. Sie schweigt: Spricht kein Wort und richtet ständig böse Zauberflüche gegen Drittchen. Bisher ohne Erfolg.
Siniša nahm die Finger von der Tastatur des Laptops, griff langsam nach den Zigaretten und dem Feuerzeug und vertiefte sich in seinen ersten Eintrag. Schreckliche Geschichte, ganz grausam.
Morgen würden es anderthalb Monate sein, dass er nach Drittchen gekommen war, und er stand immer noch am Anfang, ohne jegliche Resultate. Alles schien in Bewegung zu sein und, wenn auch vielleicht im Kreis, vorwärts zu schreiten, alles außer seiner Hauptaufgabe, deretwegen er hierhergekommen war. Zwei Wochen lang hatte er versucht, die Bewohner von Drittchen dazu zu bewegen, wenigstens zwei Parteien zu gründen, wenigstens zwei. Die aber wiederholten ständig, dass sie keine Parteien haben wollten, dass diese nur Zwist unter den Menschen säen und das Pharisäertum fördern würden. Erst als er begonnen hatte, die Versammlungen aller Einwohner zu jeder vollen Stunde einzuberufen, vor der Kirche, ganz egal vor welcher, und zwar indem er damit drohte, das Militär und die Militärverwaltung zu Hilfe zu rufen, kamen zwei Männer auf ihn zu und sagten, dass sie es nun geschafft hätten, die DP, die Demokratische Partei, und die TALP, die Tert Ajland Lejbar Parti, zu gründen. Die mit voreiligem Stolz und Hoffnung garnierte Erleichterung, die der Regierungsbeauftragte verspürte, hielt allerdings nur wenige Sekunden an.
»Ma nessuno woul Member werden!«, sagten beide Parteivorsitzenden gleichzeitig, wobei sie ehrliche Besorgnis vorspiegelten.
Wie sollte er legale Wahlen mit Parteien ohne Mitglieder organisieren? Wer würden die Kandidaten sein? Nur diese beiden Schlitzohren? Zehn Tage wartete er darauf, dass sich irgendjemand auf seine handgeschriebene Anzeige hin meldete, die Tonino gewissenhaft an jeder Fassade entlang des Places angebracht hatte, und Mitglied in einer der beiden Parteien wurde. Es meldete sich keine Menschenseele, und dann fiel ihm ein, dass diese unglücklichen Parteien selbst dann, wenn sich ihnen jemand anschließen würde, irgendwie registriert und legalisiert werden müssten. Deshalb hängte er eines Morgens die Aushänge ab und tauschte sie gegen neue aus. Es waren Einladungen zur Gründung unabhängiger Listen. Die unabhängigen Listen waren bedeutend leichter einzutragen, es waren viel weniger Formalitäten notwendig, vor allem in Anbetracht der Abgeschiedenheit dieser lokalen Selbstverwaltungseinheit. Bartul Nassfuß, Gründer, Präsident und einziges Mitglied der TALP, kam gleich am folgenden Tag zu Siniša und brachte ihm einen Zettel mit den zehn Kandidatenunterschriften seiner unabhängigen Liste TAIL, der Tert Ajland Independen List. Doch in den darauffolgenden Tagen geschah genau das, womit Siniša irgendwo in den hintersten Windungen seines Kleinhirns gerechnet hatte: Niemand tauchte mit einer zweiten Liste auf. Der alte Simpson hatte also niemanden, mit dem er hätte wetteifern können, was vermutlich der Hauptgrund für seine blitzschnelle Anmeldung gewesen war. Dieses Gesindel, alles Saboteure! Die Frist für die Anmeldung der unabhängigen Listen lief am folgenden Mittag aus, und mit jedem Ticken der Uhr wurde deutlicher, dass auch dieser Plan immer näher auf sein wenig ruhmreiches Ende zusteuerte.
Dieses Ticken seiner Armbanduhr hörte Siniša nun ständig. Einen Tag nach der ersten Versammlung auf dem Place hatte er begonnen, seine Arbeitszeit (von 9 bis 13 Uhr und von 16 bis 19 Uhr) in dem Büro des Regierungsbeauftragten zu verbringen, in der ersten und einzigen Etage des Dorfgemeinschaftshauses, das sich in der ehemaligen Schule befand, einem schmalen, langgestreckten Gebäude am Ausgang des Dorfes, hinter dem Heilopoli. Unten im Erdgeschoss befand sich in den beiden früheren Klassenräumen ein Gemischtwarenladen, in dem all das angeboten wurde, was die italienischen Schmuggler, die Bonino beziehungsweise seine Foundeischn aus Australien bezahlte, jeden Freitag auf ihren Schnellbooten herbeischafften. Das Geschäft, in dem man alles nur Denkbare kaufen konnte, und zwar zu einem Preis, der unter dem Einkaufspreis lag, leitete Espero Nassfuß, genannt Flinky, ein unglaublich langsames Großväterchen von mindestens achtzig Jahren. Doch so langsam sein Körper auch war, sein Gehirn funktionierte wie bei einem Jüngling, so dass niemand auf die Idee kam, ihn durch jemand Jüngeren und Eilfertigeren zu ersetzen; ungeachtet der Tatsache, dass Flinky die Rechnungen mit der Hand schrieb und sich das einige Minuten hinziehen konnte – und dass die Bestellungen, die für die nächste Lieferung der Italiener aufzugeben waren, zuerst im Drittchendialekt und dann auf Italienisch, sogar noch länger dauerten. Vor dem Eingang in das Dorfgemeinschaftshaus wuchsen vier Bougainvilleen, durch deren Kronen sich wilder Wein rankte. In ihrem wohltuenden Schatten befand sich mit einem vier Meter langen Holztisch der einzige öffentliche Treffpunkt der Bewohner von Drittchen. An der Tischkante waren alle vier Handlängen Flaschenöffner angebracht – solche, die man sonst in Bars hat, man schiebt die Flasche hinein, ein Ruck und der Kronkorken ist ab. Flinky servierte hier nämlich nur Flaschenbier: Bereits Ende der siebziger Jahre hatte er festgestellt, dass es viel leichter war, die Kronkorken zu sammeln und die Flaschen zurück in die Kisten zu stellen, als sich mit Dosen herumzuplagen und volle Säcke zur Starmica zu schleppen, einer bodenlosen Grube, in die seit jeher der Müll von Drittchen entsorgt und die nie voll wurde. Außerdem mochte die Mehrheit der Männer Flaschenbier, »bateld Bia«, lieber als Dosenbier, »kend Bia«.
Das